Flüchtlingspolitik: „Mit Gelassenheit und Augenmaß“

Ukraine-Krieg, Seenotrettung auf dem Mittelmeer, der Winter steht vor der Tür – auch ein Winter der EU-Flüchtlingspolitik? Benjamin Lassiwe befragt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie.

Eule: Präsident Lilie, seit knapp einem Jahr regiert in Berlin die Ampel. Wo steht Deutschland in der Flüchtlingspolitik?

Lilie: Insgesamt ziehen wir als Diakonie unter den gegebenen Umständen eine eher positive Bilanz. Der große Paradigmenwechsel und die Umsetzung der erstaunlich klaren und zukunftsweisenden Vorgaben des Koalitionsvertrages sind allerdings bis jetzt ausgeblieben. Die Faktoren dafür liegen auf der Hand: die geopolitischen Entwicklungen, die Energieknappheit und die größte Fluchtbewegung Europas seit dem zweiten Weltkrieg. Nach fast 20 Jahren CDU/CSU geführtem Innenministerium muss auch die Verwaltung neu justiert werden.

Wir sehen aber, dass viele Gesetzentwürfe in der Pipeline sind. Allen voran das Chancenaufenthaltsrecht mit den neuen Bleiberechtsperspektiven, das Gesetz zur Beschleunigung von Asylverfahren und die staatlich finanzierte Asylverfahrensberatung. Weitere Gesetze sollen folgen. Deswegen kann ich sagen: Die von der Regierung eingeschlagene Richtung stimmt.

Eule: Wo hätten Sie sich mehr erhofft?

Lilie: Wir sehen, dass immer noch jeder Schritt zu einer welt- und zukunftsoffenen Migrationspolitik mit Verschärfungen oder Zugeständnissen in anderen Feldern erkauft werden muss. So gingen die Fortschritte beim Chancenaufenthalt mit Erweiterungen bei Abschiebungshaft und Ausreise einher. Diese Logik sollte der Vergangenheit angehören.

Eule: Seit Februar erlebt das Land den steten Zustrom ukrainischer Flüchtlinge. Hat sich dadurch die Stimmung gegenüber Geflüchteten im Land verändert?

Lilie: Das sehen wir derzeit nicht: Das freiwillige Engagement war und ist überwältigend. Nach wie vor haben wir viele private Wohnungsgeber, die mit allen alltäglichen Bedarfen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Was sich allerdings verändert, ist die Stimmung unter den Geflüchteten. Die unterschiedliche Behandlung von Schutzsuchenden aus der Ukraine und Geflüchteten aus anderen Weltregionen verursacht vielerorts Unmut und Unverständnis, was ich gut verstehen kann.

Eule: Wo sehen Sie vor dem Winter die großen Herausforderungen?

Lilie: Die Unterkunftskapazitäten werden in einigen Kommunen und Landkreisen knapp und ich erwarte, dass mit sinkenden Temperaturen noch mehr Ukrainer:innen flüchten müssen. Aber auch der Übergang in den eigenen und bezahlbaren Wohnraum gelingt in Ballungsräumen nicht mehr oder nur schwierig. Hier ist die Wohnsitzauflage hinderlich. Die Erfolge am Anfang, die durch die freie Wahl des Wohnsitzes in Deutschland entstanden sind, dürfen jetzt nicht zunichtegemacht werden. Denn dadurch wurde das Erstaufnahmesystem vor Überlastung geschützt. Insgesamt sind die Strukturen überlastet, aber die staatlich-zivilgesellschaftliche Koordinierung auf Bundes- und Landesebene klappt erfreulicher Weise sehr gut, der gemeinsame Wille zum „Wir schaffen das“ ist da, ohne dass es dieser Vergewisserung explizit braucht.

Eule: Wollen die Ukrainerinnen, die nach Deutschland kommen, hier wirklich integriert werden, oder planen sie nicht eher mit einem Weiterleben in ihrem Heimatland?

Lilie: Das lässt sich derzeit noch nicht sagen, je länger die Kriegshandlungen und die gravierenden Zerstörungen der Infrastruktur dauern, desto unwahrscheinlicher wird eine Rückkehr in der nächsten Zeit. Dadurch, dass die Männer nicht mitfliehen konnten, werden Familien zerrissen. Wir sollten daher Reisen dauerhaft ermöglichen.

Eule: Diakonie und Kirche sind oft gemeinsam unterwegs, aber nicht immer. Wo könnte und sollte die EKD in der Flüchtlingspolitik besser werden?

Lilie: Kirche und Diakonie gehen im Bereich Flucht Hand in Hand, haben aber unterschiedliche Rollen und Aufgaben. Die diakonischen Migrationsfachdienste und Einrichtungen arbeiten gerade am Limit, um die Menschen, die zu uns kommen, zu beraten und begleiten. Aber auch Brot für die Welt und die Diakonie Katastrophenhilfe versorgen und helfen mit den Partnerorganisationen weltweit Betroffene, die vor Krieg und Menschenrechtsverletzungen fliehen, gerade besonders engagiert in der Ukraine und den umliegenden Ländern. Die Kirche setzt auf andere Weise viele wichtige Impulse im vorpolitischen Raum gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, gerade geschehen bei der Schiffstaufe der „Sea-Watch 5, an der in Hamburg Anna-Nicole Heinrich, die Präses der EKD-Synode, sowie EKD-Flüchtlingsbischof Christian Stäblein, teilnahmen.

Eule: Das ist ja in der Tat ein Thema, das in der Öffentlichkeit völlig untergeht: Die Geflüchteten, die über das Mittelmeer nach Deutschland kommen…In Italien hat mit Giorgia Meloni eine Neofaschistin die Regierung übernommen. Was bedeutet das für die Flüchtlingspolitik in Europa?

Lilie: Die Entwicklungen sind besorgniserregend. Im Juni haben sich viele EU-Staaten auf einen freiwilligen Solidaritätsmechanismus zur Aufnahme von Geflüchteten aus den Mittelmeeranrainerstaaten geeinigt. Ein freiwilliger Mechanismus, der mit Zahlen hinterlegt werden will, aber immerhin. Wenn Frau Meloni nun aber wieder eine Politik der geschlossenen Häfen einführen möchte, hilft auch eine Koalition der Willigen in der EU nicht. Aber auch die Signale aus Schweden und Dänemark, ehemals Vorreiter in der EU-Asylpolitik und Speerspitzen der aufnahmebereiten Staaten, sind zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist es längst an der Zeit, in ein postpopulistisches Zeitalter einzutreten und mit Gelassenheit und Augenmaß zu einer vernünftigen und sachorientierten Migrationspolitik zurückzukehren. Das haben wir bereits 2019 im Verein mit über 50 zivilgesellschaftlichen Akteuren in Europa mit dem Berliner Aktionsplan für Neustart der Europäischen Asyl- und Migrationspolitik formuliert.

Eule: Wie nehmen Sie generell die Flüchtlingspolitik in der EU wahr? Hat sich durch den Krieg in der Ukraine etwas verändert?

Lilie: Die Flüchtlingsaufnahme der EU in den vergangenen zehn Jahren war geprägt von Auseinandersetzungen unter den Mitgliedstaaten, einem gescheiterten Reformvorhaben 2016-2018 und von Verstößen gegen geltendes EU-Recht, vor allem durch massive Push-Backs an den EU Außengrenzen. Aus der positiven Erfahrung des vorübergehenden Schutzes von Geflüchteten aus der Ukraine heraus, sollten die Reformbemühungen im gemeinsamen Europäischen Asylsystem in neuem Licht betrachtet und bewertet werden. Wir sollten und können Flüchtlingsaufnahme in der EU völlig neu denken. Die Aufnahme von fast 5 Millionen Geflüchteter innerhalb von wenigen Monaten hat uns gezeigt, dass und wie das geht.

Eule: Und die Verteilung in Europa?

Lilie: In der Verteilungsfrage von Geflüchteten in der EU ist sich Europa nach wie vor uneins. Wir sollten jedoch auf jeden Fall spätestens jetzt sehen: Es ist sinnvoll und notwendig, dass Menschen dorthin fliehen sollen, wo sie einen Anknüpfungspunkt und damit gute Integrationschancen haben. Sie tun es unabhängig davon, wie hoch die administrativen oder physischen Mauern sind. Wenn ein solcher Link (Familie, Bekannte, Arbeit, Sprache) besteht, sollte allen Geflüchteten die Wahl des Zufluchtslandes innerhalb der EU gewährt werden. Die Weiterreise in andere EU-Staaten sollte erlaubt werden. Im Gegensatz dazu: das Dublin-System für Asylsuchende und Anerkannte sanktioniert die Sekundärmigration innerhalb der EU stark, es wird sie aber immer geben, wenn individuelle Interessen nicht gebührend berücksichtigt werden.

Ebenfalls ein Novum in der Aufnahme von Geflüchteten: Die private Unterbringung wurde ermöglicht und dadurch eine Überlastung der Aufnahmesysteme verhindert. Bis heute ist ein Großteil der Menschen aus der Ukraine bei Verwandten, Freunden oder anderen privaten Unterkünften untergebracht. Das hat enorm zur Entlastung der Aufnahmesysteme beigetragen. Insgesamt brauchen wir eine realistische, weitsichtige und pragmatische Neuordnung auf der europäischen Ebene, wenn es nicht anders geht mit denen, die das verstanden haben.


Interview: Benjamin Lassiwe