Der Vatikan bestätigte am 5. September, dass Papst Franziskus auf einer Reise in die mittelalterliche Stadt Assisi am 3. Oktober – am Jahrestag des Todes des Heiligen Franziskus also – eine neue Enzyklika unterzeichnen wird. In den darauffolgenden Tagen wird das Schreiben in vielen Sprachen veröffentlicht. In seiner neuen Enzyklika wird Franziskus die “sozialen, politischen und ökonomischen Verpflichtungen“ erklären, „die sich aus dem Glauben daran, dass alle Menschen Kinder Gottes und deshalb einander Brüder und Schwestern sind”, ergeben.
Außerdem wurde der italienische Titel der Enzyklika, Fratelli Tutti, bekannt gegeben. Er löste in den Sozialen Netzwerken sofort eine Welle von Diskussionen aus, weil er gender-exklusiv formuliert ist. Die wörtliche Übersetzung aus dem Italienischen lautet “Alle Brüder” oder “Brüder alle”. Warum, fragten Theolog:innen auf Twitter in ihren ersten Reaktionen auf die Bekanntgabe des Titels, wurde das Dokument nicht “Fratelli e sorelle tutti” (“Brüder und Schwestern alle”) überschrieben? Eine gute Frage!
Bemerkenswert ist, dass der Catholic News Service (Nachrichtendienst der Katholischen Kirche in den USA, Anm. d. Red.) ursprünglich “Brothers and Sisters All” als Titel des Schreibens angegeben hatte, und erst später auf Twitter klarstellte, dass die inklusiv formulierte Übersetzung ins Englische von ihr vorgenommen wurde und nicht vom Pressebüro des Vatikans. Dies ändert also nichts an dem gender-exklusiven Titel, der vom Vatikan bekannt gegeben wurde.
Woher stammt der Titel der Enzyklika?
Um die Herkunft des italienischen Titels der Enzyklika zu verstehen, muss man den Kontext jenes Schreibens verstehen, von dem die Enzyklika ihren Namen ableitet.
Es wurde bekannt gegeben, dass der Titel “Fratelli tutti” aus den Schriften des heiligen Franziskus von Assisi stammt, dessen Namen Jorge Bergoglio als Papst wählte. Es handelt sich um ein Zitat aus der sechsten der Ermahnungen des Franziskus. Diese bestehen aus insgesamt 28 kurzen Mahnschreiben oder Predigten, die der heilige Franziskus seinen Mitbrüdern hielt. Jeder der kurzen Texte liefert typischerweise eine praktische Reflexion auf eine Bibelstelle.
Die sechste Ermahnung lautet in Gänze:
Lasst uns alle, Brüder, des Guten Hirten gedenken, der die Marter des Kreuzes ertrug, um seine Schafe zu retten.
Die Schafe des Herrn sind ihm nachgefolgt in Trübsal, Verfolgung und Schmach, in Hunger und Durst, in Krankheit und Versuchung und in anderen Heimsuchungen. Und dafür erhielten sie das ewige Leben vom Herrn.
Deshalb ist es eine große Schande für uns, die Diener Gottes, dass die Heiligen große Werke vollbrachten, wir aber Ruhm und Ehre erlangen wollen, indem wir von ihnen erzählen.
Die Anrede der Ermahnung scheint die naheliegendste Inspirationsquelle für den Titel der neuen Papst-Enzyklika zu sein. Wie schon bei seiner Enzyklika Laudato Sí, die ihren Titel dem Beginn des berühmten Sonnengesangs des Franziskus verdankt, folgt Papst Franziskus bei der Wahl des Titel der Tradition, ein “Incipit” zu wählen, d.h. die ersten Worte eines bestehenden Textes zu nutzen. Aber anders als bei Laudato Sí, das vom heiligen Franziskus um 1225 im umgangssprachlichen Dialekt der italienischen Region Umbrien verfasst wurde, wurden die Ermahnungen auf Latein zusammengestellt und überliefert.
Der erste Satz lautet einer kritischen Edition des Textes zufolge „Attendamus, omnes fratres” was so viel heißt wie: „Lasst uns, alle Brüder, Acht geben ..“. In ihrem ursprünglichen Kontext ergibt die Gender-Exklusivität der Anrede natürlich Sinn, denn der heilige Franziskus wandte sich an die Gemeinschaft seiner Ordensbrüder. Die Ermahnungen waren als informelle und praktische Form der geistlichen Ermahnung gedacht, die in ihrer Zeit für eine Gemeinschaft von Männern gedacht war und für sie geschrieben wurde.
„Brüder und Schwestern“
Weil aber der Titel der angekündigten Enzyklika kein wörtliches Zitat einer Primärquelle ist, wie es bei Laudato Sí der Fall war, gibt es keinen Grund – auch keinen theologischen – den italienischen Titel des Schreibens gender-exklusiv zu fassen.
Da sich die Enzyklika an die weltweite christliche Gemeinschaft richten wird – weit über die vom heiligen Franziskus adressierte mittelalterliche Mönchs-Gemeinschaft hinausgehend -, bietet es sich an, für die modernsprachlichen Übersetzungen der Enzyklika einen inklusiven Titel zu wählen, der nicht einfach nur “Brüder”, sondern “Brüder und Schwestern” anspricht.
Die Botschaft der sechsten Ermahnung ist, dass Christ:innen auf die Weisung in den Evangelien hin dem Guten Hirten folgen sollen. Der heilige Franziskus fordert seine Ordensbrüder heraus, ihre Berufung als Getaufte ernst zu nehmen, und aus dem Glauben konkret zu handeln. Robert J. Karris OFM, ein franziskanischer Neutestamentler, hat einen ausführlichen Kommentar zu den Ermahnungen verfasst, in dem er eine Zusammenfassung dessen anbietet, was Franziskus seinen Brüdern sagen wollte:
In den Versen 1-2 werden wir von Franziskus aufmerksam gemacht: Jesus tat dies; die Heiligen folgten seinem guten Beispiel. Ganz sicher zeigen sie uns eine Menge, was wir in unserem Glaubensleben nachmachen können. Und was machen wir, wenn wir einmal ehrlich sind? Wir sitzen herum und reden über ihr Beispiel oder predigen über sie von der Kanzel oder erzählen unseren Studenten von ihnen. Ja wirklich, Schande über uns!
Karris’ moderne Übertragung lässt uns die zentrale Botschaft der sechsten Ermahnung klar erkennen: Es ist nicht genug, Christus und die Heiligen einfach zu bewundern. Oder auch nur, ihre Taten zu erinnern und andere über sie zu unterrichten. Als Gefolgschaft des Guten Hirten wird von uns mehr erwartet: Wir sollen unserem Glauben Taten folgen lassen.
Der Vatikan erinnerte bei der Bekanntgabe des Veröffentlichungstermins der Enzyklika daran, dass der Gedanke der Verwandtschaft und wechselseitigen Abhängigkeit aller Frauen und Männer innerhalb der Menschheitsfamilie ein regelmäßiges Motiv der Verkündigung von Papst Franziskus als Bischof von Rom ist. In diesen Zeiten, die durch politische Polarisierung und die Auswirkungen der Corona-Pandemie geprägt sind, ist es wichtig in Erinnerung zu rufen, dass Solidarität und Gemeinwohlorientierung konstitutive Elemente der christlichen Nachfolge sind.
Hoffentlich werden die modernsprachlichen Titel der neuen Papst-Enzyklika durch eine gender-inklusive Formulierung genau diesen Geist widerspiegeln.
Dieser Artikel ist eine autorisierte Übersetzung des englischen Originalbeitrags von Daniel P. Horan auf Medium.
3 Kommentare zum Artikel
Ist Franziskus jetzt endlich eingeknickt vor der Schar seiner scheinheiligen
Feinde in der Kurie?
… Meine Güte! Ist es denn immer noch so fürchterlich schwer, die “Schwestern” den Brüdern voran-zu-stellen, bzw. sie in einem Atemzug mit den Brüdern anzureden !?
Zitat vom Hl.Franziskus in seinem “Brüder-Kontext” ( seinem “Sitz im Leben” ) hin oder her : in den meisten politischen Reden und Predigten im 21. Jahrhundert ist es doch inzwischen – Gott sei Dank – zur Gewohnheit geworden, z u m i n d e s t aber als ein Akt der Höflichkeit in Fleisch und Blut auch von Männern übergegangen, Menschen beiderlei Geschlechts anzusprechen! “Geschwisterlichkeit” wäre ja auch ein wunderschönes, üblich gewordenes Wort .
Sollte der “Pontifex Maximus” dazu nicht in der Lage sein, d.h. sein Bewusstsein für Entscheidendes immer noch nicht ausreichend geschärft haben, wozu schon Paulus im 1. Jahrhundert n. Chr. in der Lage war!?
Oder hat ( wieder einmal ? ) ein anderer Redakteur entweder als Unbedarfter oder gar als bewusst subtil, manipulativ Agierender, bewusst Frauen Ignorierender in der Kurie den letzten Federstrich gesetzt!?
Dagegen hätte Papst Franziskus in dem Fall doch nun wirklich seine ” Macht” im positiven Sinn einsetzen müssen, zumal er doch der Autor, sprich Urheber, Verantwortlicher ( vgl. lat.: auctor/ auctoritas ) des Schreibens und amtlich d i e Autorität ist !
– Gerade in Zeiten, in denen die “Feminismus-Debatte” mit Recht in der Welt und in den letzten Jahren – Gott sei Dank – auch in der kath. Kirche wieder neu entflammt ist.
Das Argument: – Es stehe in der neuen Enzyklika doch so viel Wichtigeres – würde ich als zynisch, wenn nicht gar als frauenverächtlich uns Frauen gegenüber empfinden, werten.
Hier eine kleine Ergänzung zu meinem eigenen Kommentar oben, in dem ich Paulus als Vorbild für eine geschlechtergerechte Anrede erwähnt habe:
Sie kann auf keinen Fall im Zusammenhang mit dem “berühmt-berüchtigten” Zitat aus dem Brief an die Epherser gesehen werden, der eventuell eher von einem Paulusschüler wie eine Predigt verfasst wurde: “(…) Einer ordne sich dem anderen unter in der gemeinsamen Ehrfurcht vor Christus. Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter (…) Ihr Männer, liebt eure Frauen( …)” ( Eph.5,22ff.)
Hierzu müsste noch einmal zum damaligen historisch-kulturellen Kontext und zur Bildsprache im Textzusammenhang recherchiert werden.
Zu denken ist eher an Gal. 3,28 : “(…) Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; ( …)”
Und im Brief an Philemon spricht Paulus seinen Mitarbeiter Philemom als “adelphos” ( griech.) = Bruder u n d ( evt. ) seine Frau Aphia mit
S c h w e s t e r “adelphi ( ä )” an, wobei mit adelphos/ ä/ im griech. Sprachraum durchaus auch “Geschwister” mit gemeint sein konnte.
Öfters wählt er aber auch die schöne Anrede an alle Gemeindemitglieder ” ( …) an alle Heiligen ( “hagiois” ) in ganz Achaia (…) ” ( 2 Kor , 1).
Das wäre doch mal eine würdigende, wertschätzende Anrede an das gesamte “Volk Gottes” – auch heute?
Ich unterstelle Papst Franziskus nicht die böse Absicht, Frauen mit seinem Schreiben zu ex-kludieren.
Da jedoch in unserer Zeit – Gott sei Dank- die Sprachsensibilität gewachsen ist, hätte er auch sprachsensibel eine inkludierende, international tragfähige Formulierung wählen müssen.
Warten wir ab, wie er denn in seiner Enzyklika über Frauen spricht….