Vorstellung der Friedensdenkschrift in der Unterkirche der Frauenkirche Dresden (Foto: EKD)
Evangelische Friedensethik

Baustelle Frieden

Mit der neuen Friedensdenkschrift will der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Orientierung in einer „Welt in Unordnung“ der bieten. Die Reaktionen zeigen: Die Friedensethik bleibt eine Baustelle.

In der schlichten Unterkirche der Dresdner Frauenkirche wurden schon bewegende Gottesdienste mit jungen Menschen und internationalen Gäst:innen gefeiert, als die Bauarbeiten oberhalb des Erdgeschosses noch längst nicht abgeschlossen waren. Vor genau zwanzig Jahren wurde der protestantische Symbolbau dann wieder eingeweiht. Die Unterkirche als Orientierungspol verblasste gegenüber der touristischen Attraktivität des barocken Prunks der Obergeschosse.

Ein Symbol für Frieden und Versöhnung will die Frauenkirche jedoch weiterhin sein. Nur so ließ sich die historisierende Wiederherstellung überhaupt verargumentieren. Die Wunden, die der 2. Weltkrieg Kirche und Stadt geschlagen hat, haben sich auf den ersten Blick fast vollständig geschlossen. Die Narben muss man schon ganz genau suchen. Besucher:innen benötigen in Dresden inzwischen pädagogische Hinführungen, um den Irrungen und Wirrungen des 20. Jahrhunderts auf die Schliche zu kommen.

Zu den Irrungen gehört sicher, dass die heutige „Friedenskirche“ lange vor dem 13. Februar 1945 den Abstieg in das Inferno angetreten hatte. Der deutschchristliche sächsische Landesbischof Friedrich Coch und seine braune Synode nutzten den Zentralbau zur Ausstellung ihrer neu gewonnenen Macht. Vom imposanten Kirchendach grüßten Hakenkreuzflaggen; die Einheit von Führer, Nation und Kirche war hergestellt.

Dass die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sich diesen nationalen und protestantischen Erinnerungsort für die Vorstellung ihrer neuen Friedensdenkschrift „Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick“ (PDF) ausgewählt hat, wirkt daher stimmig: Denn es ist die Realität des Bösen in der Welt, die von der neuen Denkschrift ernstgenommen wird. Dass die Welt „in Unordnung“ geraten ist und dass es Krieg in Europa gibt, hat die Erarbeitung einer neuen friedensethischen Orientierung angestoßen, die vor drei Jahren begonnen wurde.

Partizipation und Konsultation

Seither haben die EKD-Friedenswerkstatt, Mitglieder des EKD-Kammernetzwerks, die Evangelischen Akademien, ein friedensethisches ExpertInnen-Gremium beim evangelischen Bischof für die Bundeswehr und zahlreiche Akteur:innen aus der evangelischen Friedensbewegung Positionierungen vorgenommen, sich eingemischt und doch zumindest vom Rand des Geschehens her Dissens in die Debatte eingetragen.

Verantwortlich für den heute vorgestellten Text ist das friedensethische Redaktionsteam des Kammernetzwerks unter Vorsitz des Münchener Theologieprofessors Reiner Anselm und der Direktorin der Evangelischen Akademie zu Berlin, Friederike Krippner. Der 15-köpfige Rat der EKD hat sich das Dokument einstimmig zu eigen gemacht. Auch wenn die Denkschrift im Rahmen der EKD-Synodentagung vorgestellt wird: Sowohl Synode und Kirchenkonferenz als auch die EKD-Friedenswerkstatt des Friedensbeauftragten des Rates, Landesbischof Friedrich Kramer (EKM), haben am Ergebnis des „partizipativen“ Prozesses nicht Stift angesetzt.

Wohl aber sei „die Friedenswerkstatt die erste Leserin der Entwürfe“ gewesen, erklärte Krippner bei der Vorstellung in der Unterkirche. Aus friedensbewegten Kreisen wird der gleiche Vorgang ein wenig anders interpretiert: Das Redaktionsteam habe sich aus der Menge von Anmerkungen, Korrekturen und Wünschen nur derjenigen angenommen, die ihm zupass gekommen wären. Wurden die Anliegen der evangelischen Friedensbewegung ausreichend gewürdigt?

Kramer wies das, dem Wesen nach, aus dem Playbook des Rechtspopulismus stammende Narrativ zurück: „Wenn Du nicht sagst, was ich meine, hast Du mir nicht zugehört“. Anselm, Krippner, Kramer und die zur Vorstellung ebenfalls sprechende EKD-Ratsvorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs, betonten vielmehr, dass der „partizipative“ Prozess im Vorfeld der Veröffentlichung im Vergleich zur Erstellung früherer Denkschriften einen großen Fortschritt darstelle. Vertrauensvolles Im-Gespräch-Bleiben meine gerade nicht, dass man sich (handels-)einig werde.

Rechtserhaltende Gewalt und Gerechter Friede

Nun liegt die neue fast 150-seitige Denkschrift also vor. Und Debatte wie Streit gehen natürlich weiter. Gegenpublikationen und Stellungnahmen aus der Friedensbewegung sind angekündigt und manche Doppeldeutigkeit im Text lässt weitere sicherheitspolitisch und theologisch informierte Nachdenkprozesse notwendig erscheinen.

Die neue Denkschrift soll jene von 2007 „aktualisieren“ und hebt sich recht deutlich von der Kundgebung der EKD-„Friedenssynode“ 2019 (ebenfalls in Dresden) ab. Formal dadurch, dass 2025 längere Passagen zum gewaltfreien Friedenschaffen fehlen. Inhaltlich durch eine „Neuakzentuierung“ genannte Neuformulierung des Gewaltschutzes, die im Zentrum der Denkschrift steht. Dem auch militärischen Schutz einer Bevölkerung vor weiterer Gewalt wird im Konzert der vier Grunddimensionen des Leitbilds vom Gerechten Frieden ein relativer Vorrang eingeräumt.

Was die rechtserhaltende Gewalt, die bereits in der Denkschrift von 2007 enthalten war, tatsächlich bedeutet, habe man ausführlich und „verantwortlich gegenüber gegenwärtigen Herausforderungen“ darstellen wollen, erklärte Krippner bei der Vorstellung vor der Synode. Diese Frage habe sich im Übrigen auch schon vor dem Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 gestellt. Dass man sich vor den schwierigen ethischen Abwägungen beim Gewaltschutz nicht drücke, nennt Anselm vor der Synode schlicht „evangelische Redlichkeit“.

„Der konstitutive Zusammenhang von Gerechtigkeit und Frieden auch in internationaler Perspektive wird weiterhin anerkannt“, erklärt in der Eule Michael Haspel, Theologe und Friedensethiker von den Universitäten Erfurt und Jena, in seiner Analyse der neuen Denkschrift. „Schutz vor Gewalt“ und „Förderung von Freiheit“ bleiben im Vergleich zu 2007 gleichbenannt: Der Gewaltschutz erhält gewissermaßen einen Dringlichkeitsvermerk.

Bei der dritten und vierten Dimension des Gerechten Friedens gibt es allerdings Änderungen: Aus „Abbau von Not“ wird nun „Abbau von Ungleichheiten“ und statt der „Anerkennung kultureller Vielfalt“ wird nun von einem „friedensfördernden Umgang mit Pluralität“ gesprochen. Das Konzept des Gerechten Friedens, seit 2007 die zeitgemäße Formulierung evangelischer Friedensethik, bleibt also, sind sich Rat der EKD und Redaktionsteam einig, trotz einer zerbrechenden Welt intakt.

Zwischen Lob und Beklemmung

„Mein großer Wunsch ist es, dass wir in den weiterhin kontroversen Fragen unserer Friedensethik wertschätzend miteinander im Gespräch bleiben“, wünschte sich Friedenswerkstattleiter Kramer vor dem Plenum der EKD-Synode. Mit der Zerissenheit der evangelischen Kirchen in Sachen Krieg und Frieden müsse man auch in Zukunft sensibel umgehen. Die Arbeit der EKD-Friedenswerkstatt solle darum fortgesetzt werden. Gerne dürften sich daran auch EKD-Synodale beteiligen.

Kurz vor der offiziellen Vorstellung in der Unterkirche der Frauenkirche nahm die EKD-Synode die Denkschrift im Plenum aus den Händen von Krippner und Anselm entgegen. „Wir wollten kein Manifest, sondern ein Werkzeug verfassen“, stellte Anselm klar, während sich rechts von ihm wenige Personen aus der Friedensbewegung mit einem Transparent zum stillen Protest aufgestellt hatten.

Baustelle hinter dem Kongresszentrum und Erlweinspeicher in Dresden (Foto: Philipp Greifenstein)

Tatsächlich ist im Vorwort der Ratsvorsitzenden zur Denkschrift im Unterschied zu jenem zum Vorgänger-Dokument von 2007 aus der Feder des damaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber keine Rede mehr davon, in Denkschriften solle ein „sorgfältig geprüfter und stellvertretend für die ganze Gesellschaft formulierter Konsens zum Ausdruck kommen.“ Demütig schreibt Fehrs davon, man wolle „zur Gewissensbildung beitragen und Orientierungspunkte geben für ein Leben aus dem Geist der Versöhnung“.

Ihren Eindruck, dass es in der Denkschrift zu wenig um den Beitrag der Entwicklungszusammenarbeit und zivilen Konfliktbearbeitung zum Friedensstiften geht, brachte die Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW), Beate Hofmann, ins Plenum ein. Sie ist im Ehrenamt Vorsitzende des Aufsichtsrates des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung, der Dachorganisation von „Brot für die Welt“, Diakonie Deutschland und Diakonie Katastrophenhilfe. Den Mangel der Denkschrift bei diesem Thema empfinde sie „in der gegenwärtigen politischen Lage als beklemmend.“

„Spuren gelegt“ für aktuelle politische Positionierungen

„Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten“, singen die Evangelischen in der deutschen Übersetzung des Chorals „Da pacem domine“ von Martin Luther. Frieden in unserer Zeit, „Peace in our Time“ – der Versuchung des Appeasements gegenüber dem Bösen will der Rat der EKD mit seiner neuen Denkschrift widerstehen. Das lobten im Plenum der Synode unter anderem die Synodalen Katrin Göring-Eckardt und Linda Teuteberg, die als Grüne- bzw. FDP-Politikerinnen sonst durchaus divergierende Politikansätze vertreten. Angesichts des Ukraine-Krieges ergibt der relative Vorzug des militärischen Gewaltschutzes in der Denkschrift Sinn. Gilt dies wirklich auch für die sicherheitspolitische Neuorientierung des restlichen Kontinents?

Bleiben die Neuakzentuierungen der Denkschrift auch dann stimmig, wenn man statt gen Osten in den Nahen Osten und nach Gaza schaut? Was bedeutet die weitgehende Ablehnung automatisierter und (teil-)autonomer Waffensysteme, wenn man einmal von europäischen Schlachtfeldern wegsieht und in globaler Perspektive denkt? Wollte der Rat beispielsweise wirklich eine Kritik des israelischen „Iron Dome“ üben, wenn doch in der Denkschrift von der Notwendigkeit „menschlicher Kontrolle“ der „Ziele“ solcher Waffensysteme die Rede ist?

Man habe mit der Denkschrift „Spuren gelegt“, erklärte Redaktionsteams-Co-Chef Anselm, auf denen die weitere friedensethische Debatte wandeln könne. Auch biete sie „die richtigen Kriteriologien“ an, anhand derer sich die evangelischen Kirche zu aktuellen und zukünftigen Konflikten verhalten könne, die in der Denkschrift selbst nicht oder nur am Rande vorkommen. Genretypisch gehe es in der Denkschrift um grundsätzliche theologische und ethische Fragen und nicht um Einzelkonflikte, fügte Co-Redaktionsleiterin Krippner hinzu.

Sie erhoffe sich, dass der Rat kommende Stellungnahmen zu Kriegen und Konflikten im Licht der neuen Friedensdenkschrift verfasse. Im Hinblick auf Gaza ergänzte Anselm, für eine evangelische Friedensethik, die sich bejahend auf das Völkerrecht beziehe, bleibe die „komplexe völkerrechtliche Konfiguration“ des Nahost-Konflikts eine Herausforderung. In der Wissenschaftssprache nennt man das wohl ein Desiderat – alltagssprachlich eine Baustelle.

Friedensfähigkeit und „Kriegstüchtigkeit“

Das Bemühen von Rat und AutorInnen, der evangelischen Friedensethik mit „Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick“ ein zeitgenössisches Update zu verpassen, ist nachvollziehbar und an und für sich ehrenwert. Statt wortreich vom Frieden zu träumen, dreht sich die neue Denkschrift um den Krieg. Es gibt ihn, man kommt nicht drumherum. Kriegsgeheul erschallt aus der Denkschrift trotzdem nicht, vor eskalierender Sprache wird gewarnt.

Friedensfähigkeit bleibt den Protestant:innen wichtiger als „Kriegstüchtigkeit“. In der neuen Denkschrift wird ganz zeitgeistig vor der „hybriden Kriegsführung“ von Autokraten und Diktaturen gewarnt und zugleich davor, sich stets im Belagerungszustand zu fühlen. Sie ist in der Tat „realistisch“ – auch ohne dass man behaupten müsste, evangelische Christ:innen wären vor 2022 oder 2025 dem Bösen in der Welt besonders blind oder gar indifferent gegenüber gestanden.

Der Rat meint, zu ihrer Verteidigung sollten freiheitlich-demokratische Rechtsstaaten besser in der Lage sein als heute. Muss der Friede immer bewaffnet sein? Die EKD-Ratsvorsitzende Fehrs erklärte, die gewaltlose Konfliktlösung habe weiterhin Vorrang. „Manchmal“, sagte sie auf die ostdeutsche Protestgeschichte verweisend, „reichen auch schon Friedenslichter, die Schutz gewähren“.

Manchmal, aber nicht immer. Und dann ist es offenbar auch Protestant:innen wichtig, dass die eigenen Verteidigungssysteme keine Ladehemmungen haben. Jage dem Frieden nach – aber mit funktionierendem Gerät? Hinter das Ziel der „Verteidigungsfähigkeit“ stellt sich die Evangelische Kirche mit ihren offiziellen Organen ausdrücklich. Auch ganz praktisch mit dem neuen „Ökumenischen Rahmenkonzept zur Seelsorge und Akutintervention im Bündnis-, Spannungs- und Verteidigungsfall“. Die evangelische Friedensbewegung will weiterhin, dass wir alle „friedensfähig statt kriegstüchtig werden“.

Beides ist aus der historischen Perspektive Deutschlands, das sich heute glücklicherweise zu den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaaten zählen darf, ein nachvollziehbarer Wunsch. Die neue Denkschrift findet hier eine ziemlich mittige Position. In die gut lesbare, akademisch aufgeladene evangelische Prosa haben sich nur wenige (zuweilen auch giftige) Spitzen eingeschlichen. Michael Haspel hat darauf in seiner Analyse hingewiesen.

„Verleih uns Frieden gnädiglich“

Der Erinnerungsort Frauenkirche mahnt davor, dass ungerechte Gewalt auf den Aggressor zurückfällt. Das Böse, das von Deutschland und Dresden ausgehend den Kontinent in den Abgrund riss, blieb im 2. Weltkrieg nicht unbeantwortet. Mit ausgleichender Gerechtigkeit in biblischer Perspektive hat das gleichwohl nichts zu tun.

Für den Friedensbeauftragten des Rates der EKD, Friedrich Kramer, bleibt es angesichts der Entgrenzung der Kriegsführung dabei: „Krieg ist nicht beherrschbar und muss unter allen Umständen vermieden werden.“  Wann ist überhaupt noch Friede und wann befinden wir uns im Krieg? Wie lange hält der „letzte Sommer vor dem Krieg“ noch an?

Die Denkschrift der EKD will zwischen Krieg und Gerechtem Frieden, zwischen ethisch vertretbarer und verurteilenswürdiger Gewalt unterscheiden. Eine lutherische Demut angesichts von Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handels ist ihr trotz des weitgehenenden Verzichts auf Kompromissformeln zu eigen. Nicht umsonst endet der Luther-Choral: „Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.“


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