Bild: Stephane Yaich (Unsplash)

Geht ihr zum Arzt oder tut es auch ein Gebet?

Wie stehen post-evangelikale Christen zu den unter charismatischen Evangelikalen verbreiteten „Heilungen“? Machen sie sich auch dort ehrlich?

Lieber Christoph,

charismatische Evangelikale beten fleißig um Heilung und meinen damit nicht allein die Hilfe Gottes beim Bestehen von schweren Krankheiten, seinen Beistand und Trost, sondern glauben daran, dass Gott körperliche Schmerzen und Krankheiten wegnehmen kann. Aus liberaler Perspektive schaut man mal amüsiert, mal besorgt auf diese Praxis: Wird Menschen da nicht etwas vorgemacht? Handelt es sich dabei nicht auch um geistlichen Missbrauch? Und wie schaut das bei Post-Evangelikalen aus: Geht ihr wieder zur Hausärztin oder tut es auch ein Gebet?

Fröhliche Grüße!


Liebe Eule,

das Thema der Glaubensheilung hat sich in der evangelikal geprägten Christenheit vor allem in den letzten Jahrzehnten zunehmend etabliert. Grund hierfür ist meines Erachtens vor allem die veränderte Erwartungshaltung, die wir bezüglich Glaube und Religion heute mitbringen.

Mit Moderne und Individualisierung verschiebt sich Glaube und Religion immer weiter ins Private, ins persönliche Leben hinein. Frömmigkeit und Spiritualität werden heute deutlich weniger als Diskurse wahrgenommen, mit denen wir die Welt verstehen und erklären wollen, als vielmehr im Sinne einer Bereicherung des persönlichen Lebens gelebt und verstanden.

Am Puls der Zeit: Heilungsversprechen antworten auf einen individualisierten Glauben, Bild: rawpixel (Unsplash)

Glaube muss heute alltagsrelevant sein. Glaube muss mich und meine persönliche Biografie betreffen. Glaube muss für mich persönlich erfahrbar werden. Glaubensheilung ist da ein Thema, das scheinbar gut hinein passt in eine solche Lebenswelt. Eine Idee, die uns heute anspricht, da wir Glauben hier sehr praktisch lebar und erfahrbar machen können.

„Your own personal Jesus“

Gott und Glaube verspricht uns das “gute Leben”. Das hört man heute von vielen charismatisch geprägten Bühnen. Das ist das, was Menschen heute oftmals suchen und sich wünschen, wenn sie nach Spiritualität fragen. Wer heute das „gute Leben“ predigt, ist erfolgreich. Egal ob Yogakurs oder christlichen Gruppe.

So ist auch zu beobachten, dass sich das Thema Glaubensheilung zunehmend von seinen theologischen Einbettungen, beispielsweise in Heiligungsbewegung oder die pfingstlerischen Geistesgaben, entkoppelt und immer stärker rein phänomenal rezipiert wird. Unter dem (post-)modernen Narrativ des „guten Lebens“, wird auch die Glaubensheilung primär erst einmal eines, nämlich zu einem Moment persönlicher Gotteserfahrung.

Wenn Christen Kranke heilen wollen, dann gehen sie ja nicht – es wäre ja auch zu einfach – ins Krankenhaus, sondern feiern meist eher spezielle Heilungs-Gottesdienste, wo sie Glaubensheilung vor allem als Happening zelebrieren. Andere beten wiederum in ihren geschlossenen, gemeindlichen Hauskreisen füreinander. In einem solchem Raum wird das Heilungsgebet vor allem zu einer zwischenmenschlichen Erfahrung der gegenseitigen Zuwendung, die durchaus auch positive Synergien freisetzen kann. Manch ganz übermütige evangelistische Gruppe trifft sich vielleicht auch in der Fußgängerzone ihrer Stadt, betet dort für fremde Menschen, um dies als Liebeszeugnis Gottes weiterzugeben.

Die Idee eines praktischen, ganz persönlichen Eingreifens Gottes in unser kleines, privates Leben, das ist ein Moment, der viele Menschen heute anspricht, der gewisse Hoffnungen und Wünsche berührt. Und dies geschieht nicht nur, wenn wir tatsächlich selber mit Krankheit zu kämpfen haben. Ein solches Denken funktioniert vor allem dort gut, wo es eher ums Kleine geht, wo vielmehr unser Gefühl eines „versorgt Werdens“ im alltäglichen Leben angesprochen wird.

Ein Großteil der heutigen Heilungszeugnisse sind oft auch recht trivial. Man kann diese natürlich mit Gott und Glaube in Verbindung bringen, so wie man Gott für alles danken kann, was im persönlichen, alltäglichen Leben vielleicht auch einmal gut läuft. Zwingend ist der Gedanke des „Übernatürlichen” in den meisten Fällen allerdings nicht.

So gibt es leider auch kaum wissenschaftlich fundierte Untersuchungen zu konkreten Heilungszeugnissen. Statistisch nachweisbar ist allerdings der psychologische Effekt eines solchen religiösen Narrativs. So werden religiöse Menschen, die an einen greifbaren, für das persönliche Leben relevanten Gott glauben, tatsächlich weniger krank als andere, die ein solches Vertrauen, eine solche Hoffnung für sich nicht konstituieren können.

Wie stellen sich Post-Evangelikale zur Glaubensheilung?

In post-evangelikalen Kreisen wird das Thema Glaubensheilung daher durchaus unterschiedlich reflektiert. Dies hängt meist sehr davon ab, welche Berührung man selbst mit einer solchen Frömmigkeit in seiner Vergangenheit hatte.

So begrüßen manche durchaus ein Denken, das Gott auch einen eher eventhaften Handlungsspielraum in unserem Leben einräumt. Man möchte in Glaubensfragen vielleicht experimentell und verspielt bleiben und nicht apriorisch bereits Dinge generell ausschließen, beispielsweise durch eine bestimmte Theologie oder eine rein naturwissenschaftliche Weltsicht.

Andere wiederum, deren vormaliges Glaubensleben vielleicht gerade durch die Narrative um Heilung und Wunderzeugnisse geprägt war, kritisieren diese wiederum oft sehr nachdrücklich. Oftmals auch, weil sich die Versprechen der charismatischen Welt für viele eben letztlich nicht erfüllt haben. Wo vielleicht gerade der Glaube an Heilung mit zum Stolperstein und Auslöser einer persönlichen Glaubenskrise wurde.

„Denn ich bin der HERR, dein Arzt.“ (Exodus 15, 26), Bild: Piron Guillaume (Unsplash)

„Reach out and touch faith“

Schaut man sich heute im charismatischen Raum um, sieht man, dass die Rezeption des Themas Glaubensheilung in immer größerem Stil betrieben wird. An Jüngerschaftsschulen mit Titeln wie „School of supernatural Ministries“ oder „Schule für natürlich übernatürliches Leben“ soll vermittelt werden, wie das funktioniert mit dem Handauflegen und der Heilung durch Gebet.

Im Rahmen einer solchen Verdichtung, wird natürlich auch eine Wahrnehmung von Wirklichkeit bewusst geformt und verändert. Anstatt Leid als einen natürlichen Aspekt unserer menschlichen Wirklichkeit anzunehmen, wird Glaube hier primär im Modus eines „Überwindens von Leid“ gepredigt und dies als neuer Frömmigkeits-Standard etabliert. “Der Himmel auf Erden” heißt hier das neue Topos. Die Glaubensheilung wird so zu einer Ressource, auf die wir zugreifen können, wenn wir denn glauben. Hier wird zur Regel gemacht, was vorher als „Wunder“ klar die Ausnahme war.

Die Glaubensheilung reiht sich so nahtlos in die rhetorischen Formeln der charismatischen Szene ein: Gott hat einen Plan für dein Leben. Gott hat alles unter Kontrolle. Gott schützt dich vor Misserfolg und Leid … . Formeln, die immer und immer wiederholt werden, die performativ eingeübt werden, die dich an die Hoffnung ketten. Die Hoffnung, dass sich am Ende alles schon richten wird.

Das sind große Versprechen. Versprechen die große Erwartungen schüren. Erwartungen, die uns letztlich aber auch tief enttäuscht zurücklassen können, sollten sie am Ende an der Realität des Lebens scheitern.

Die Krux an der Geschichte

Nennen wir die Sache doch einmal beim Namen: Während ich mir gerade in meinem Hauskreis vielleicht meine Kopfschmerzen wegbeten lasse, sterben zur selben Zeit vielleicht andere Gläubige an einer Grippe-Epidemie. Während ich dafür bete, dass ich meinen nächsten Urlaub finanziert bekomme, und hier auf Gottes Versorgung hoffe, erleiden gleichzeitig vielleicht hunderte Menschen den Hungertod, da sie nicht einmal das Nötigste zum Leben haben.

Für eine charismatische Christenheit, die sich die direkte Relevanz Gottes für das persönliche, alltägliche Leben zum Kerngeschäft gemacht hat, muss die Theodizeefrage letztlich zum Problem werden. Ihr muss ausgewichen werden, denn scheinbar erfüllen sich die eigenen Postulate und Glaubenssätze für die Mehrheit der Menschen nicht.

Eine solche Spiritualität setzt also entweder eine sehr differenzierte theologische und auch systematische Auseinandersetzung mit einem scheinbar ungerechten Gott voraus, oder sie funktioniert eben nur in der eigenen Blase, da wo man es sich irgendwie mit seinen Glaubenssätzen und Vorstellungen einrichten kann. Die Bewegung der Individualisierung macht ein solches Vorgehen letztlich möglich. Denn heute muss man nicht mehr für alle Welt alle Fragen beantworten. Man braucht keine Systematik mehr, wo alle Fragen ihren Platz finden, wo alle Dinge am Ende irgendwie zusammen passen. Hauptsache ist – es passt für einen selbst. Eine Haltung letztlich, die auf Menschen wie der blanke Hohn wirken muss, die tatsächlich den Realitäten von Elend und Leid tagtäglich ins Angesicht sehen.

Die Sache mit dem Missbrauch

Desweiteren ist es so, dass gerade dieser Nährboden an Erwartungen, der in der charismatischen Szene tagtäglich aufs Neue gelegt wird, immer wieder Missbrauch im großen Stil begünstigt. Durch den starken Fokus auf die individuelle Glaubenserfahrung zeigt sich die charismatische Szene in weiten Teilen komplett unfähig, sich dort kritisch abzugrenzen, wo Einzelne auf Grundlage einer solchen Spiritualität das Leid von Menschen gezielt ausnutzen, um sich persönlich zu bereichern.

So kommt es, dass ein Fernseh-Prediger wie Benny Hinn seit nunmehr bereits vier Jahrzehnten Millionen damit machen kann, große Hypnose-Shows im Namen Gottes zu inszenieren, auf denen Menschen Heilung versprochen wird, die nachweislich nicht eintritt.

Haben sich frühere charismatische Leiter wie etwa ein John Wimber, Gründer der Vineyard Bewegung, zumindest mit der Bibel von solcherlei Pervertierung noch bewusst abgegrenzt, hört man heute kaum noch eine kritische Stimme aus der charismatischen Szene selbst.

Die persönliche Erfahrungswelt ist in der charismatischen Spiritualität mittlerweile so sehr in den Vordergrund gerückt, dass man heute eher Kommentare hört wie: „Irgendwie ist doch auch bei einem Benny Hinn noch Gott drin. Ich hab Freunde, die da Gott erlebt haben.“ Na super, denkt man da, dann ist ja alles geklärt.

Resümee

Post-Evangelikale wollen die Möglichkeit einer Heilung durch Gebet im Gro vermutlich nicht generell ausschließen. Genauso wie die Idee einer persönlichen Relevanz des Glaubens für unser alltägliches Leben. Heilungsgebet – kann man machen. Und wenn das gemeinsame Beten am Ende lediglich Trost und Anteilnahme spenden sollte – generell verkehrt ist es sicher nicht.

Heilung durch Anteilnahme und Trost? Bild: Matheus Ferrero (Unsplash)

Man sollte aber bei allem was man im Glauben tut und postuliert auch verantwortungsvoll handeln. Möchte man an Heilung als Idee glauben und festhalten, sollte man aufpassen, dass man das Thema nicht an aller Empirie vorbei so dermaßen verdichtet, dass man am Ende die Ausnahme zur Regel macht. Nur, weil Menschen das vielleicht lieber hören. Nur, weil man damit mehr Applaus bekommt. Nur, weil man so vielleicht erfolgreicher ist. Natürlich ist der, der viel verspricht am Ende erfolgreicher. Doch das nennt man gemeinhin dann Populismus. Verantwortungsbewusste Leitung ist das sicherlich nicht.

Gerade hinsichtlich des Themas Missbrauch ist es zudem unabdingbar, sich die eigene Mündigkeit zu bewahren, um Missbrauch in den eigenen Reihen auch wirklich benennen zu können.

Als jemand, der hier und da noch im charismatischen Raum unterwegs ist, und vieles an einer eher charismatisch geprägten Spiritualität durchaus auch zu schätzen weiß, fühlt man sich manchmal ernsthaft versucht, in einer Nacht und Nebelaktion, ein kantsches “Sapere aude” über die Eingangstür einer jeden charismatischen Freikirche zu tackern. Einfach deshalb, weil drinnen oftmals das genaue Gegenteil gepredigt wird. Wo kommen wir da hin? – fragt man sich. Vor allem wenn man bedenkt, dass die Charismatiker die nunmehr am schnellsten wachsende Gruppe der Christenheit darstellen und so das Bild des Christentums in Zukunft vermutlich noch sehr viel stärker prägen werden.

Vielen post-evangelikalen Christen ist vor allem Ehrlichkeit im Glauben sehr wichtig. Wenn wir in unseren Gemeinden aber nur noch vom “guten Leben” sprechen und den Menschen so Versprechungen machen, die wir letztlich nicht einlösen können, dann nehmen wir das Leben nicht ernst, so wie es nun einmal ist. Dann flüchten wir uns in ein frommes Disneyland, fernab aller lebensweltlichen Realität.

Was wir glauben und postulieren, muss sich der Wirklichkeit, in der wir leben, auch stellen können. Gerade, wenn diese hart, unschön und leidvoll ist. Ich denke, das sind wir uns gegenseitig schuldig.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!