"Helm ab zum Gebet!", Bundeswehrsoldaten beim "Großen Zapfenstreich", Foto: U.S. Army Europe (Flickr)

Hilferufe des Militärbischofs

Militärbischof Sigurd Rink bekennt sich in einem neuen Buch zu Selbstzweifeln und Ratlosigkeit, votiert aber zielstrebig für Aufrüstung, militärische Auslandseinsätze und eine erneute allgemeine Wehrpflicht.

Sigurd Rink, oberster Leiter des protestantischen Militärkirchenwesens in Deutschland, hat 2019 ein Buch „Können Kriege gerecht sein?“ vorgelegt. Der Buchtitel setzt ein Fragezeichen hinter den neuen Friedensdiskurs der Ökumene. So hat etwa der gegenwärtige Bischof von Rom im Buchgespräch mit Dominique Wolton die Botschaft der internationalen katholischen Friedenskonferenz „Nonviolence and Just Peace“ (Rom 2016) bekräftigt: „Kein Krieg ist gerecht. Die einzig gerechte Sache ist der Frieden.“

Diese Feststellung wird hierzulande auch von mehreren evangelischen Landeskirchen – ohne Hinzufügung eines Fragezeichens – sowie in bedeutsamen Entschlüssen der Ökumene auf weltkirchlicher Ebene getroffen.

Autor und „Co-Autoren“

Der Buchautor Dr. Sigurd Rink übt als erster evangelischer Militärbischof der Bundesrepublik Deutschland sein Amt hauptamtlich aus. Er ist 2014 vom damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider um die Übernahme dieses Amtes gebeten und dann von der EKD-Kirchenleitung ernannt worden. Eine Bischofswahl mit Gegenkandidaten*innen, Aussprache usw., wie sie sonst in den Synoden demokratisch strukturierter Kirchen der Reformation üblich ist, hat hierbei offenbar nicht stattgefunden.

In der hessisch-nassauischen Landeskirche, aus welcher der Militärbischof kommt, gibt es im hochkirchlichen Sinne gar kein eigenes Bischofsamt, und weil Rink früher einmal Pazifist war, kam aus dem persönlichen Umfeld nicht nur Unterstützung: „Meine Entscheidung, mich zum Militärbischof berufen zu lassen, stößt bei manchen […] auf großes Befremden und heftige Kritik.“

Seine Amtsführung versteht Rink offenbar eher in der Weise der herkömmlichen röm.-kath. Bistumshierarchie. Er spricht jedenfalls von „meinem Beirat für die Seelsorge in der Bundeswehr“ (unter dem Vorsitz des EKD-Friedensbeauftragten), „meinem Stab in der Bundesbehörde ‚Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr‘“ und „meinen 108 Pfarrerinnen und Pfarrern im Feld“.

Im Vorwort werden „zwei Co-Autoren“ kurz vorgestellt: die vom Ullstein-Verlag für das Buchprojekt ausgewählte Philosophin Uta Rüenauver und Militärdekan Klaus Becker. Als Leser kann man jedoch nicht nachvollziehen, welche Anteile bzw. Passagen auf die Urheberschaft der Co-Autoren zurückgehen. Das ist bei einem über weite Strecken äußerst persönlichen und zugleich kirchenpolitisch brisanten Buch wie diesem Werk zumindest ungewöhnlich.

Transparent ist die Tatsache einer Mitwirkung des Bundesministeriums für das Militärressort bei der Publikation des Militärbischofs. Rink schreibt: „Ich danke der Presseabteilung des Verteidigungsministeriums für die sehr genaue Durchsicht des Manuskripts, einen Faktencheck gleichsam. Das heißt nicht, dass wir in allem einer Meinung wären. Das wäre auch seltsam. Aber gewonnen hat das Buch durch die Zusammenarbeit, und Fehler, die sich dennoch eingeschlichen haben, nehme ich getrost auf mich.“

Unterschiedliche biographische Prägungen kommen zum Tragen

Im Einklang mit der erwiesenen kirchengeschichtlichen Kompetenz des Verfassers werden historische Befunde zum – allerdings irreführend als Naherwartungsphänomen eingestuften – frühchristlichen „Fundamentalpazifismus“ und zur deutschen Kriegs- und Militärkirchlichkeit an keiner Stelle des Buches verschleiert; insbesondere liegen dem Autor auch Annäherungen im EKD-Bereich an eine revisionistische Sicht des Ersten Weltkrieges fern. Die Abgründe der Kollaboration der deutschen Wehrmachtsseelsorge beim Rasse- und Vernichtungskrieg können den Lesern freilich im Rahmen der kurzen Exkurse nicht anschaulich vermittelt werden. (siehe Literaturhinweis am Ende des Artikels, Anm. d. Red.)

Sigurd Rink, Foto: Militärseelsorge

Im Buchessay kommen – auf der Grundlage eines erzählenden Grundtons – sehr unterschiedliche Stile und Genres zusammen. Manche Abschnitte enthalten eine – im ganzen Werk wiederholt aufgegriffene – autobiografische Selbstbesinnung, die möglicherweise gleichzeitig auch Kritiker aus dem persönlichen Umfeld zum Adressaten hat. Eingefügte Landschaftsbeschreibungen mit z.T. sehr gefühlvollen Stimmungsbildern zu den Dienstreisen im Ausland – und Zitaten aus der schönen Literatur – sollen hier nicht bewertet werden. Vielleicht ist daran gedacht, den in der Kriegsliteratur so oft bearbeiteten Kontrast zwischen einer faszinierenden Naturerfahrung und den Abgründen einer gewalttätigen Zivilisationsform aufzugreifen.

Die geschilderte Prägung im Elternhaus von Rink weist auf Einflüsse hin, die in Spannung zu einander stehen. Die Mutter bezeugt einen lebensfrohen, von der Bekennenden Kirche herkommenden Glauben; sie „sah eine Kontinuität vom militaristischen 19. Jahrhundert zu den Nazis“ und „verabscheute jeden Nationalismus“. Der früh verstorbene Vater war als traumatisierter Wehrmachtssoldat aus dem Ostfeldzug zurückgekehrt und betrachtete – auf der Grundlage eines „deutsch¬nationalen“ bzw. nationalprotestantischen Standortes – den Nationalsozialismus nur als „singuläre Entgleisung“ der deutschen – und insbesondere preußischen – „Kulturnation“.

Lebensgeschichtlich wird zunächst das geistige Erbe der Mutter richtungsweisend: Als junger Mensch steht Rink ab 1980 jener ökologisch-pazifistischen Bewegung nahe, die sich parteipolitisch in Form der „Grünen“ organisiert und später – wie auch der Militärbischof selbst – zum größten Teil nach Eintritt in etablierte Funktionen den Pazifismus hinter sich lässt.

Positive Bezugnahme auf Luthers Kriegs-Schrift von 1526

Die Annäherung an nationalprotestantische Sichtweisen im reiferen Alter wird besonders deutlich an den rundherum positiven Bezugnahmen auf Martin Luthers Schrift „Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können“ (1526), welche das Militärbischofsamt unter Rink neu ediert hat. Schon viele lutherische Christ*innen hat dieses Werk zur Rechtfertigung von Tötungsakten betrübt – nicht nur wegen seiner grausamen Wirkungsgeschichte in der Geschichte unseres Landes. Stets legitimiert der Reformator allein die tötende Schwertgewalt von ganz oben nach unten – gegen die Untergebenen, denen nur das Erdulden ohne Widerstandsrecht zukommt.

Luther vergleicht die tötende Gewaltausübung des „rechtschaffen[en] und göttlich[en]“ Soldatenstandes im Auftrag der von ihm als rechtmäßig qualifizierten Staatsobrigkeit – gut augustinisch – mit dem vom Mediziner ausgeführten „Werk der Liebe“:

„Es ist so, wie wenn ein guter Arzt, wenn die Krankheit so schlimm und gefährlich ist, Hand, Fuß, Ohr oder Augen abnehmen und entfernen muss, um den Körper zu retten.“

Weil Gott ja selbst, wie der Reformator glaubt, der Obrigkeit das Schwert überreicht hat (Römerbrief 13), gilt:

„[D]ie Hand, die das Schwert führt und tötet, ist dann auch nicht mehr eines Menschen Hand, sondern Gottes Hand, und nicht der Mensch, sondern Gott henkt, rädert [sic!], enthauptet, tötet und führt den Krieg. Das alles sind seine [Gottes! p.b.] Werke und sein Gericht.“

Aus dem Vergleich mit dem Medizinerhandwerk folgert Luther:

„Man darf beim Soldatsein nicht darauf sehen, wie man tötet, brennt, schlägt und gefangen nimmt usw. Das tun die ungeübten, einfältigen Kinderaugen“,

sondern man muss

„auch dem Amt des Soldaten oder des Schwertes mit männlichen Augen zusehen, warum es so tötet und grausam ist. Dann wird es selber beweisen, dass es ein durch und durch göttliches Amt ist und für die Welt so nötig und nützlich wie Essen und Trinken oder sonst ein anderes Tun.“

Bei ihrem Kriegsdienst sollen die Soldaten –

„nicht als Christen, sondern als Glieder und als untertänige, gehorsame Leute, dem Leibe und dem zeitlichen Besitze nach“ – „der Obrigkeit gehorsam sein (Titus 3,1)“.

Die Obrigkeit darf für ihre Kriege Söldner verdingen, deren Broterwerb das Kriegshandwerk ist; diese dürfen aber nicht habgierig sein und auch keine Lust an dem von ihnen ausgeführten Töten verspüren. Wenn die obrigkeitlichen Legitimationsfragen [gemäß Luthers Staatsideologie] geklärt sind,

„dann ziehe vom Leder und schlage dazwischen in Gottes Namen“!

Nicht nur friedenskirchlich ausgerichtete Christ*innen machen größte Bedenken geltend, nach den Abgründen der neuzeitlichen Gewaltgeschichte und angesichts des zivilisatorischen Ernstfalls im dritten Jahrtausend die lutherische Staats- und Kriegsideologie – einschließlich der enthaltenen Rechtfertigung von individueller wie kollektiver (d.h. militärischer) Todesstrafe – noch immer im Friedensdiskurs der Gemeinde Jesu heranzuziehen. Auch innerreformatorisch wurden Abweichler – wie die Rückkehrer zur frühchristlichen Gewaltfreiheit – durch Luthers Voten zur Ermordung freigegeben.

Wenn der Reformator Menschen vor Augen hatte, die ihm zutiefst nicht behagten, konnte er sich – z.T. ohne Selbstkorrektur – in grenzenlosen Gewaltphantasien verlieren. Seine Ausbrüche gegen Juden und Türken mögen „zeitbedingt“ sein – genauso „zeitbedingt“ wie die fatalen Schriften über den Staatsgehorsam, welche 1939-1945 selbst die regimekritischen Lutheraner aus der Bekennenden Kirche (trotz „Barmen“!) mehrheitlich zu einer aktiven Beteiligung an Hitlers Völkermordkrieg gen Osten bewegten.

Ich weiß durch die jüngste Zuschrift eines ehemaligen Tübinger Kommilitonen, dass Luthers Version der nachkonstantinischen „Zwei-Schwerter-Lehre“ manchen Pastoren noch immer als verbindlicher Bekenntnisartikel gilt. Doch bei einigen Ausführungen im Buch von Rink musste ich doch schlucken:

„Als gläubiger Protestant habe ich mich quasi von Kindesbeinen an mit Luther beschäftigt. Doch gerade in meiner Funktion als Militärbischof sind mir seine Schriften eine wertvolle Referenz und bei aktuellen Fragen von Krieg und Frieden eine stete Orientierungshilfe. Ich bin immer wieder fasziniert davon, mit welcher Weitsicht und Trennschärfe Luther als Kirchenmann im von Gewalt beherrschten Spätmittelalter auf die Kriegsproblematik blickte.“

Da der Militärbischof auf den nachfolgenden Seiten sich die wesentlichen staatstheologischen Pfeiler von Luthers Kriegsschrift des Jahres 1526 zur Norm setzt, sehe ich Anlass zu Besorgnis. Vorab wird wahrlich euphemistisch konstatiert: „Luther war kein bedingungsloser Pazifist“ – und den Lesern suggeriert, Luther habe bezüglich religiöser Fragen tötende Gewalt nicht befürwortet, was ja historisch keineswegs zutrifft.

Der weitere Gang: Die Menschen sind in dieser unerlösten Welt „unweigerlich Sünder“; es gibt eine – gemäß Augsburger Bekenntnis – „von Gott legitimierte staatliche Gewalt“; diese trägt nach Ausweis von Römerbrief 13 zu Recht die Schwertgewalt, und wenn sie diese zum maßgeblichen – löblichen – Kriegszweck gemäß Luthers Schrift einsetzt (Verteidigung nur zum Schutze des Nächsten!), ist das militärische Agieren ein „Notwehrakt der Nächstenliebe“.

Luther als R2P-Ahnherr?

Sigurd Rink will die aus seiner Sicht überzeugendsten Kapitel der Kriegsschrift Luthers so heranziehen, dass der Reformator zum Ahnherr einer – faktisch allerdings doch wieder vorrangig militärisch gedachten – „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect, R2P) werden kann. Man muss zugeben, auf diese Weise hätten lutherische Kriegstheologen in der Geschichte nicht die Abgründe der nationalen und dann völkischen Kriegsdoktrin – zur Sicherung der „Lebensgrundlagen“ des auserwählten deutschen Volkes – betreten können.

Gesetzt den Fall, die selektive Berufung des Militärbischofs auf Luthers Traktat kann als authentische Interpretation des Reformators gelten: Zu überprüfen bleibt dann, ob dieser Ansatz innerhalb der Welt, in der wir leben, ein tauglicher Beitrag sein kann. Schon auf der evangelischen „Militärseelsorge“-Synode 1957 wurden Zweifel laut, ob man Luthers Schrift dem Soldaten in einer atomar bewaffneten Armee empfehlen darf. Martin Luthers ‚gerechter Krieg‘ (aus Liebe) ist „ein kleiner, kurzer Unfriede, der einem ewigen, unermesslichen Unfrieden wehrt, ein kleines Unglück, das einem großen wehrt“.

Was hat das nun aber mit einem militarisierten Weltgeschehen zu tun, das mittels totalitärer neuer Militärtechnologien den demokratischen Diskurs auf unserem Globus aus den Angeln hebt und in dem ein jeder – wie eh und je – seine geostrategisch und ökonomisch motivierten Militäraktivitäten als „Notwehrakte der Liebe“ deklariert?

Was auch hat die schöne Lutherformel mit all den von Rink besichtigten Kriegsschauplätzen zu tun, die als „kleine, kurze Interventionen“ begonnen haben und regelmäßig zu „unermesslichen“ Endlos-Kriegen ausgewachsen sind? Es gilt, was Rink so ausdrückt: „Das zum Frieden mahnende Zeugnis der Kirche fruchtet nämlich nur dann politisch, wenn es der komplexen Realität gewachsen ist.“

Ehrliche Mitteilung eigener Ratlosigkeit

Es sei nachdrücklich vermerkt: Militärbischof Rink übt sich – fernab von etwaigen Unfehlbarkeitsansprüchen – als Buchautor in größter Demut:

„Ich kann und will in diesem Buch keine Antworten geben. Stattdessen möchte ich mich meinen Zweifeln aussetzen, möchte meine Position hinterfragen, mein Gewissen schärfen“ (S. 28).

„Würde ich als Pragmatiker und Verantwortungsethiker, als der ich mich inzwischen verstehe, klare Grenzen erkennen und benennen […]? Drohen auch meine Konturen zu verschwimmen?“ (S. 50)

„Das Zugeständnis, dass militärische, rechtserzwingende Gewaltanwendung im äußersten Fall legitim sein kann, birgt die Gefahr, dass sich ethische Maßstäbe abschleifen und nur noch eine militärische Logik nachvollzogen wird. Armeeangehörige, aber auch Militärseelsorger mitsamt ihrem Militärbischof sind immer wieder von dieser Versuchung bedroht.“ (S. 109)

„Manchmal frage ich mich, wenn ich mich mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr beschäftige […], ob ich nicht schon abgestumpft bin, den Krieg als Realität akzeptiert habe und militärische Gewalt nicht mehr als die zwangsläufig Tod, Leid und Zerstörung bringende, unbedingt zu vermeidende Ausnahme betrachte“ (S. 209).

Ich lese solche Passagen im Buch als Hilferuf und auch als entscheidenden Anknüpfungspunkt für einen Dialog zwischen dem Autor und jener friedenskirchlich ausgerichteten Christenheit, die den Illusionskomplex des Militärischen als unvereinbar mit einem zukunftsträchtigen Zivilisationskurs der menschlichen Gattung bewertet. Wer Ratlosigkeit, Zweifel und Widersprüche angstfrei zur Sprache bringt, begibt sich auf den besten aller denkbaren Wege.

Der Bruder Militärbischof mag mir verzeihen, dass ich an dieser Stelle ungehalten bin über die inkonsequente Durchführung des Ansatzes. In meinen Augen gibt es an vielen Stellen des Buches folgende Struktur der Darstellung: Zunächst kommen auf recht fundierte Weise Einsprüche wider die Militärlogik sowie Kritik am (vorgeblichen) Sinn eines militärischen „Projektes“ zur Sprache. Es folgt aber sogleich die staatsprotestantische Widerrede. Im Hintergrund vermeint man eine Stimme zu hören: Es kann ja gar nicht sein, dass die staatstragenden Kreise in unserem Land mit ihrem militärischen Programm falsch liegen und in Wirklichkeit genauso ratlos sind hinsichtlich der von ihnen zu verantwortenden Militärunternehmungen wie „alle anderen“.

An dieser Stelle angelangt, komme ich als Leser ins Rutschen, weil im Buch statt einer fassbaren Standortbestimmung oder einem Fazit zu den gesichteten Widersprüchen nur ‚pastorale‘ Appelle erfolgen – mit dem Tenor: ‚Alles ist fürchterlich komplex. Man kann nie wissen. Das Militärwesen hat aber trotz alledem unsere Solidarität verdient!‘

Das Paradigma „Gewaltfreiheit und Gerechter Frieden“ fehlt

Bereits 1990 hat die Ökumenische Weltversammlung von Seoul die nach 1945 erfolgte weltkirchliche Ächtung des Krieges konkretisiert durch ihr Grundsatzvotum für aktive Gewaltfreiheit. Aufgrund seines Irlands-Friedenseinsatzes in jungen Jahren wird Rink mit dem Lebenswerk der weltweit engagierten Nobelpreisträgerin Mairead Corrigan-Maguire vertraut sein.

Sie hat uns 2016 auf der Internationalen katholischen Konferenz „Nonviolence and Just Peace“ im Einklang mit den Erfahrungen aller aus „Krisengebieten“ angereisten Teilnehmer*innen den Ausgangspunkt jeder realistischen Friedensarbeit auf dem Globus so zugesprochen:„Violence doesn’t work!“

Das Buch „Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict“ von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan gehört zu jenen Studien, die aufzeigen, wie erfolgreich aktive Gewaltfreiheit im Gegensatz zu militärischen Abenteuern ist. Der Papst hat 2017 zu einem durchgreifend neuen Politikstil der Gewaltfreiheit aufgerufen. Die Geschwister in der Badischen Landeskirche wollen die herrschende Untätigkeit nicht länger ertragen und legen konkrete Vorschläge – nebst Zeitplan – vor, wie der Umstieg auf Friedenspolitik gelingen kann.

2019 verständigen sich die christlichen Friedensbewegungen unter dem Leitmotiv ‚Friedensklima‘ mit der jungen Generation, die unter Beifall der gesamten Wissenschaftselite kompetenter als die Spitzen der etablierten Politik die „Klimakrise“ beleuchtet und nunmehr sieht, dass die Kriegsapparatur alle Prozesse zum Guten hin blockiert.

Von all dem findet man im Buchessay von Sigurd Rink nichts. So kann darin das ewig alte bzw. ewig neue Bild konstruiert werden, der Pazifismus sei eine gesinnungsethische „Außenseiterposition“, die „sich aus allem heraushalten“ mag, „keine Verantwortung übernehmen und sich nicht die Hände schmutzig machen“ muss und „gleichzeitig das Treiben der anderen mit dem moralisch reinen Blick der Unbeteiligten“ verurteilt – auf Deutsch übersetzt: Drückeberger.

Als Domäne der gewaltfreien Christinnen und Christen erscheinen die Bespiegelung des eigenen „Gutseins“ und das Nichtstun, welches sich nicht dafür einsetzen will, „dass die Erde ein bisschen weniger Hölle ist“. Rink schreibt freilich selbst: „Gewalt ist die allerschlechteste Antwort auf einen Konflikt“. Gegen die Position, dass Kriegsgewalt noch nie eine annehmbare Antwort und taugliche Lösung war, gibt es auch bei ihm keine ‚empirischen Argumente‘.

So kann Rink auch kein einziges Interventionsbeispiel in seinem Essay anführen, das gemessen an Anspruch und vorgeblichen Zielen der „Weltordner“ als „erfolgreich“ bezeichnet werden kann. Martin Luthers altruistischer „Notwehrkrieg der Nächstenliebe“ ist in unserer Welt nirgendwo ansichtig. Der militärische Heilsglaube stellt – wie gehabt – unentwegt seinen Bankrott unter Beweis.

Deshalb votiert die Christenheit heute – mit Ausnahme der nationalreligiösen Kulturchristen und Fundamentalisten – dafür, die geistigen, seelischen, kulturellen, wissenschaftlichen, technologischen und materiellen Reichtümer unserer Menschenwelt diesem Komplex vollständig vorzuenthalten, stattdessen aber jenen Strategien einer gewaltfreien und solidarischen Verhinderung bzw. Lösung von Krisen zuzuführen, die nachweislich funktionieren.

Auffällige Leerstellen: Drohnenkrieg, (atomare) Rüstung und Militärdoktrin

Der „Krieg der Zukunft“ wird von Rink kritisch gesehen: Die extralegalen Hinrichtungen durch bewaffnete – wohl sehr oft von Deutschland aus gesteuerte – US-Drohnen bewertet er als kontraproduktiv, den Einsatz autonom agierender Waffensysteme („künstliche Intelligenz“) lehnt er ab. Wenn die Weltgesellschaft dem Rad nicht in die Speichen greift, werden die „autonomen Systeme“ freilich kaum noch aufzuhalten sein.

Was im Buch nicht zum Tragen kommt, ist ein ausgeprägtes Bewusstsein für die totalitären Potenzen moderner Kriegstechnologien, die schon in naher Zukunft „multilaterale“ – also demokratische, kommunikative und kooperative – Prozesse auf dem Globus schier unmöglich machen könnten.

Aus dem Drama der Aufkündigung des INF-Vertrages 2019 schließt der Verfasser, „dass Atomwaffen als ultimatives Abschreckungsmittel noch immer nicht ausgedient haben, doch technologisch sind sie kaum mehr zeitgemäß“. Diese lapidare Abhandlung des Themas kommt einer Befürwortung oder zumindest weiteren Duldung der atomaren Bewaffnung gleich. Dem Militärbischof dürfte aber kaum verborgen sein, dass derzeit an „zeitgemäßen“ – und insbesondere auch leichter einsetzbaren – Nuklearwaffen gearbeitet wird und hierbei im Rahmen eines neu aufgelegten atomaren Wettrüstens Kosten in astronomischer Höhe anstehen.

Rein gar nichts wird im Buch des Militärbischofs ausgeführt zur neuen Qualität der Ächtung schon der Infrastruktur atomarer Massenvernichtung auf Ebene der UNO und im weltkirchlichen Diskurs, zum skandalösen Agieren der deutschen Bundesregierung im Sinne der Atombombenbesitzer (und der eigenen völkerrechtswidrigen „Teilhabe“ an der Bombe), zur zivil-militärischen Zusammenarbeit in der Atomindustrie (Gronau), zum Fortdauern der NATO-Erstschlagoption, zur Nuclear Posture Review (USA 2018) und zu den in Deutschland stationierten Atomwaffen, für die Deutschland neue Flugzeuge beschaffen will und die im ‚Ernstfall‘ von Soldaten bedient werden, für deren Seelenheil der Militärbischof Verantwortung trägt.

Ganz ausgespart bleibt ebenfalls der rüstungsindustrielle Komplex Deutschlands, der im Weltvergleich einen Spitzenplatz einnimmt, seit Jahrzehnten Kriegsgüter exportiert, die dem Unfrieden in aller Welt dienen, und nicht zuletzt Voraussetzung dafür ist, durch Waffenlieferungen (anstelle von Soldatenentsendungen) deutschen Einfluss in fernen Ländern zu sichern.

Der u.a. von den USA unterstützte Krieg einer von Saudi-Arabien angeführten Militärallianz im Jemen hat eine der größten „humanitären Katastrophen“ der Gegenwart herbeigeführt. (Dies spielt in deutschen Medien kaum eine Rolle. Im Buch werden dem Schauplatz Jemen auf S. 119 fünf Wörter gewidmet.) Erst aufgrund eines Beschlusses des italienischen Parlaments kann eine Tochter des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall, dessen Kriegsprofite stetig steigen, seit Sommer 2019 keine Mordbomben mehr für den Einsatz im Jemen liefern.

Inzwischen gehört es gleichsam zur Staatsräson, dass die eigene Militärdoktrin mit der Sicherung geostrategischer und geo-ökonomischer Machtinteressen, mit Rohstoffsicherung, mit freien Märkten, Meeren und Handelswegen sowie mit der Abwehr (!) von Flüchtlingen aus Elendsregionen zu tun hat. Spätestens ab 2006 haben tausende Christinnen und Christen von unten die großen Kirchen in einer Ökumenischen Erklärung aufgerufen, eine solche Militarisierung der deutschen Politik öffentlich anzuklagen.

In ihrem Schreiben vom 1. September 2015 fordern die evangelischen und katholischen Friedensorganisationen gemeinsam alle Kirchenleitungen im Lande zu einer öffentlichen Klarstellung darüber auf, dass Zielvorgaben zur geostrategischen und ökonomischen Interessenssicherung in Militärplanungen schon mit dem Minimalkonsens der ökumenischen Friedensethik unvereinbar sind. Der Komplex der Militärdoktrin ist zentral für die von Rink bearbeitete Frage „Können Kriege gerecht sein?“, doch er schweigt sich in seinem Buch hartnäckig über dieses Thema aus.

Positiv anzumerken ist, dass der Militärbischof in seinen Ausführungen den ökumenischen Konsens zur Solidarität mit allen Flüchtlingen teilt und zumindest ein Problembewusstsein bezüglich der Militarisierung des Migrationskomplexes erkennen lässt. Bezogen auf die konfrontative NATO-Politik gegenüber Russland werden mögliche ‚Fehler‘ des Westens immerhin in Erwägung gezogen und – auch vor dem Hintergrund einer abgründigen Geschichte – die Gefahren einer Eskalation benannt.

Militärbischöfliche Assistenz für die Aufrüstung des Militärapparates

Namhafte Stimmen auch aus dem bürgerlichen Spektrum warnen in diesem Jahr verstärkt vor einer Aufrüstungsspirale sondergleichen, die freilich schon längst entfesselt ist. Militärbischof Rink beschreitet den gegenteiligen Weg, indem er für eine Erhöhung der deutschen Militärausgaben plädiert: „Um gleichwertiges Mitglied multilateraler Bündnisse zu sein, das den Erfordernissen der gegenwärtigen Welt gerecht wird, fehlt es der Bundeswehr erheblich an Personal und Ausstattung.“ Dies sei einer „gewollten jahrelangen Schrumpfung der Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges“ geschuldet, und „in der stiefmütterlichen Behandlung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ sei ein „Verdrängungswunsch am Werk“.

Dies ist nahezu der Originalton der Aufrüstungspropheten. Rink wünscht für die europäischen Länder, „dass die USA an ihrer Seite bleiben“: Dafür „müssen sie ihren Beitrag zum Verteidigungsetat der NATO stabilisieren … Das ist ohnehin längst überfällig, um den USA Bündnispartner auf Augenhöhe zu sein – und erst recht nötig […], sollten die NATO-Länder gezwungen sein, ohne die USA ein europäisches Verteidigungsbündnis zu stärken.“

Dass in diesem Kontext via Nebensatz auch Investitionen „in Krisenprävention und Wiederaufbau“ gefordert werden, überzeugt nicht. Denn Rink klärt seine Leserschaft nicht über die real existierenden Weltverhältnisse auf: Die globalen Budgets für humanitäre und friedensfördernde Aufgaben ohne Militäreinbindung verhalten sich zum „Weltrüstungshaushalt“ lediglich wie eine kleine Portokasse.

Bundeswehrsoldaten in Königstein, Foto: Henry Mühlpfordt (Flickr), CC BY-SA 2.0

„Mehr Personal“ für die Bundeswehr lautet die Forderung, aber die willigen Bewerber bleiben aus. Eine allgemeine Wehrpflicht würde besser zu einem von Luther abgeleiteten Ideal des „Staatsbürgers in Uniform“ passen als – vorzugsweise aus dem Kreis der Benachteiligten rekrutierte – Berufssoldaten oder Söldner aus jenem ökonomisierten und privatisierten Kriegskomplex, dessen Anwachsen Rink durchaus mit Sorge betrachtet.

Das Plädoyer des evangelischen Militärbischofs für eine Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht kann keinem Leser des Buches verborgen bleiben; die Chancen für eine Verwirklichung dieses Ansinnens schätzt der Verfasser allerdings selbst denkbar gering ein.

Die Militärseelsorge als „Zukunftslabor der Kirche“?

Militärseelsorge ist in den Augen von Rink heute kein Instrument mehr zur Bändigung ungehorsamer Soldaten, sondern: eine „Zwillingsschwester der Inneren Führung“ (sic!), gleichwohl ein staatsunabhängiges „Fenster zur Zivilgesellschaft“; einzige Sachwalterin des Beichtgeheimnisses; nicht dafür zuständig, „die Soldaten von der Sinnhaftigkeit ihrer Einsätze zu überzeugen“; raumgebend für Zweifel und „für das Nachdenken über das Nichtwissbare und Unberechenbare“; Hüterin von „Ressourcen christlich-religiöser Tradition“ und sogar „so etwas wie ein ‚Zukunftslabor der Kirche‘“.

Verständlich ist das Bemühen, die Arbeit der Militärseelsorge gegenüber dem Bundesministerium, dem das Militärbischofsamt zugeordnet ist, und gegenüber der z.T. kritischen Kirchenöffentlichkeit in ein freundliches Licht zu stellen. Kritische Forschungen zur wirklichen „Reichweite“ der Seelsorge des Militärkirchenwesens bleiben unberücksichtigt.

Glaubhaft vermittelt wird der Vorsatz einer „Seelsorge für die Schwächsten, die Einsatzgeschädigten“, die „Opfer unter dem Rad zu verbinden“. Wenn zukünftig im öffentlichen Diskurs auch noch die empirischen Daten zum ganzen „Ausmaß der psychischen Verheerungen“ hinzutreten und betroffene, kriegstraumatisierte Soldaten selbst mit Hilfe der Militärseelsorge zu Wort kommen, könnte daraus ein gesellschaftlich wirksamer Einspruch werden.

Mit Logik unvereinbar ist es allerdings, wenn Rink suggeriert, die in der Bevölkerung zunehmende Ablehnung des „Afghanistan-Einsatzes“ sei gleichbedeutend mit einer Verweigerung von „Aufmerksamkeit und Verständnis“ für die „schwerst traumatisierten Kriegsveteranen“. Das genaue Gegenteil liegt ja der Ablehnung zugrunde. Das Buch endet mit einem militärbischöflichen Predigtappell, welcher die Leser einem imaginären „Wir“ einfügt:

„Deutschland ist weltweit an militärischen Einsätzen beteiligt […]. Das militärische Engagement der Bundeswehr geschieht in unser aller Namen, in der Verantwortung der deutschen Gesellschaft. Wir müssen diese Verantwortung wahrnehmen.“ (S. 279)

Gegenüber diesem Wort der evangelischen Militärkirchenleitung sei klargestellt, dass das sogenannte deutsche Militär-„Engagement“ samt Entsendung von Soldaten, Aufrüstung und unverantwortlicher Rekrutierungspropaganda keineswegs im Namen der friedenskirchlich ausgerichteten Christinnen und Christen erfolgt. „Wir“ halten den Militärapparat für ein esoterisches Gefüge, dessen Heilsversprechen einer rationalen – wissenschaftlichen – Überprüfung nicht standhalten und weltbrandgefährlich sind.

Weiterführende Lektüre

Peter Bürger fungiert neben anderen Autor*innen und Forscher*innen als Herausgeber zweier Bücher zur Militärseelsorge, die in Kooperation mit dem Ökumenischen Institut für Friedenstheologie entstanden sind: Der Band „Im Sold der Schlächter“ führt Texte zur Militärseelsorge im 2. Weltkrieg zusammen. Neu erschienen ist außerdem „Die Seelen rüsten – Zur Kritik der staatskirchlichen Militärseelsorge“. Beide Bücher können bei BoD bestellt werden und sind im Buchhandel erhältlich.


Den Artikel von Peter Bürger haben wir für die Veröffentlichung in der Eule gekürzt. Sie finden eine vollständige Fassung der Rezension, inkl. zahlreicher Fußnoten, hier.