Wer war Maria Magdalena wirklich?

Bis heute inspiriert Maria Magdalena Gegenentwürfe zu einer patriarchalen Kirche. Neue Erkenntnisse über die Enstehung des Johannesevangeliums stellen alte Deutungen ihrer Figur in Frage.

Wie viele Figuren gibt es im Neuen Testament, die sich den Namen “Maria” teilen? Diese Frage ist auch für sehr bibelfeste Christen überraschend schwer zu beantworten. Aber woran liegt das?

Am bekanntesten ist wohl Maria, die Mutter Jesu. Die nächstbekannte ist gewiss Maria Magdalena, die Jüngerin Jesu, die ihn mit ihrem Besitz unterstützte und später die erste Zeugin der Auferstehung wurde. Aber dann gibt es ja noch eine Maria aus Bethanien, eine Schwester von Lazarus, die Jesus die Füße mit ihrem Haar trocknete, und auch noch eine Maria, die eine Schwester namens Martha hat und lieber bei Jesus sitzt als Ihrer Schwester beim Haushalt zu helfen. Wie diese verschiedenen Marias aber genau zusammenhängen und ob sie vielleicht sogar teilweise die gleiche Person sind, bleibt selbst für fleißig Bibellesende unklar.

Neuere Forschungen im Bereich der neutestamentlichen Quellenkritik deuten darauf hin, dass diese Unklarheiten nicht etwa nur ein Problem von modernen Leserinnen und Lesern sind, sondern in den Texten selbst schon angelegt sind.

Wer tiefer einsteigt in die Frage, wer die Maria Magdalena im Neuen Testament war, vor dem entspinnt sich ein regelrechter exegetischer Krimi voll von Missverständnissen, Täuschungsmanövern und Rufmord. Denn quer durch die Kirchengeschichte lassen sich bis hin zu den frühesten uns bekannten Abschriften der Evangelien Spuren des Ringens um die Deutungshoheit über Maria Magdalena finden. Vieles deutet darauf hin, dass der große Einfluss dieser Maria im Neuen Testament einigen in der frühen Kirche ein Dorn im Auge war. Es finden sich zahlreiche Spuren von Versuchen, ihre Rolle im Leben Jesu kleinzureden und zu vertuschen.

Eine wichtige Protagonistin in diesem exegetischen Krimi ist die amerikanische Theologin Elizabeth Schrader. Schrader hatte eigentlich eine erfolgreiche Karriere als Singer-Songwriterin “Libbie Schrader” am Laufen, als sie 2010 ein Lied über Maria Magdalena schrieb. Davon inspiriert stellte sie Nachforschungen über die historische Maria Magdalena an. Schließlich entschloss sie sich dazu, ihre Musikkarriere an den Nagel zu hängen und ein Theologiestudium zu absolvieren, um ihre Forschung zu vertiefen. Und dies tat sie mit einigem Erfolg: Ihre Masterarbeit wurde 2017 in der renommierten „Harvard Theological Review“ veröffentlicht.

Maria aus Magdala oder Maria der Turm?

Der Krimi beginnt schon beim Namen Marias: Als “Maria von Magdala” ist sie vielen bekannt. Magdala ist der Name eines kleinen Fischerdorfs in Galiläa, wo bis heute ergiebige Ausgrabungen aus biblischer Zeit stattfinden, wie die Jerusalem Post letztes Jahr berichtete. Also, so die gängige Meinung, gibt Marias Beiname ihre Herkunft an, wie es zur damaligen Zeit nicht unüblich war.

Diese Theorie hat jedoch bei genauer Betrachtung einige Schwächen. Elizabeth Schrader wies zuletzt 2021 in einem Aufsatz gemeinsam mit Joan E. Taylor, einer Theologieprofessorin am King’s College in London, auf einige davon hin. Zum einen gebe es nirgendwo im Neuen Testament oder in zeitgenössischen Quellen eine Erwähnung eines Ortes mit diesem Namen. Die Namenszuschreibung des heutigen Ortes sei frühestens seit dem 6. Jahrhundert belegt, also ein halbes Jahrtausend später.

Stattdessen schlagen Schrader und Taylor eine andere Theorie vor: “Magdalene”, wie es im griechischen Original heißt, sei kein Ortsname, sondern ein Ehrentitel: Bei einigen wichtigen frühchristlichen Autoren finden sich Hinweise darauf, dass Maria wegen ihres Glaubens und ihrer Taten “Maria die Erhabene” oder “Maria der Turm” genannt wurde, nach dem hebräischen Wort “Migdal”, das “Turm” bedeutet.

Diese Deutung gibt der Figur der Maria im Neuen Testament insgesamt mehr Gewicht. Nicht nur ist sie die (katholische) “Apostelin der Apostel”, die den verzagten Jüngern als erstes von der Auferstehung berichtet, sie trägt einen Ehrennamen, der an Simon “den Fels” Petrus denken lässt, den engen Jesus-Vertrauten und ersten Kirchenführer. Spielte Maria Magdalena eine ähnliche Rolle für die ersten Christen? Und vor allem: Warum war dies wenige hundert Jahre später fast völlig in Vergessenheit geraten?

Wie Maria zu Martha wurde

Hier kommen wir wieder zurück auf Elizabeth Schraders Masterarbeit. In dieser detaillierten textkritischen Untersuchung mit dem Titel “Was Martha of Bethany Added to the Fourth Gospel in the Second Century?” fördert Schrader weitere Indizien dafür zu Tage, dass es kein reiner Zufall war, dass das wahre Ausmaß der Rolle, die Maria Magdalena im frühen Christentum spielte, heute kaum noch bekannt ist.

Schrader untersucht die bekannte Geschichte von der Auferweckung des Lazarus aus dem 11. Kapitel des Johannesevangeliums. Dort wird von Lazarus und seinen zwei Schwestern Maria und Martha erzählt . Lazarus ist schwer krank, und Martha reist zu Jesus, um ihn darum zu bitten, ihrem Bruder zu helfen. Als Martha bei Jesus ankommt, weiß dieser bereits, dass Lazarus inzwischen gestorben ist. Aber er kündigt an, ihn auferwecken zu wollen.

In dieser Situation sagt Jesus den wahrscheinlich wichtigsten Satz im ganzen Johannesevangelium, nämlich, “Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt” (Joh 11,25). Und Martha antwortet darauf mit dem zentralen Bekenntnis, “Ja, Herr, ich glaube, daß du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.” (Joh 11,27). Nur eine andere Figur im Johannesevangelium bekommt eine ähnlich wichtige Aussage in den Mund gelegt, nämlich der Apostel Petrus (Joh 6,69).

Schon manchmal wurde in der Theologiegeschichte darüber gerätselt, warum ausgerechnet Martha, eine Figur, die sonst überhaupt keine Rolle spielt, im Johannesevangelium mit dem Apostel Petrus auf eine Stufe gestellt wird. Und schon lange gab es Theorien darüber, dass mit dieser Geschichte etwas nicht stimmen könnte.

Schrader weist nun sehr eindrücklich nach, dass diese Geschichte ein gewaltiges Problem hat. An mehreren wichtigen Textzeugen zu diesem Text zeigt sie deutliche Hinweise auf “Instabilität” auf. Die Geschichte, wie sie uns heute überliefert ist, wurde über die Jahrhunderte wieder und wieder abgeschrieben, um sie zu erhalten.

Einige dieser sehr alten Handschriften sind uns noch in Fragmenten erhalten. Schrader hat diese Texte genau studiert und mehrere Stellen gefunden, an denen deutlich zu erkennen ist, wie das Wort “Maria” zu “Martha” korrigiert wurde, was im Griechichen nur ein Buchstabe Unterschied ist. Das “i” wurde ausgekratzt und ein “th” darübergeschrieben. Schraders Arbeit enthält Fotos von Manuskripten, in denen diese Änderungen deutlich zu erkennen sind, selbst für Laien.

Ausschnitt aus Schrader: „Was Martha of Bethany Added to the Fourth Gospel in the Second Century?“, Seite 6. Deutlich zu erkennen ist das am Ende getilgte griechiche Iota und das darüber ergänzte Theta, wodurch „Maria“ zu „Martha“ wird

Ein weiterer Ausschnitt aus Schrader: „Was Martha of Bethany Added to the Fourth Gospel in the Second Century?“, Seite 8. Auch hier ist in der Handschrift unter dem griechischen Theta, das ehemalige Iota zu erkennen, bevor „Maria“ zu „Martha“ wurde.

Aus diesen und zahlreichen weiteren textkritischen Auffälligkeiten gelingt es Schrader, eine Version von Johannes 11 zu rekonstruieren, in der es überhaupt keine Martha gab, sondern in der Lazarus nur eine Schwester hatte: Maria von Magdala. Und diese Maria war eine enge Freundin von Jesus und eine der ersten Menschen, die dessen wahres Wesen erkannten.

Elizabeth Schrader vermutet, dass die Autoren, die Maria aus Johannes 11 herausradiert haben, nicht in böser Absicht gehandelt haben, sondern selbst schon verschiedene Versionen der Lazarus-Geschichte vorliegen hatten und verwirrt und unsicher waren, welche Version nun korrekt sei.

Nun lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, warum es diese zwei Varianten von Johannes 11 gab. Schrader plädiert dafür, dass die Version ohne Martha die ältere ist, und dass die plausibelste Absicht hinter der geänderten Fassung ist, die Rolle der Maria im Johannesevangelium zu mindern – und insbesondere das wichtige christologische Bekenntnis aus Joh 11,27 nicht Maria Magdalena über die Lippen kommen zu lassen.

Wenn das stimmt, wäre das ein Indiz dafür, dass die Rollenverteilung von Petrus und Maria in der frühen Kirche alles andere als unumstritten war.

Turm gegen Fels

Es gibt weitere gute Gründe anzunehmen, dass es im frühen Christentum handfeste Konflikte zwischen Lagern gab, die sich zumindest an den zwei Polen Simon Petrus und Maria Magdalena ausrichteten. In zahlreichen gnostischen Texten wird ausführlich über Konflikte, Misstrauen und Neid zwischen Maria Magdalena und Petrus und den anderen männlichen Jüngern berichtet.

In dem auf das 2. Jahrhundert datierte “Evangelium der Maria” lässt Petrus offen am Zeugnis der Maria zweifeln: “[E]r [der Erlöser] hat doch nicht etwa mit einer Frau heimlich vor uns, nicht öffentlich, geredet? […] Hat er sie mehr als uns erwählt?” (zitiert nach Tobias Nicklas) Noch härtere Worte werden Petrus im apokryphen Thomasevangelium um 350 n. Chr. in den Mund gelegt. Dort heißt es: “Simon Petrus sprach zu ihnen: ‘Maria soll von uns weggehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht wert.’”

Aufgrund ihrer späten Enstehung haben diese Texte kaum einen Wert für die historische Rekonstruktion des Verhältnisses von Maria und Petrus. Allerdings sind sie ein verlässlicher Beleg dafür, dass es zur Zeit der Tradierung der neutestamentlichen Texte gravierende Konflikte zwischen Anhängern der orthodoxen “Petrinischen” Kirche und gnostischen Marien-Sympathisanten gab. Konflikte, die möglicherweise auch über Manipulationen bei der Tradierung von Texten wie Johannes 11 ausgefochten wurden. Denn wer den Inhalt heiliger Texte bestimmt, der bestimmt, was zukünftige Generationen glauben werden.

Ein Befreiungsschlag für eine am patriarchat verreckende Kirche

Dank der Forschungsarbeit von Elizabeth Schrader und anderen ist die Figur der Maria Magdalena wieder neu ins öffentliche Bewusstsein zumindest unserer Generation gerückt.

Insbesondere Frauen, die sich im Raum der Kirchen engagieren, sind inspiriert und geradezu beflügelt vom Bild einer Maria, die mit den männlichen Autoritäten der Kirche ihrer Zeit auf Augenhöhe stand. Die christliche Historikerin und Autorin Diana Butler Bass sprach in einer vielbeachteten Predigt über die Forschung von Schrader:

What kind of Christianity would we have if the faith hadn’t only been based upon, “Peter, you are the Rock and upon this Rock I will build my church”? But what if we’d always known, “Mary, you are the Tower, and by this Tower we shall all stand?”

Wie würde das Christentum ausschauen, hätte der Glaube nicht allein auf „Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ geruht, sondern wir immer gewusst hätten: „Maria, Du bist der Turm, und bei diesem Turm werden wir stehen“?

Die evangelische Pastorin Birgit Mattausch schreibt auf evangelisch.de ähnlich über die Entdeckungen Schraders:

Wäre Maria der Turm ein signifikanter Teil meiner religiösen Sozialisation gewesen, wäre es ein Wert für fromme Mädchen gewesen, sichtbar zu sein, groß und mit Überblick – womöglich wären meine Liebesgeschichten anders verlaufen, mein Verhältnis zu meinem Körper wäre ein anderes gewesen, mein Verhältnis zur Welt, mein Verhältnis zu meiner Arbeit. Die ganzen internalisierten Botschaften vom Verkehrtsein, vom sich-kleiner-machen-Sollen, vom bitte nicht anstrengend sein, bitte dünner, dümmer, leiser, bitte immer smooth und lächeln nicht vergessen – vielleicht hätten sie keine oder zumindest viel geringere Chancen gehabt, wenn nicht irgendjemand Maria den Turm aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht hätte.

Die Forschung von Elizabeth Schrader reiht sich ein in eine Lange Linie der Arbeiten von Theologinnen und Theologen, die die vergessene Rolle von Frauen im frühen Christentum wieder in Erinnerung rufen möchten. So weisen zum Beispiel auch archäologische Befunde darauf hin, dass Frauen von Anfang an in der Kirche zentrale Aufgaben übernommen haben.

Wie die emotionalen Reaktionen auf Schraders Forschung zeigen, geht es bei diesen Bemühungen nicht nur darum, historische Ereignisse zu rekonstruieren. Es geht nicht allein darum, was damals “wirklich” geschah, sondern es geht um das Wesen der christlichen Kirchen heute, die in den Augen vieler an versteinerten, patriarchalen Strukturen leidet, und – man möchte sagen – zu verrecken droht.

Die Wiederentdeckung einer Maria Magdalena, die sich nicht der (katholisch: päpstlichen) Autorität des Petrus beugte, sondern als dessen Gegenüber Kirche gestaltete, kann vor diesem Hintergrund nur als Befreiungsschlag verstanden werden. Maria Magdalena ist ein Leuchtturm, ein Gegenentwurf zu einer Kirche, die auch heute noch Frauen und Mädchen ausschließt, klein redet und unsichtbar macht. Arbeiten wie die von Elizabeth Schrader, oder die oben zitierte Predigt von Diana Butler Bass, lassen diesen Turm heute wieder hell erstrahlen.

Literatur