Pfarrer Karsten Müller, Foto: EKM

„Ich bin neugierig auf die Zukunft“

Am 10. Mai wählt die Synode der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland eine*n neue*n Landesbischöf*in. Wir haben mit Bischofskandidat Karsten Müller, Pfarrer in Halle an der Saale, gesprochen:

Eule: Warum kandidieren Sie für das Bischofsamt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM)?

Müller: Ich bin gefragt worden, ob ich für eine Kandidatur zur Verfügung stünde. Das habe ich zunächst abgelehnt, weil ich mir das überhaupt nicht vorstellen konnte. Ich habe dann aber mit meinen Kindern, mit engen Freunden und mit meiner Partnerin darüber gesprochen. Die haben mir gut zugeraten. Dann habe ich gedacht: Gut, dann kann man es wagen. Ich habe mich in das Verfahren mit dem Gefühl hineinbegeben, in einer Außenseiterrolle zu sein.

Eule: An vielen Menschen geht der Großteil des Prozederes einer solchen Bischofswahl ja vorbei. Irgendwann gibt es dann halt Kandidat*innen, die der Öffentlichkeit präsentiert werden. Was geschieht bis dahin?

Müller: In diesem Fall gab es einen Bischofswahlausschuss mit um die 30 Mitgliedern, der die Wahlvorschläge vorbereitet hat. Zunächst gab es ein Gespräch mit der Findungsgruppe, später eine Vorstellung vor dem Ausschuss. Das waren ausgesprochen faire und angenehme Gespräche. Mal abgesehen davon, dass man sich als Kandidat immer so fühlt, als stünde man nochmal im theologischen Examen.

Eule: Über was wird denn da so gesprochen?

Müller: Es geht um die Frage, wie man das Amt auszuführen gedenkt. Es geht um theologische Positionen. Im Bischofswahlausschuss ging es auch um praktische Fragen, die die Amtsführung betreffen. Das geht alles querbeet. Ich hatte das Gefühl, dass wirklich gründlich geguckt wird, ob diese Menschen große Schnittmengen mit dem haben, was an Profilanforderungen vorher festgelegt wurde.

Eule: Sie sind Pfarrer einer Stadtgemeinde in Halle (Saale). Da gibt es junge Familien und ihre Gemeinde hat ein volles Programm. Welche Impulse nehmen Sie daraus mit für ein mögliches Bischofsamt?

Müller: Aus der Johannesgemeinde nehme ich die Erfahrung mit, dass in einer Kirchengemeinde Menschen mit ganz unterschiedlichen Frömmigkeitsstilen, aus allen Generationen, mit verschiedenen Glaubenswegen zusammenleben und ihren Glauben entfalten können. Das halte ich auch für die große Stärke einer Landeskirche, dass wir immer wieder versuchen aus einer bestimmten Verengung auszubrechen.

Das Vorurteil lautet ja oft: Kirche ist was für alte Leute. Hier ist es nicht so. Es gibt ein weites Spektrum. Ich nehme auch den Impuls mit, dass die Aufgabe einer Kirchengemeinde nach Innen gelingen kann, dass Menschen ihre Unterschiedlichkeit miteinander aushalten. Das heißt nicht, dass es keine Konflikte gäbe.

Eule: Zur Gemeinde gehören mit der Christuskirche und Halle-Diemitz auch zwei Predigtstätten, die ich sehr gut kenne. Wir haben als Student*innen dort viele Gottesdienste mit sehr kleinen Gemeinden gefeiert. Bischöfin Junkermann meinte einmal, dass Gottesdienste mit unter 10 Teilnehmer*innen nicht die Regel sein sollten. Was meinen Sie?

Müller: Als Anspruch formuliert, fand ich das damals gut. Mal ganz abgesehen davon, dass das eine „Karteileiche“ aus dem Papier „Gemeinde gestalten und stärken“ war, da stand das nämlich schon seit Ende der 1990er-Jahre drin. Wenn man das radikal durchziehen würde, fielen wohl die meisten Gottesdienste aus.

Ich finde, man muss situativ entscheiden. Hier bei uns gibt es in Diemitz eine für sich lebendige Gottesdienstgemeinde, die an die Zahlen herankommt. Und in Christus stirbt die Gottesdienstgemeinde tatsächlich aus. Die Leute, die noch da sind, sagen: Wir können auch in eine andere Kirche zum Gottesdienst fahren. Das geht hier in der Stadt natürlich leichter als auf dem Land.

Eule: Und was, wenn das nicht so einfach möglich ist?

Müller: Dann kommt es darauf an, kreative Lösungen zu finden. Wir haben versucht, die Christuskirche als Bürgerzentrum neu zu erfinden. Das ist aber an mangelnden Fördermitteln gescheitert. Nun wird die Kirche wohl als Archiv des Kirchenkreises genutzt werden, so dass wir die Christuskirche als Gottesdienststätte in absehbarer Zeit schließen werden. Das ist nicht meine Leib-und-Magen-Lösung, aber immer noch besser als gar keine.

Solange der Satz von zwei oder drei, die im Namen Jesu versammelt sind, kein Feigenblatt ist für Dinge, die nicht in Ordnung sind, hat er seine theologische Wahrheit. Für mich wird es da kritisch, wenn man sagt „Der HERR ist bei uns, weil wir zwei oder drei sind“, wenn so ein Minderheitsverklärungsdenken daraus wird.

Eule: Bei manchem Gottesdienst hatte ich schon das Gefühl, die Teilnehmer*innen sind noch nur gekommen, weil wir jungen Student*innen halt da waren, um den Gottesdienst zu halten.

Müller: In meiner ersten Gemeinde hatte ich in Kleinmangelsdorf – ja, so heißt das wirklich – eine kleine Kapelle mit 25 Gemeindegliedern. Da kamen Sonntags vierwöchentlich vier oder fünf Leute zum Gottesdienst. Das hat jeden EKD-Durchschnitt getoppt. Ein Fünftel der Gemeinde saß im Gottesdienst und ich habe mir immer gedacht: Diese fünf oder wir sechs beten und feiern stellvertretend für die anderen und haben dann noch den Luxus, uns von Gottes Wort ansprechen zu lassen.

Was man an so einer Situation lernen kann, ist Abschied zu nehmen. Für das Christusgemeindehaus in seiner ursprünglich gedachten Funktion gibt es keine Nutzung mehr. Wir nehmen davon bewusst Abschied. Da sind auch Tränen hilfreich, die es sicher geben wird, wenn Menschen wie in allen Trauerprozessen irrational reagieren. So etwas wird nicht zu vermeiden sein. Wer vor diesem Prozess die Augen verschließt, schwindelt sich selbst an.

Wir müssen vielmehr darüber nachdenken, wie wir unsere Kräfte in den kommenden Jahren sinnvoll einsetzen. Die Balance zwischen der Tradition und dem Neuen hinzukriegen, das ist die Herausforderung, die sich uns stellt. Oft genug fällt die Tradition schwerer ins Gewicht – „Das machen wir immer schon so!“. Ich bin einfach neugierig auf die Zukunft! Die Tradition sorgt für sich selbst, da muss man sich weniger Gedanken drum machen. Ich wünsche mir mehr Neugier auf neue Formen für unsere Kirche.

Eule: Ich habe manchmal den Eindruck, dass die evangelische Kirche trauert. Ist es die Aufgabe eines Bischofs, die Christ*innen zu trösten?

Müller: Ja, das ist eine wichtige Aufgabe in diesem Prozess. Aber jeder weiß auch, dass man nicht gut beraten ist, dabei stehen zu bleiben. Vom Kirchenjahr her gesagt: Nach Karfreitag und Karsamstag kommt Ostersonntag. Nach dem Tod kommt die Auferstehung. Jeder, der um einen Menschen trauert – und da spreche ich nicht theoretisch -, macht möglicherweise auch die Erfahrung, dass sich auch wieder neue Horizonte öffnen.

Wir sind sehr schnell dabei zu schauen, wie es irgendwie weitergeht. Unsere Strukturpläne machen wir häufig zu spät, nämlich erst dann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Dann ist keine Zeit mehr und es werden Stellen zusammengestrichen. Da würde ich mir wünschen, dass wir unserer Trauer mehr Raum geben, auch ganz offiziell.

Es macht uns traurig, dass die Situation so ist wie sie ist mit den sinkenden Mitgliedszahlen. Auf der anderen Seite überlegen wir aber nüchtern, wie wir Verhältnisse schaffen können, in denen wir unserem Auftrag gerecht werden. Ich finde es gut, dass wir das Ausprobieren zum Programm machen. Ich hoffe, mit einer großen Fehlerfreundlichkeit.

Eule: Sie hatten gerade ihre persönliche Erfahrung mit Trauer angesprochen. Ihre Frau war sehr schwer krank und ist verstorben. Haben Sie in dieser schwierigen Zeit Trost aus ihrer Arbeit gezogen?

Müller: Ja. Zunächst sind so eine Krankheit und das Sterben eine Anfrage an den eigenen Glauben. Die Frage, die sich jeder stellt, und auf die es keine Antwort gibt: Warum passiert das? Aber in dieser schwierigen Zeit – es waren ja mehrere Jahre des Abschiednehmens von meiner Frau – hat uns unser Glaube, haben wir uns gegenseitig getragen. Gerade die Hoffnung darauf, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern Übergang zu Gott.

Uns hat damals das Bild der Reise geholfen. Eine muss sich auf die Reise machen und der andere begleitet sie soweit es geht. Die letzte Strecke haben wir, dafür bin ich sehr dankbar, als Familie mit Kindern, Schwiegerkindern und Schwiegereltern mit meiner Frau gehen können. Das war bei aller Traurigkeit auch eine sehr tröstliche Erfahrung.

In dieser Zeit hat die Gemeinde uns ganz stark getragen und aufgefangen. Ich hatte mir nach dem Tod meiner Frau ein Jahr lang Zeit gegeben, um zu sehen, wie sich die Situation in der Gemeinde entwickelt. Es hätte ja auch sein können, dass die Gemeinde und ich nicht wieder in ein normales Miteinander zurückfinden. Dann habe ich gemerkt, dass es doch gut geworden ist.

Eule: Die Reise mit der Gemeinde ist also gut weitergegangen und auch ihre persönlicher Weg: Sie haben drei Kinder und leben mit einer neuen Partnerin zusammen.

Müller: Die Kinder sind alle erwachsen und haben sich verheiratet. Inzwischen habe ich acht Enkelkinder und seit Ende 2016 lebe ich mit wieder fest mit einer Frau zusammen.

Eule: Also doch eine klassisch kinderreiche Pfarrhausfamilie?

Müller: Die Familie ist dem evangelischen Pfarrhaus entwachsen. Das ist auch eine Erfahrung, die ich im Gepäck habe. In Jerichow haben wir protestantisches Pfarrhaus gelebt und zwar ziemlich nah am Klischee. Zum Ende des Studiums bekamen wir unsere Kinder, da hat meine Frau gegen meinen Willen entschieden, bei den Kindern zuhause zu bleiben.

Damals gingen die Stellenstreichungen los und es zeichnete sich ab, dass Pfarrstellen für Ehepaare riesige Bereiche werden. Da hat meine Frau das Studium ohne Examen beendet. Letztlich hat uns das als Familie gut getan. Unsere Kinder haben auch kein Pfarrhaus-Trauma davongetragen. Das lag an meiner Frau, die aufgefangen hat, was man so im Pfarrhaus auffangen muss.

Eule: Eine neue Pfarrer*innengeneration schaut zurzeit nach Wegen, wie das Pfarramt neben Familie und Privatleben geführt werden kann.

Müller: Wir haben das so gelebt und ich setze da bewusst ein Fragezeichen dran. Die Abschaffung des Zölibats ist für die Kirche des 21. Jahrhunderts noch nicht zu Ende gedacht, wenn man den Eindruck bekommt, dass so eine Pfarrerehe sich häufig wie ein um einen Partner verlängertes Zölibat anfühlt. Die Partnerin oder der Partner soll dem anderen den Rücken frei halten.

Wenn wir doch keine Priesterkirche mehr sind, dann stellt sich die Frage, warum wir von diesem alten evangelischen Pfarrerbild nicht loskommen, dass der Pfarrer der ist, um den sich alles dreht? Das funktioniert ja auch überhaupt nicht mehr! Ich sehe auch die Stundenrechnung der Pfarrerinnen und Pfarrer mit 54 h in der Woche sehr kritisch. Wenn das in einem anderen Betrieb gemacht wird, stehen wir als Kirche auf den Barrikaden und fragen, was das für eine Sozialordnung sein soll.

Eule: Es ist ja inzwischen doch bemerkt worden, dass diese neue Pfarrer*innengeneration anders tickt, was z.B. die Vereinbarkeit von Beruf und Familie angeht oder das kooperative Arbeiten in der Gemeinde.

Müller: Ich finde das gut, dass die neue Generation das aussprechen kann, ohne dass daraus eine riesen Geschichte gemacht wird. Für vorausgehende Generationen war dieses alte Pfarrhausdenken gesetzt, bei uns war es zumindest noch gern gesehen.

Eule: Heute sind es die örtlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten ursächlich dafür, dass man in solche Muster zurückfällt, ob man sich das vorher gewünscht hat oder nicht.

Müller: Ich habe in den letzten Jahren eine FEA-Gruppe begleitet (Fortbildung in den ersten Amtsjahren, Anm. der Red). Was ich mir wünschen würde im Blick auf junge Pfarrer*innen, ist mehr Unterstützung, z.B. indem man bei der Vorstellung gleich für die Situation einer jungen Familie sensibilisiert. Wenn wir wollen, dass es diesen Familien gut geht, dann brauchen die ein freies Wochenende im Monat.

Eule: Alle drei Bischofskandidat*innen stammen aus dem Osten. Das heißt, egal wie die Wahl ausgeht, es wird dann wieder eine*n Bischöf*in in der Evangelischen Kirche geben, die aus dem Osten stammt.

Müller: Wir brauchen auch Stimmen aus dem Osten. Es scheint schon so zu sein, dass man das in der EKD und den anderen Zusammenschlüssen auch merkt. Es ist auch nötig, dass es da einen Dialog gibt. Wir müssen nüchtern sehen, dass die Verhältnisse in den ost- und westdeutschen Kirchen bis heute ganz verschieden sind.

Eule: Gegenwärtig wird ja eine Ost-Quote diskutiert? Braucht es sowas?

Müller: Nein, ich bin bei Quoten immer vorsichtig. Wir müssen stärker ermuntern. Ich wäre auch nie von selbst auf die Idee gekommen, für das Bischofsamt zu kandidieren.

Was meine Generation Ost hier einbringen kann, dafür können wir ja auch nichts: Das ist die Erfahrung eines angefochtenen und zum Teil auch verfolgten Glaubens. Für meinen Wunsch, Pfarrer zu werden, habe ich eine operative Personenkontrolle der Staatssicherheit kassiert. Wir bringen auch Erfahrungen mit, wie Kirche leben kann in einer Gesellschaft, die ihr nicht nur kritisch, sondern feindselig gegenübersteht.

Eule: Die EKM hat ja in den vergangenen Wochen Schlagzeilen mit einer Petition für ein Tempolimit gemacht. Haben Sie unterschrieben?

Müller: Ja.

Eule: Mit dieser Art des politischen Engagements der Kirche können Sie also etwas anfangen?

Müller: Ja, sehr. Ich höre immer, Kirche solle sich einmischen. Wenn sie es dann macht, dann ist es auch wieder nicht richtig. Beim Thema selbst bin ich relativ emotionslos. Ich bin passionierter Radfahrer. Diese Aktion hat auch ein Licht auf unsere innerkirchliche Debattenkultur geworfen, die finde ich schon teilweise bedenklich.

Eule: Im Zentrum der Landeskirche steht mit dem Abschied von der Braunkohle ein erneuter Strukturwandel an. Die Kirche setzt sich für die Bewahrung der Schöpfung ein, was ist denn für die Leute vor Ort zu tun?

Müller: Zu dieser Entscheidung gibt es aus meiner Sicht keine Alternative, wenn es uns ernst damit ist, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen. Mir geht es immer um Ressourcenschonung und die Frage, welche Erde wir unseren Kindern und Kindeskindern überlassen. Vor Ort müssen wir jetzt schauen, dass der Ausstieg sozialverträglich umgesetzt wird. Aber das ist natürlich hier von meinem Schreibtisch aus leicht zu fordern. Für viele Menschen gibt es keine einfache Alternative zum Einkommen aus dieser Industrie. In diesen Orten geht es weniger um den Meeresspiegel, sondern um die eigene wirtschaftliche Existenz.

Eule: Am 26. Mai stehen Kommunal- und Europawahlen an. Die Befürchtung vor einem Rechtsruck ist da. Bischöfin Junkermann hat sich da in der Vergangenheit immer klar positioniert. Wie sollte sich die Kirche zur AfD verhalten?

Müller: Wir haben bisher nicht nach den Parteibüchern unserer Mitglieder gefragt. Bei der AfD ist es nun aber so, dass sie mit ihrer Politik und der dahinterstehenden Ideologie an manchen Stellen konträr zu dem stehen, wofür wir als Kirche stehen. Ich halte aber nichts von genereller Ausgrenzung, dass man sagt, jemand aus der AfD kann nicht Kirchenältester sein. Da sollte man den Einzelfall anschauen. Der stockkonservative vaterländische Verein, der die Evangelische Kirche vor hundert Jahren war, sind wir nicht mehr. Hier muss man ernsthafte Gespräche führen und den Einzelnen fragen: Was ist eigentlich ihr Ziel, wenn sie für unseren Gemeindekirchenrat kandidieren? Und da würde ich schon sehr genau hinschauen wollen.

Eule: Zum Schluss noch ein Bischöfinnenwort: Frau Junkermann hat viel Protest geerntet für ihre Feststellung, dass die Ostdeutschen in einem Lernprozess sind, was die Demokratie angeht. Wie erleben Sie die Ostdeutschen?

Müller: Ich würde sagen, die Deutschen sind in einem Lernprozess. Der sieht natürlich in der alten Bundesrepublik anders aus als in den neuen Bundesländern. Dort hat sich, das darf man auch nicht vergessen, erst nach 1968 vieles entwickelt, was die gesellschaftliche Demokratisierung angeht. Wir haben uns als Kirche da immer als Lernende gesehen, der Theologenanteil in den ersten freigewählten Parlamenten in Ostdeutschland war ja nicht umsonst so hoch. Demokratie ist etwas, das wir immer wieder neu lernen müssen.

Das Verständnis für Demokratie nimmt in dem Maße ab, wie die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Das können sie im Osten genauso sehen wie im Ruhrgebiet. Wenn ich mir dauernd Gedanken darum machen muss, ob ich ein Auskommen mit dem Einkommen habe, dann bin ich auch empfänglich für Rattenfängergepfeife. Das nehme ich auch keinem übel. Ich lebe in einer sehr privilegierten bürgerlichen Position und kann wunderbar darüber räsonieren, dass Menschen alle Regeln des Anstands vergessen. Aber wenn sie in so einer Situation sind, dass sie denken, für mich und meine Familie geht es immer nur bergab, was dann?

Eule: AfD-Wähler*innen haben ja vor allem Angst davor etwas zu verlieren: Ihren Wohlstand und ihre gesellschaftliche Position. Das ist eine Zukunftsangst. Gibt es denn ein Bibelwort, aus dem sie Kraft ziehen für die Zukunft?

Müller: Solange ich theologisch denken kann, begleitet mich „Wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit“. Das ist letztlich eine dem Menschen angemessene Haltung. Wir als Kirche können das in unserer Gesellschaft vorleben. Eine Gemeinde ist eigentlich ein Raum, in dem du der sein kannst, der du bist: Nämlich Geschöpf Gottes in der Gemeinschaft mit anderen Geschöpfen. Wenn ich auf dem Einwohnermeldeamt gefragt werde, ob ich religiös gebunden bin, antworte ich immer: Nein, ich bin religiös befreit.


Das Gespräch führte Philipp Greifenstein am 11. April 2019.