Impfpflicht: „Ja, aber …“
Die allgemeine Impfpflicht kommt, ist sich Philipp Greifenstein sicher, aber auch sie braucht die passende Kommunikation, um das Einverständnis über die Corona-Bekämpfung zu stärken.
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“, lautet der zentrale Satz in Kurt Weills, Elisabeth Hauptmanns und Bertolt Brechts Schuloper „Der Jasager / Der Neinsager“. Er wird, wenn ich mich meiner Schulzeit richtig erinnere, in einem längeren Monolog vom Held des Stückes, dem „Neinsager“, zur Begründung seiner Verweigerung vorgetragen. Es geht darum, sich nicht aus altem Brauch für die Gemeinschaft opfern zu lassen.
Machen wir uns nichts vor: Die Impfpflicht wird kommen. Vielleicht noch vor Weihnachten beschlossen, wird sie ab März oder April 2022 gelten. Soweit ist die Willensbildung in der Bevölkerung und auch in der Regierung Merkel IV Scholz I geronnen. Keine Sorge, hier wird nur entschieden, was auf möglichst großes Einverständnis der Bevölkerung stößt. Das Versprechen, die Corona-Impfung als einen Akt der freiwilligen Solidarität zu gestalten, war hingegen richtig und falsch, überstürzt und prinzipientreu zugleich.
War A wirklich nur falsch?
Richtig war es aus politischer Perspektive, weil man damit an das Gute im Menschen appelierte, an den Bürgersinn der Gutwilligen. Das hat funktioniert: Viele Menschen, auch ich, hatten bei ihren Impfungen gegen das Corona-Virus nicht nur das gute Gefühl, etwas für die eigene Gesundheit und die ihrer Kinder zu unternehmen, sondern auch für die Allgemeinheit. Der Gang ins Impfzentrum als Bürgerpflicht wie der zur Wahlurne. Mich hat das überzeugt.
Das Versprechen war falsch, weil es ersichtlich diejenigen ruhigstellen sollte, die noch hinter jeder Corona-Schutzmaßnahme die Diktatur trappsen hören wollen. Das hat nicht funktioniert. Was vor allem daran liegt, dass es den PEGIDA-Klonen der „Anti-Maßnahmen-Koalition“ eben nicht um Sinn oder Angemessenheit einzelner Maßnahmen geht, sondern um Ansatzpunkte für ihren Protest der enthemmten Kleinbürgerlichkeit. Befeuert, das darf man nie vergessen, von einer politischen Rechten, die weit in die bürgerlichen Milieus hineinreicht und die nach Migration und Flucht nun Corona als neues Thema ihrer Daueraufregung entdeckt hat.
Das Versprechen war überstürzt, weil man zum Zeitpunkt des Schwurs noch nicht wissen konnte, ob man auf dieses – sicher weitreichende und in seinen Auswirkungen komplexe – Instrument später doch zurückgreifen muss. Seitdem sich herausgestellt hat, dass Corona in immer neuen Wellen über uns kommt, ist das mehr als deutlich geworden. Auch hat ein (halbes) Jahr Corona-Schutzimpfungen (für alle Erwachsenen) nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Das hätte man, wie Niklas Schleicher in seinem „Nein, aber …“ richtig schreibt, besser wissen können.
Das Versprechen, keine Impfpflicht einzuführen, war aber auch prinzipientreu, weil eine solche Pflicht einen erheblichen Eingriff in die Selbstbestimmung und von mir aus auch körperliche Unversehrtheit der Bürger:innen darstellt (Art 2 GG). Deshalb ist bei Pflichten, die der Staat seinen Bürger:innen auferlegt, Zurückhaltung angesagt. Aber es ist auch klar, dass eine Impfpflicht einzuführen selbstverständlich im Rahmen unserer Rechtsordnung möglich ist. Dafür haben wir Erwachsenen ein Parlament gewählt, dass das mit einem ordentlichen Bundesgesetz bewerkstelligen kann. Und das bringt uns nun eigentlich zu den entscheidenden Akteur:innen in diesem Drama.
Wir Erwachsenen haben gefailed
Vielleicht war es gar nicht möglich, der Pandemie zu einem früheren Zeitpunkt den Garaus zu machen, noch ist das bisher Ziel der deutschen Pandemie-Bekämpfung gewesen. Es geht nach wie vor darum, unser ansonsten im internationalen Vergleich hervorragendes Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren. Das Virus ist jedenfalls stets unter uns. Es ist gefährlich auch für Geimpfte, wenn auch – Gott sei Dank! – wesentlich weniger. Um Kinder und vulnerable Gruppen effektiv zu schützen, hätten alle anderen Erwachsenen sich impfen lassen müssen. Alle? Alle, das ist in der Demokratie selten eine gute Idee.
Niklas Schleicher fragt in seinem „Nein, aber …“ zur Impfpflicht von gestern nach den Konsequenzen ihrer Einführung. Eine Pflicht ohne Sanktion ergibt nämlich überhaupt keinen Sinn und würde sich in den Reigen der nur symbolisch zu verstehenden Corona-Maßnahmen einreihen, die Deutschland in schnöder Regelmäßigkeit produziert („Oster-Ruhe“, Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte bei gleichzeitiger Akzeptanz von „Corona-Spaziergängen“ etc.). Wenn ein paar Migranten oder Spätaussiedler Bußgelder kassieren, wem hilft’s? Und wenn gar drastischere Strafmaßnahmen ergriffen würden, müssten wir uns fragen, was wir verlören, derweil wir wohl eine höhere Impfquote gewännen.
Vaccination rate vs death rate in EU countries.https://t.co/Dz4gRCVVYm pic.twitter.com/bs05kNsF8y
— Peter Lawrey (@PeterLawrey) November 24, 2021
Ich schaue in europäische Länder mit weitaus geringeren Impfquoten als zwischen Rhein und Neiße. Das Sterben dort findet von der Öffentlichkeit hier verborgen statt. Die weltweite Dimension der Pandemie wird uns nur schlaglichtartig und für extrem kurze Zeiträume bewusst, wenn wieder einmal einer neuen Corona-Variante fälschlicherweise eine Nationalität zugeschrieben wird. Auch das wird eine allgemeine Impfpflicht in Deutschland nicht ändern.
Appropos „allgemein“. Noch vor wenigen Tagen ging es vornehmlich um eine „partielle“ Impfpflicht im Pflegebereich. Schließlich sterben bisher vor allem betagte und vorerkrankte Menschen am Virus. Der Eingriff in die Grundrechte bliebe hier auf eine Gruppe beschränkt. Man kann wohl fragen, wie Niklas Schleicher, ob das gerecht wäre. Man kann auch die Warnung des führenden Intensivmediziners Christian Karagiannidis bedenken, dass eine solche partielle Impfpflicht zu Kündigungen führen könnte, die der ohnehin angespannten Personaldecke in den Krankenhäusern übel bekämen. Also: Kleinerer Eingriff in die Grundrechte, der wohl etwas an den Todeszahlen, aber nicht an der Dynamik von Ansteckungen und Erkrankungen änderte, und der beim Personal schlecht ankommen könnte.
Wir landen auf jedem Gedankenpfad wieder bei „uns“, den Erwachsenen. Es ist jetzt nicht mehr die Zeit, die Verantwortung für die Pandemie-Bekämpfung abzuschieben. Auch nicht an das Pflegepersonal. Es ist auch keine Zeit, intensiv nach Schuldigen zu suchen. Ja, wir wissen doch, dass die Pandemie von den Umgeimpften getrieben wird, die eben auch mit anderen Regeln wie Kontaktbeschränkungen fahrlässig umgehen. Umgeimpfte sind an 8 von 10 Corona-Infektionen beteiligt.
Die Pflicht zu drei Pieksen
Nur wir Erwachsenen können das hier beenden und das Virus in den Orkus zurückverbannen, aus dem es entfleucht ist. Das bedeutet, uns endlich wie Erwachsene zu benehmen. Wenn eine Maßnahme als richtig und angemessen erkannt ist, aber nicht durchgeführt wird, dann muss man sie zu einer Pflicht machen. Das sage ich nicht als Jurist oder Mediziner, sondern mit der Küchenpsychologie eines Vaters. Wenn die Spülmaschine nicht ausgeräumt und der Müll nicht runtergebracht wird, dann muss man sich darauf verpflichten. Erwachsensein bedeutet, sich einzuschränken.
Und die mit einer allgemeinen Impfpflicht verbundenen Grundrechtseinschränkungen wären weder die ersten noch die schlimmsten, die wir Erwachsenen allen Menschen in dieser Pandemie zugemutet haben. Ja, bisher haben die fähigen, körperlich und geistig mobilen Erwachsenen unter den Maßnahmen vergleichsweise wenig gelitten! Anders als Kinder und Jugendliche, Sterbende und Kranke, denen Entscheidungen im zweifelsfall ganz abgenommen wurden. Mein Herz schmerzt beim Gedanken an Familien, die ihre vorerkrankten Kinder seit fast zwei Jahren von allen Gefahren abschirmen müssen, weil für die Kinder (noch) keine Impfung möglich ist.
Dem gegenüber steht die Pflicht zu drei Pieksen in den Oberarm, die womöglich das Wohlbefinden der Impflinge temporär einschränken, der Wohlfahrt der Gesellschaft jedoch dienen. Das Wohl von Vielen wiegt schwerer als das Wohl von Wenigen oder von Einem. Erst recht, wenn deren Verweigerung oder Faulheit sich aus der Vernunft nicht zugänglichen Motiven speist.
„Ein zentraler Anspruch christlicher Ethik ist, dass sich die Stärkeren um die Schwachen sorgen sollen – nicht über sie zu Gericht sitzen“, erklärt Niklas Schleicher. Ja, das stimmt. Das Gegreine über die „Impf-Skeptiker“ und auch das faszinierte Gestarre auf die Ideologen der Szene ist ein Volxsport, der davon ablenkt, dass wir selbst es doch sind, die handeln können. Nicht nur „die“ Politik, sondern auch die Bürgergesellschaft lässt sich vom Irrsinn der Wenigen treiben.
„Ja, aber …“
„Wer A sagt, muss nicht B sagen“, die Gründe vom einmal gegebenen Versprechen zum Wohle der Allgemeinheit zurückzutreten, sind klar. Anders als in der Schuloper geht es darum, abzuwägen, wann es angemessen ist, auf ein eigenes Recht zu verzichten, um anderen beizuspringen. Die Impfskeptiker sind nicht in der Rolle des Neinsagers, der sich aus dem Einverständnis der Gesellschaft herauslöst, um sein eigenes Leben zu retten. Vielmehr würden sie mit ihrem Einverständnis zur Impfung auch ihr eigenes Leben retten. Leben retten ist das Ziel wahren Widerstands.
„Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis
Viele sagen ja, und doch ist da kein Einverständnis
Viele werden nicht gefragt, und viele
Sind einverstanden mit Falschem. Darum:
Wichtig zu lernen ist Einverständnis.“
Die Worte des Eingangs- und Schlusschores stehen dem „Wer A sagt, muss nicht B sagen“ nur scheinbar diametral gegenüber. Wer für eine Impfpflicht eintritt, der darf auch die Dimension des Einverständnisses nicht aus den Augen verlieren.
Ja, ich bin für eine allgemeine Impfpflicht, aber unter zwei Bedingungen, die ein tieferes Einverständnis fördern müssen: Erstens braucht es eine alle notwendigen Ressourcen aufbringende weltweite Impfmission. Wenn Grundrechte eingeschränkt werden, dann nur als Preis dafür, dass wir das Virus endlich besiegen.
Und zweitens braucht auch eine Pflicht eine passende Kommunikation und Vorbereitung. Verheerend für das Institutionenvertrauen in der Bevölkerung ist nicht, eine einmal getroffene Entscheidung zu revidieren. Auch wenn es eben nicht allein „die“ Politiker:innen, sondern auch Publizist:innen, Journalist:innen und viele, viele Privatleute waren, die mit dem Versprechen für die Akzeptanz der Maßnahmen insgesamt geworben haben. Verheerend wird sein, wenn nicht genügend Impfstoff für die Verpflichteten zur Verfügung steht, wenn der Zugang zu Impfungen erschwert ist, wenn die Impfpflicht als Strafaktion statt als Verantwortungsübernahme der Erwachsenen kommuniziert wird.
Wir brauchen die Impfpflicht, aber wir könnten auch ein „We are the World“ für die Corona-Bekämpfung gebrauchen.