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Politik

Impfpflicht: „Nein, aber …“

Ehe eine allgemeine Impfpflicht eingeführt wird, sollten wir die Politik in die Pflicht nehmen. Bevor schwerwiegende Eingriffe in die persönliche Freiheit erfolgen, müssen andere Möglichkeiten erst einmal ausgeschöpft werden.

Es gibt keine einfachen Antworten. Das klingt hier banal und wenig spannend, weil es eigentlich in 95 Prozent der Fälle stimmt. Aber auch was die Coronapandemie betrifft, lässt sich sagen: Es gibt keine einfachen Antworten. Das ist schade, denn man könnte denken, dass es wenigstens hier so ist: Schuld an Welle Nummer 4 sind die Impfverweigerer. Hätte man eine höhere Impfquote, dann wäre es hier nicht so katastrophal, wie es gerade ist.

Klar, Menschen würden sich immer noch anstecken, aber wenigstens würden die Intensivstationen nicht so volllaufen, wie sie es gerade wieder tun. Und wir könnten uns jetzt schön auf den Weihnachtsmärkten einen Glühwein gönnen oder gemeinsam in den Kirchen relativ unbesorgt Adventslieder trällern. Und das mag möglicherweise sogar stimmen. Mehr Impfungen würden unterm Strich weniger Probleme, wie wir sie gerade haben, ergeben. Deshalb ist die Konsequenz simpel. Auf dieses einfache Problem gibt es eine einfache Antwort. Endlich einmal. Wir brauchen eine Impfpflicht.

Naja, die meisten wissen, wie der Hase läuft. Das mit dem „es gibt keine einfachen Antworten“ meine ich durchaus ernst. Auch wenn es so schön wäre. Dabei ist zunächst festzuhalten: Eine Impfpflicht könnte, wenn die richtigen Bedingungen erfüllt sind, durchaus etwas sein, das helfen kann.

Vertrauensbruch der Politik?

Erinnern wir uns: Die maßgeblichen politischen Parteien haben durch die Bank weg eine Impfpflicht ausgeschlossen. Das war, sagen wir es mal nett, ziemlich dumm. Auch wenn sie sich jetzt mit guten Argumenten davon distanzieren, wie Olaf Scholz, der seine neue Regierung nicht an alte Zusagen gebunden sieht. Nun kann man sagen, dass es natürlich möglich ist, seine Meinung zu ändern, wenn sich die Lage ändert.

Nur: Dass die Situation ist, wie sie eben gerade ist, ist ja nichts, dass völlig im Bereich des Undenkbaren lag. Schon lange warnten Expert*innen vor weiteren Wellen und weiteren Mutationen. Das wussten die Politiker*innen. Das wussten wir. Dennoch wurde eine Impfpflicht ausgeschlossen. Und diese Entscheidung wurde bereits damals kontrovers diskutiert.

Man glaubte an den gesunden Menschenverstand und das Vertrauen darauf, dass Menschen sich sicherlich impfen lassen. Allein, man hätte auch wissen können, dass schon vor Corona die Impfbereitschaft durchaus problematisch war. 2019 stufte die WHO Impfgegner*innen als eines der größten Gesundheitsrisiken weltweit ein. Warum sollte sich das jetzt plötzlich anders darstellen?

Wenn man eine Impfpflicht einführt, muss man sich im Klaren darüber sein, dass der Vertrauensverlust, der damit einhergeht, schwer zu beheben sein wird. Nun kann man sagen, dass man einen Teil der Bevölkerung sowieso schon verloren hat. Aber dieser Teil wird durch eine Impfpflicht wachsen, und sich, das dürfte sicher sein, radikalisieren. Die eigene Entscheidung über die körperliche Integrität ist nichts, was den Menschen unwichtig ist.

Dann geht es natürlich um die Ausgestaltung der Impfpflicht. So wurde und wird eine partielle Impfpflicht für Menschen in medizinischen Berufen oder Pflegeberufen diskutiert. Dies erscheint sinnvoll, da diese Personen ja durchaus Superspreader sein können und engen Kontakt zu vulnerablen Gruppen haben.

Umgekehrt muss man sich vor Augen führen, dass gerade diese Berufsgruppen über die Pandemie hinweg viel geleistet haben. Und oft war der Lohn nicht mehr als ein Klatschen vom Balkon. Und nun sollen es diese Gruppen sein, über die wieder verfügt wird? Das erscheint nicht besonders gerecht, um es mal simpel zu formulieren.

Strafen für Ungeimpfte: Wer wird erwischt?

Möglicherweise ist, auch vor diesem Hintergrund, eine allgemeine Impfpflicht gerechter. Nur stellt sich dann ein Folgeproblem: Gibt es zum einen genug Impfstoff und zum anderen genug Kapazitäten, um Menschen impfen zu lassen? Eine Impfpflicht ergibt nur Sinn, wenn die Rahmenbedingungen da sind. Angesichts des Impfchaos an vielen Orten sind hier Zweifel angebracht. Eine Pflicht einzuführen, der man nicht genügen kann, ist sinnlos.

Von den Sanktionsmöglichkeiten und -Notwendigkeiten im Falle einer Verweigerung der Pflicht haben wir da noch gar nicht geredet. Eine Geldstrafe? Dann trifft die Pflicht wieder diejenigen Schichten härter, die finanziell schlechter gestellt sind.  Die Rahmenbedingungen jedenfalls sind etwas, über das man sich durchaus Gedanken machen muss. Denn kann es sein, dass wir Menschen noch gar nicht erreicht haben, die vielleicht zum Impfen bereit sind? Gibt es noch Lücken, die sich schließen lassen?

Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass gerade in Bevölkerungsgruppen, die sowieso manchmal übersehen werden, durchaus noch Potential da ist. So hat es jedenfalls Christian Drosten beschrieben. Und dann: Nicht alle, die sich der Impfung verweigern, sind harte Impfgegner*innen. Auch hier wäre vielleicht nochmal drüber nachzudenken, wie man diese Menschen erreicht und eventuell die Narrative, die ihre Skepsis prägen, entkräften kann. Das ist schwierig, ohne Frage. Aber wo war bisher die Kampagne, die Impfskepsisnarrativen offensiv entgegengetreten ist?

Der Intensivmediziner Christian Karagiannidis erklärte bei seinem Gastauftritt in einer Spezialausgabe des NDR „Corona-Update“, dass ihm auf den Intensivstationen nur in den wenigsten Fällen ideologisch gefestigte Corona-Leugner begegneten, sondern vielmehr Menschen, die ihren Irrtum und ihre Faulheit bereuen. Zu spät, könnte man da zynisch einwenden. Genau das halte ich für elitär und zu kurz gesprungen! In der Corona-Pandemie hat sich eine Informations-Elite aus ohnehin privilegierten Menschen etabliert, die insbesondere in den Sozialen Netzwerken lautstark ihre Überzeugungen vertreten. Dagegen ist auch nichts einzuwenden.

Aber andere Menschen haben schon lange „abgeschaltet“ oder konnten mit den vielen, sich ständig weiter- und entgegengesetzt entwickelnden Nachrichtenlagen während der Corona-Zeit nicht mithalten. Ich erlebe das auch in meiner Kirchenpraxis als Vikar immer wieder. Ja, es müssen viele Entscheidungen immer wieder neu und ausdauernd miteinander getroffen und dann auch kommuniziert werden. Das fordert die Kommunikator*innen, aber eben auch die Adressat*innen heraus.

Ich jedenfalls kann jede*n auch ein bisschen verstehen, der die vielen zwischenzeitlichen Hiobsbotschaften oder überstürzten Nachrichtenmeldungen zu den Impfungen – man denke an die Abwägung zwischen den unterschiedlichen, ja allesamt sehr guten Impfstoffen in der Presse – nicht gut verdaut haben. Auch hier fehlt eine stringente Kommunikation, die besonders jene im Blick hat, die – aus welchen Gründen auch immer – eben nicht zur Gruppe der Gut-Informierten gehört. Verschärft wird das Problem natürlich auch durch den Kurs der STIKO, der aus einer wissenschaftlichen Perspektive zwar plausibel ist, dabei aber die Notwendigkeiten guter Kommunikation oft missachtet.

„Nein, aber …“

Wenn man diese Punkte bedacht hat, dann kann man auch über eine Impfpflicht nachdenken. Denn ja, man würde diese Menschen dann zu einer Impfung verpflichten, die sie hoffentlich auch zeitnah erhalten könnten. Mir wäre lieber, sie täten es aus Überzeugung. Dafür haben wir auch gesamtgesellschaftlich Verantwortung zu tragen. Ein zentraler Anspruch christlicher Ethik ist, dass sich die Stärkeren um die Schwachen sorgen sollen – nicht über sie zu Gericht sitzen.

Und das ist den meisten natürlich völlig bewusst, kann aber nicht oft genug betont werden: Aus dieser Welle hilft uns eine Impfpflicht nicht, egal ob sie nur einige Berufe oder alle Erwachsenen umfasst. Vielleicht ja bei der Nächsten. Oder aber: Wir nehmen die Politik in die Pflicht. Denn eines muss man sagen: Auch die Berufung eines Generals für den Krisenstab hilft nicht über die vielen Pleiten hinweg, die bis jetzt bei der Bekämpfung der Pandemie angefallen sind.