In die Geschichten abtauchen
Wie starte ich eine Erzählung? Wie wird eine Figur konkret? Über das Handwerk des Schreibens am Beispiel der „russischen Meister“ hat George Saunders ein feines Buch geschrieben.
Nein, es ist nicht unzeitgemäß, es ist im Gegenteil der beste Zeitpunkt, die alten „russischen Meister“ zu lesen. Denn die Erzählungen von Iwan Turgenjew, Leo Tolstoi, Nikolai Gogol und allen voran Anton Tschechow entstanden nicht nur in einer gewaltigen Zeitenwende, nämlich in den Jahrzehnten vor der Oktoberrevolution, sie zeigen vor allem ein aufrichtiges, zumeist ganz unideologisches Interesse an den Widersprüchlichkeiten und Kämpfen des Individuums inmitten einer sich wandelnden, verunsichernden Wirklichkeit.
Nun hat George Saunders, seines Zeichens Autor mehrerer hoch gepriesener Erzählbände, sieben Erzählungen dieser Autoren in einem Band versammelt, um an ihnen zu untersuchen, wie gutes Erzählen eigentlich funktioniert: In „Bei Regen in einem Teich schwimmen“, diesem dicken, lehrreichen, demütigen Band, geht es darum, von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben zu lernen. Das ist in höchstem Maße aufregend, anregend, inspirierend – und von hohem Unterhaltungswert.
Der beste Weg, die russischen Meister für sich zu entdecken
Die in diesem Band versammelten Ausführungen sind praxiserprobt: Sie stammen aus einem Kurs für junge Autor*innen, den Saunders seit 20 Jahren an der Syracuse University gibt. Die Auswahl der Erzählungen folgt dabei keinem Kanon, sondern einzig Saunders über die Jahre ans Herz gewachsenen Vorlieben: „Nach all den Jahren kommen mir die Texte vor wie alte Freunde, die ich, jedes Mal, wenn ich den Kurs wieder unterrichte, einer neuen Gruppe brillanter junger Autor:innen vorstellen darf.“
Schwer zu sagen, was nun unterhaltsamer, beeindruckender ist: die Lektüre der sieben russischen Erzählungen oder die detaillierten Ausführungen von George Saunders. Der beste Weg, die russischen Meister für sich zu entdecken, dürfte gegenwärtig der über Saunders sein.
Man mag gebannt Tolstois langer Erzählung „Herr und Knecht“ folgen, in Gogols „Die Nase“ den Boden unter den Füßen verlieren oder ein ums andere Mal der Erzählkunst und Menschenkenntnis von Anton Tschechow erliegen – die Betrachtungen von Saunders nehmen den Texten nicht ihr Geheimnis, sondern schärfen den Blick für die oft so unscheinbar wirkenden Werke.
„Wer gerade mit dem Schreiben angefangen hat, wird bei der Lektüre russischer Erzählungen aus dieser Zeit ähnlich empfinden wie ein junger Komponist, der sich mit Bach auseinandersetzt. Alle Grundprinzipien der Form werden sichtbar. Die Werke sind einfach, aber bewegend. Was darin passiert, bedeutet uns etwas. Sie wurden geschrieben, um herauszufordern, zu provozieren, zu empören. Und auf komplexe Weise zu trösten.“
Begeisterte Literaturvermittlung
Saunders interessiert sich en detail dafür, wie diese Texte gemacht sind, wie sie in Dialog mit dem Leser treten, wie sie ihren Sog entwickeln, wie die Figuren lebendig werden, wie Spannung entsteht und was im Kopf des Lesers (und in der Folge möglicherweise in seinem Leben) geschieht. Ein leidenschaftlich Verliebter spricht hier über seine mit den Jahren gewachsene Begeisterung. Die Leistung Saunders und seines deutschen Übersetzers Frank Heibert ist es, dass dieser lebendige, manchmal bewusst schrullige Ton bei der Verschriftlichung der Lectures erhalten geblieben ist. So darf Literaturvermittlung aussehen!
Nun lässt sich auf den 500 Seiten allerhand fürs Schreiben lernen: Wie starte ich eine Erzählung? Welche Rolle spielt der erste Satz? Was bedeuten Steigerung, Wiederholung, Struktur? Wie wird eine Figur konkret? Das Handwerk des Schreibens ist zunächst ein sehr genaues, immer wiederholtes Lesen – und die wache, achtsame Reaktion auf das Gelesene.
Nicht nur als Schreibende*r zieht man also jede Menge Gewinn aus diesem Buch; auch für Lesende hält Saunders zahlreiche Erkenntnisse bereit. Doch Saunders ist sich gewiss: Literatur hat die Kraft, Menschen zu verändern. Wir lesen fürs Leben. So wie wir lernen, Geschichten zu lesen, werden wir auch zu „wacheren Lesern der Wirklichkeit“. Es entsteht eine Verbindung zwischen Autor*in und Leser*in. Und jedes Mal, wenn wir uns in eine Figur hineinversetzen, trainieren wir unsere Empathie.
In Tschechows Erzählung „Stachelbeeren“ schwimmt Iwan Iwanytsch etwas zu lange und etwas zu ausgelassen bei Regen in einem Teich; so ähnlich ist dieses Buch: ein maßloses, lustvolles Erlebnis, ein tiefes Eintauchen in bewegende Erzählungen. Man mag gar nicht wieder rauskommen. Kein Zweifel: Es gab nie einen besseren Zeitpunkt als jetzt, die „russischen Meister“ zu lesen.
Bei Regen in einem Teich schwimmen
Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen
George Saunders
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert
24 € (Hardcover)
Luchterhand 2022