„Da regt mich ja schon die Frage auf!“
Ein Gespräch mit Josef Bordat, einem der meistgelesenen katholischen Blogger Deutschlands.
Herr Dr. Bordat, mit Jobo72’s Weblog gehören Sie zu den meistgelesenen christlichen Bloggern in deutscher Sprache. Was macht einen guten Blogpost aus?
Er sollte den Spielregeln für Online-Publikationen gehorchen, um den Lesegewohnheiten im Internet entgegenzukommen: kurz im Umfang, präzise in der Darlegung, möglichst nur einen Gedanken verarbeitend. So sagt man. Bei mir ist das oft ganz anders, zugegeben. Aber ich habe mittlerweile auch gelernt, dass man besser drei kurze Beiträge zu einem Thema schreibt als einen langen, wo jeder nur ein Drittel liest.
Sicher ist es auch hilfreich, wenn man aktuelle Themen bespricht, die ohnehin durch die Sozialen Medien getrieben werden. Vorausgesetzt, die liegen im Bereich der eigenen Interessen und Kenntnisse. Es hätte zum Beispiel kaum Sinn, wenn ich über den Europäischen Song Contest oder über Pokemon Go schreiben würde, nur, weil das alle anderen auch tun. Da wäre nach drei Zeilen klar: Der Mann hat keine Ahnung. Insoweit ist ein eigenes Profil, ein eigener Stil, eine eigene Note sicher auch wichtig, damit ein Blogbeitrag gut wird, also authentisch, kenntnisreich, anregend.
Schließlich ist jeder Blogpost auch nur ein Text, so dass die Qualitätskriterien, die man – je nach Ausrichtung des Blogs – an Zeitungsartikel oder Kurzgeschichten anlegt, auch im Internet gelten. Da hat man freilich noch viel mehr Möglichkeiten, Gedanken und Argumente miteinander zu vernetzen. Das kann einen Text enorm aufwerten. Der Link ist ja die Fortsetzung der Fußnote mit anderen Mitteln. Das kann man gezielt nutzen, sollte es aber nicht übertreiben. Ach, so: Humor schadet nicht. Das ist beim Bloggen so wie im richtigen Leben.
Sie sind einer dieser ominösen konservativen Katholiken, die in den Augen vieler die Blogozese bevölkern. Wie viel Provokation darf denn sein?
Naja, was meine Einordnung angeht, habe ich schon so ziemlich alles an Zuschreibungen erhalten, was man sich so vorstellen kann – einige der Bezeichnungen musste ich erst mal nachschlagen. Mit „konservativ“ kann ich aber leben. Provokation darf sein, auch eine ganze Menge davon. Nicht zuletzt hat ja Jesus selbst die damalige Gesellschaft provoziert, insbesondere deren religiöse Elite. Allerdings sollte Provokation – ähnlich wie die Satire – kein Selbstzweck werden, sondern, ganz im Sinne Jesu, konstruktiv die als nötig erachteten Veränderungen initiieren wollen. Einfach nur zu provozieren, ohne diese Zielsetzung, das ist albern, und sollte für Menschen über fünfzehn zu wenig sein. Und was die „Augen vieler“ betrifft: Die sollten vielleicht einfach mal hinschauen, um die Vielfalt in der Blogozese zu entdecken. Wir sprechen hier ja immerhin über 300 bis 400 deutschsprachige Blogs von Frauen und Männer, Klerikern und Laien. Da lohnt es sich durchaus, mal einen genaueren Blick drauf zu werfen.
Ihr Blog gehört zu den 100 wichtigsten Blogs in Deutschland. Wie geht man mit so viel Aufmerksamkeit um?
Erstmal sollte man solche Ranglisten nicht allzu ernst nehmen. Das sind ja doch eher Momentaufnahmen. Klar: Ich freue mich über Aufmerksamkeit. Das zu leugnen wäre lächerlich. Wer veröffentlicht, will Öffentlichkeit. Niemand bloggt, um dann möglichst selten gelesen zu werden. Dann könnte man besser – ganz für sich allein – ein klassisches Tagebuch führen. Nein, mich freut es sehr, wenn ich Menschen erreichen kann. Vor acht Jahren wurde Jobo72 etwa 20 mal täglich aufgerufen, heute erhält das Blog im Schnitt 2000 Zugriffe pro Tag. Und wenn die Aufmerksamkeit etwas nachlässt, wie in den letzten Monaten, dann macht mir das schon Gedanken. Quantität ist zwar nicht alles, aber zu wissen, dass man nicht nur für zehn, zwölf Freunde schreibt, motiviert natürlich zusätzlich. Ein Fußballer spielt ja auch lieber vor 100.000 Zuschauern in Barcelona als vor 1000 Zuschauern in Babelsberg.
Haben Sie eine besonders positive Erinnerung und/oder eine besonders negative Erinnerung aus ihrem Bloggerleben?
Erinnerung habe ich nach über acht Jahren Bloggerleben natürlich eine ganze Menge. Schön ist es, wenn Menschen mir mitteilen, dass sie sich von einem Text im Glauben bestärkt fühlen oder durch ein Argument, das in einem Beitrag entfaltet wurde, in ihrem Nachdenken über ein Problem weitergekommen sind. Mehr kann man nicht erwarten. Nicht so schön ist es, wenn Menschen sich nicht mit meinen Positionen, sondern mit mir als Person auseinandersetzen, dabei auch Gewaltphantasien äußern und vor Morddrohungen gegen mich und meine Familie nicht zurückschrecken. Das ist einfach unangemessen, in jeder Hinsicht. Kommt jetzt aber auch nicht so oft vor. Um mit etwas Schönem zu enden – eine Sache hat mich ganz besonders gefreut: Die Unterstützung, die ich erhielt, als ich im vergangenen November so massiv bedroht wurde. Einige Leserinnen und Leser haben mir sogar Weihnachtsgeschenke geschickt. Das hat mich zutiefst bewegt.
In ihrem Blog nehmen Sie kontroverse Themen, wie den Marsch für das Leben, auf. Warum ist es Ihnen wichtig, sich als Katholik in Debatten einzumischen?
Um mit Loriot zu sprechen: „Da regt mich ja schon die Frage auf!“ Nein, im Ernst: Christen müssen sich einmischen in Debatten über die weltliche Ordnung. Ich kann ja nicht ständig beten „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“ – und dann, was die Erde betrifft, nichts dafür tun. Gerade dann, wenn es um Fragen von Leben und Tod geht, müssen christliche Publizisten Präsenz zeigen. Das gilt für die Bioethik ebenso wie für die Flüchtlingspolitik. Und gerade der Katholizismus hat ja mit seiner Soziallehre eine lange Tradition der Einmischung. Also, da ist es für mich als katholischen Blogger selbstverständlich, diese Tradition fortzuführen – heute mehr denn je.
Über die Jahre haben Sie sich zu vielen Themen geäußert, verliert man da nicht mal den Überblick?
Richtig, ich habe mich vor einiger Zeit entschieden, das Blog thematisch zu öffnen, auch mal über Fußball, über einen besonderen Film oder eine sehenswerte Ausstellung zu schreiben. Soweit ich eben meine, dazu etwas zu sagen zu haben, das auch Andere interessieren könnte. Den Überblick verliere ich dabei eigentlich nicht – meine ich zumindest.
Mussten Sie sich auch schon einmal korrigieren?
Korrigieren muss ich mich ab und zu schon, oh ja. Natürlich schreibe ich meine Texte nach bestem Wissen und Gewissen, aber das reicht leider nicht immer. Nicht alle der mittlerweile fast 7000 Beiträge würde ich von A bis Z genauso wiederveröffentlichen. Manchmal habe ich vorschnell geurteilt, ohne alle Informationen zu haben. Manchmal habe ich Sachverhalte falsch dargestellt. Zum Glück habe ich eine sehr, sehr aufmerksame Leserschaft, die das oft genug sehr schnell bemerkt und auch anprangert. Ich stelle das dann umgehend richtig. Dafür gibt es eine eigene Kategorie im Blog. Die lohnt sich. Leider.
Im Untertitel Ihres Blogs kündigen Sie Beiträge zur „Christliche Existenzphilosophie.“ an. In letzter Zeit beschäftigen auch Sie sich allerdings häufig mit Fragen des Alltags und der Politik. Passen wissenschaftliches Schreiben und Blogs überhaupt zusammen?
Grundsätzlich schon. Es gibt ja auch spezielle Wissenschaftsblogs, in denen sich Fachleute äußern und mit Kollegen austauschen. Ich denke, dass Philosophen und Wissenschaftler wie Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton heute bloggen würden. Damals sind sie viel gereist, haben Briefe geschrieben, monatelang auf Antwort gewartet. Die moderne Technik würde hier beim Austausch helfen. Und sie tut es ja auch. Natürlich sind spezielle Themen nicht massentauglich. Man sollte als christlicher Blogger aber auch gar nicht mit Modeblogs oder Kosmetikvideos auf Youtube konkurrieren wollen. Harry Potter wird ja auch häufiger gelesen als die Kritik der reinen Vernunft. Das ist eben so. Ich musste das auch feststellen. Ein sorgfältig recherchierter wissenschaftlicher Beitrag erreicht vielleicht 100 Menschen, eine halbe Seite Satire, in zwanzig Minuten hingeschrieben, findet bei Tausenden Anklang.
Das macht dann freilich etwas mehr Freude. Deshalb ist das Blog heute weniger fachwissenschaftlich oder akademisch als bei der Gründung vorgesehen. Der Untertitel ist im ersten Teil („Christliche Existenzphilosophie“) also der ursprünglichen Absicht geschuldet, vor allem über Peter Wust, Karl Jaspers & Co. zu bloggen, ein Plan, den ich aus den genannten Gründen nur teilweise verwirklichen konnte. Im zweiten Teil („Gott, die Welt und alle Dinge überhaupt“) ist er übrigens eine Anspielung auf den Philosophen Christian Wolff, der seine Werke so betitelte. Fand ich schon im Studium witzig. Und zumindest das passt ja dann wieder zu Jobo72, wo es tatsächlich um Gott und Welt geht.
Konservative Perspektiven – so wird häufig kritisiert – kommen auch in der röm.-kath. Kirche zunehmend unter die Räder. Ist da was dran?
Sehe ich eigentlich nicht so. In der Katholischen Kirche gibt es grundsätzlich Platz für alle und auch (fast) alles. Es kommt sicher auch hier auf die gute Argumentation an, ob nun im Blog oder im Pfarrgemeinderat. Auch für konservative Positionen benötigt man Gründe. Sie sind ja nicht per se überlegen. Da vermisse ich manchmal etwas geistige Flexibilität in der Darstellung der konservativen Haltung. Da wird meiner Ansicht nach zu viel mit dem Gewicht der Tradition argumentiert, mit der großen Geschichte im Rücken. Das ist sicher richtig und wichtig, es darf aber nicht alles sein.
Ich sehe jedoch viel eher die Gefahr, dass die Kirche insgesamt in der deutschen Gesellschaft „unter die Räder“ zu kommen droht, insoweit, als man ihr nicht mehr die Rolle zugesteht, die sie über viele Jahrzehnte auch in einem freiheitlich-säkularen System wie dem der Bundesrepublik innehatte. Man will Religion privatisieren und die Meinung der religiösen Weltsicht marginalisieren. Das geschieht zum einen mit einer gewissen Berechtigung, wenn man konsequent demokratisch denkt, also in Mehrheitsverhältnissen. Da ist es dann eben so, dass die Kirche nicht mehr den Rückhalt im Demos hat wie noch vor zwei Generationen. Dennoch vertritt sie ja eine Wahrheit, die unabhängig ist von der Mehrheit oder den Kirchenbesucherzahlen, nämlich Jesus Christus, den menschgewordenen Gott. Für dieses Bewusstsein fehlt jedes Verständnis. Das ist der nicht-berechtigte Teil der abnehmenden Wertschätzung. Zumal gleichzeitig andere gesellschaftliche Kräfte, die oft nur wenige Prozent der Bevölkerung vertreten, im Diskurs eine unverhältnismäßige Stärkung erfahren.
Wie können konservative Überzeugungen anschlussfähig kommuniziert werden?
Um in diesem Diskurs, in dem es ja um nicht weniger als um die Deutungshoheit über Grundbegriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Toleranz etc. geht, als Religionsgemeinschaft eine Rolle zu spielen und mit der katholischen Position anschlussfähig zu sein, müssen Glaubenswahrheiten in säkulare Sprache übersetzt werden. Und es braucht ein Höchstmaß an Geschlossenheit in der Kirche. In Zukunft werden wir uns den Luxus innerkirchlicher Grabenkämpfe nicht mehr leisten können. Im Gegenteil: Es braucht die christliche Ökumene, um den Anspruch aufrecht erhalten zu können, Teil des christlichen Abendlandes zu sein. Im Moment wird dieser Anspruch ja vor allem von denen formuliert, die die Botschaft des Christentums sehr eigenwillig auslegen.
Welche Rolle spielt dabei die Blogozese? Sammeln sich die aus der Kirche vertriebenen Konservativen im Netz?
Die Blogozese ist ja zunächst nur ein loses Netzwerk katholischer Bloggerinnen und Blogger. Insoweit spricht sie nicht mit einer Stimme – schon gar nicht prinzipiell gegen die „Amtskirche“. Ich kann – wie gesagt – auch nicht erkennen, dass die Kirche etwas gegen Konservative habe oder sie gar aus ihren Reihen zu „vertreiben“ suche. Wer sich – aus welchen Gründen auch immer – vertrieben fühlt, sollte zunächst prüfen, ob nicht der eigene Standpunkt so extrem ist, dass er selbst noch aus dem breiten katholischen Spektrum herausfällt. Und wenn das so ist, kann von Vertreibung ja nicht die Rede sein.
Für die Platzierung katholischer Positionen im Diskurs insgesamt ist die Blogozese sicher wichtig, da sie oftmals schneller und flexibler als offizielle Stellen der Kirche Themen aufgreift, vielleicht auch offensiver sein kann und damit auch in den Sozialen Medien vielfältig Aufmerksamkeit erregt. Hier ist die dezentrale Struktur eher von Vorteil, gegenüber einer zentralen Präsenz, die die offizielle Position der Kirche kommuniziert und dabei auf viele Befindlichkeiten Rücksicht nehmen muss.
Sicherlich gilt für den katholischen Blogger dann immer noch das, was ich vorhin zum Thema Provokation gesagt habe. Aber lebhafte Diskussionen ergeben sich vielleicht doch eher aus pointierten Positionen. Wenn diese einigermaßen sachlich bleiben, besteht tatsächlich die Chance mit kirchenfernen Menschen in jenen konstruktiven Dialog zu gelangen, von dem Kirchenvertreter oft sprechen, den sie aber selbst nicht so gut führen können, da sie zu eindeutig eine Seite vertreten, zum Teil als Amtsinhaber direkt mit „Kirche“ identifiziert werden. Da haben es Laien-Blogger etwas leichter. So richtig kontroverse Debatten, die nicht nur antiklerikale Polemik auf der einen und Apologie der Kirche auf der anderen Seite enthielten, sondern den Austausch persönlicher Erfahrungen, habe ich vor allem in Blogs oder mit Bezug auf Blogposts erlebt. Zugegeben: Auch nur selten, aber doch so, dass ich sagen kann: Christliche Blogs bieten zusätzliche Chancen einer missionarischen Pastoral im Internet.
Einige katholische Blogs bieten eine Melange aus konservativem Katholizismus und rechter Politik (die „deutsche Tea-Party“). Wie sehen Sie die Entwicklung in diesem Bereich?
Kritisch. Religion und Politik gehören zwar insoweit zusammen, dass der Glaube auch das politische Handeln beeinflusst – insoweit kann er nie Privatsache sein, sondern ist immer auch Sache der Polis, der Öffentlichkeit. Das hatte ich ja vorhin schon gesagt: Christen müssen sich einmischen. Aber wenn man sich zu sehr auf eine politische Richtung festlegt, als Kirche, aber auch als katholischer Publizist, dann muss man aufpassen, nicht verzweckt zu werden. Das gilt in alle Richtungen, für marxistische Befreiungstheologen ebenso wie für konservative katholische Blogger.
Gerade deswegen kann ja ein Berliner Erzbischof neben AfD-Politikerinnen glaubwürdig für das Leben eintreten, für dessen Schutz am Anfang und am Ende der menschlichen Existenz, weil man weiß: Diese Kirche lässt sich nicht parteipolitisch vereinnahmen. Das ist ganz wichtig. Denn nächste Woche besucht er vielleicht mit einem Grünen-Politiker eine Flüchtlingsunterkunft. Beide Male geht es um den Menschen, sein Leben, seine Würde. Das ist für die Kirche entscheidend. Und Menschen guten Willens sollten ihr zugestehen, dass sie dafür in der Gesellschaft unterschiedlichste Partner sucht.
Letztlich ist es natürlich die Entscheidung eines jeden Einzelnen, wie sie oder er das Blog ausrichtet, das sie oder er betreibt. Aber es wäre fatal, wenn der Eindruck entstünde, man könne kein wertkonservativer katholischer Christ sein, wenn man nicht zugleich einer bestimmten politischen Kraft applaudiert. Einige Blogs tragen mit der thematischen Melange, wie Sie sagen, leider zu genau diesem Eindruck bei.
Sie selbst sind auch als Gastreferent der Katholischen Studierendengemeinde Edith Stein in Berlin tätig. Wie erleben Sie die gegenwärtige Generation der katholischen Studierenden?
Pragmatisch, wie die „Jugend von heute“ nun mal ist, aber wesentlich spiritueller und interessierter an Glaubensinhalten als noch „meine“ Generation vor 20 Jahren. Da waren wir sehr politisch und haben über diese gesellschaftlichen Themen die religiöse Dimension des katholischen Studentenlebens etwas zurückgestellt. Es war damals natürlich auch einiges los in Berlin, so kurz nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung. Auch die beiden Berliner Studentengemeinden in West und Ost mussten zusammenfinden. Das war schon spannend, darunter hat aber etwas die Spiritualität und die Liturgie gelitten.
Was ich gut finde, das ist die gegenseitige Annäherung von Katholischer Studierendengemeinde und den katholischen Studentenverbindungen, die in den letzten Jahren nach meiner Beobachtung sehr fruchtbar stattfand. Das wäre damals nicht möglich gewesen. Da haben wir noch zu sehr in Rechts-Links-Kategorien gedacht, auch innerhalb der Kirche. Das sollte der Vergangenheit angehören. Es gibt wichtigere Kategorien, wie ich schon andeutete.
Wollen wir eine Gesellschaft, die Würde und Leben des Menschen bedingungslos schützt, oder wollen wir eine, die Würdeschutz und Lebensrecht abhängig macht von Interessen, Präferenzen und Kosten? Das ist doch die entscheidende Frage, auch die wir Christen eine Antwort in die Debatte tragen müssen, statt uns gegenseitig zu verteufeln. Es ist gut, wenn dieses Bewusstsein gerade bei den Entscheidungsträgern der Zukunft, den Studentinnen und Studenten vorhanden ist. Und das scheint mir mehr und mehr der Fall zu sein.
Fühlen Sie sich in ihrer Kirche zuhause oder schreiben Sie auch gegen ihre Kirche an?
Wenn ich mich grundsätzlich nicht zuhause fühlte, zöge ich aus. In jedem Haus gibt es sicher auch mal Schwierigkeiten. Dann hängt der Haussegen schon mal schief. Aber deswegen zieht man ja nicht aus und lebt unter der spirituellen Brücke – um im Bild zu bleiben. Wenn ich Missstände sehe, schreibe ich auch schon mal gegen „die Kirche“ bzw. gegen Entwicklungen in der Kirche an, vor allem gegen die Art und Weise, wie bestimmte Themen in einigen Kirchenkreisen behandelt werden. Wenn sich die Forderungen nach „Fortschritt“ in den branchenüblichen Themen zu deutlich von dem entfernen, was Lehre der Kirche ist und damit zu leichtfertig mit dem umgegangen wird, was theologisch aus guten Gründen erreicht wurde, dann muss man auch etwas dagegen sagen und schreiben dürfen.
Niemand darf dabei grundsätzlich von Kritik ausgenommen werden, auch nicht die Würdenträger. Als ich mal für einige Zeit in der Nähe von Barcelona gelebt habe, habe ich den dortigen Erzbischof für eine katalanisch-nationalistische Predigt kritisiert, die sich unterschwellig gegen Migranten wandte. Das fand ich schlicht unkatholisch – und habe das auch so geschrieben. Zudem war ich ja in meiner Eigenschaft als Migrant persönlich betroffen. Das fanden einige meiner katholischen Freunde in Spanien wiederum unangemessen. Es ginge hier schließlich um den Erzbischof, dem ich Respekt und auch ein gewisses Maß an Gehorsam schulde. Ja, richtig. Aber zunächst bin ich meinem Gewissen Gehorsam schuldig. Und das gilt auch in meiner Eigenschaft als katholischer Blogger, wenn ich mich über „meine“ Kirche äußere.