Foto: Montecruz Foto (Flickr), CC BY-SA 2.0

„Ja alhamdulillah bin ich Muslim. Was soll die Frage?“

Ein Gespräch über muslimische Jugendliche, mögliche Maßnahmen gegen Radikalisierung und die Entwicklung des Islam in Deutschland.

Samet Er ist islamischer Theologe und arbeitet u.a. als Berater für Deradikalisierung mit muslimischen Jugendlichen. Wir haben uns mit ihm über den Islam in Deutschland, radikale Jugendliche und die Zukunft des Islams in Europa unterhalten.

EULE: Viele Menschen fürchten sich vor jungen Muslimen, die sich radikalisieren. Wie schaut das aus deiner Perspektive aus?

ER: Es ist zuerst einmal wichtig sich die Frage zu stellen, was genau Radikalisierung bedeutet. Ist man radikal, wenn man einen Bart trägt? Wenn man Videos im Internet anschaut? Ich denke nicht, dass es so einfach ist. Radikalisierung findet nicht von heute auf morgen statt, sondern ist ein Prozess, in dessen Verlauf sich das Denken oder Handeln des Menschen ändert.

EULE: Welche Rolle spielt die Religion?

ER: Im Rahmen meiner Tätigkeit als Berater für Deradikalisierung werden mir Jugendliche vorgestellt, die als radikal eingestuft werden. Ich nehme das Gespräch auf, und merke bereits nach einigen Minuten, dass der Jugendliche sich überhaupt nicht für die Religion interessiert, sondern andere Bedürfnisse hat. Das Bedürfnis nach Geborgenheit, Sicherheit, aber auch Provokation. Daher denke ich, dass die Furcht vor der Radikalisierung junger Muslime nicht unbedingt angemessen ist.

EULE: Was begünstigt aus deiner Sicht die Radikalisierung junger Muslime?

ER: Ich erinnere mich an die Worte des Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes: „Das sind unsere Jugendlichen, wir als Gesamtgesellschaft haben die Verantwortung.“ Das hat er sehr gut erkannt. Wir als Gesamtgesellschaft sollten dafür sorgen, nicht Teil des Problems zu sein, sondern Teil der Lösung. Wir sollten Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass die jungen Muslime sich in Deutschland wohl bzw. heimisch fühlen.

EULE: Was haben wir da versäumt?

ER: Extremistische Gruppen nutzen Schwächen der Jugendlichen und Lücken der Gesellschaften aus, und geben vielen Jugendlichen das, was sie bei ihren Eltern, in der Gesellschaft und in Schulen nicht erlebt haben – Anerkennung, Akzeptanz und Wertschätzung. Wir sollten nicht in jedem jungen Muslim den potentiell Radikalen sehen. Präventionsarbeit sollte beispielsweise nicht als Vorbeugung vor Radikalisierung gesehen werden, sondern als Demokratieförderung. Es müssen außerdem gute Netzwerke entstehen: zwischen Behörden, Schulen, Eltern, Kulturvereinen, NGO´s, Moscheegemeinden und Wissenschaftlern.

EULE: Wie kann man Radikalisierung wirksam entgegenwirken?

ER: Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die wichtigsten sind für mich zum einen die flächendeckende Etablierung des islamischen Religionsunterrichts, wo im jungen Alter der Austausch über bestimmte islamische Themen geschieht oder auch Demokratieförderung geleistet wird. Gehen Islam und Demokratie zusammen? Gibt es Menschenrechte im Islam? Welche Identität habe ich? Bin ich Türke? Deutscher? Kann ich deutscher Muslim sein? Einmal fragte mich ein Schüler im Alter von 14 Jahren, ob es möglich sei, ein deutscher Muslim zu sein. Selbstverständlich sagte ich ihm. Er war erleichtert, weil er eine Antwort bekam, die er selber aus Unsicherheit nicht geben konnte.

Zum anderen sollten an Schulen gleichzeitig außerschulische Projekte angeboten werden, wo durch Peer-Education Themen angesprochen werden, die eventuell im Elternhaus, in der Moschee aber auch im islamischen Religionsunterricht Tabu sind. Jugendliche sind auf der Suche nach Wertegefügen in der säkularisierten westlichen Welt. Wir sollten uns dessen bewusst sein und hierzu Hilfestellung leisten.

Bildung ist also die wichtigste Substanz. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass junge Muslime, die religiöse Erziehung erfahren haben, weniger anfällig gegenüber den Angeboten der Salafisten sind, als diejenigen, die kein religiöses Grundwissen haben.

EULE: Der Religionswissenschaftler Michael Blume schreibt in seinem Buch, junge Muslime würden nicht radikaler, sondern nehmen still Abschied von ihrer Religion. Stimmt das aus deiner Perspektive?

ER: Ich gehe vielmehr vom Gegenteil aus. Das Interesse an der Religion, vor allem an der Lebensweise der Religion auf deutschem Boden, ist gestiegen. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen sind es die Attentate, die der islamischen Religion auf das Konto geschrieben werden. Junge Muslime interessieren sich mehr und mehr für ihre eigene Religion, um Antworten zu finden. Zum anderen aber auch die kulturelle Lebensweise der Eltern, die manchmal im Widerspruch mit der deutschen Lebensweise steht. Junge Muslime fragen sich immer mehr, was genau jetzt Kultur ist, und was die Religion. Somit wird ein Setting aufgebaut, in dem das religiöse Interesse steigt.

Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass jeder junge Muslim, ob er betet, fastet oder nicht, auf die Frage, „Bist du Muslim?“ mit „Ja alhamdulillah bin ich Muslim. Was soll die Frage?“ antworten würde.

Ich denke also, dass die Religion nicht komplett abgelehnt wird, sondern als Restidentität weiterhin bestehen bleibt. Es ist zwar auch nicht unbedingt von einer Religiosität die Rede, aber dennoch von einer Empfänglichkeit für Angebote aus dem religiösen Spektrum. Und dieses Angebot ist für sie attraktiv; nicht weil es religiös ist, sondern weil es eine alternative Lebensform zur Mehrheitsgesellschaft bietet.

EULE: Sind Moscheegemeinden in Deutschland attraktive Orte für junge Menschen?

ER: Leider sind nicht viele Moscheen attraktive Orte für junge Menschen. Es gibt in der Tat einige Vorzeigemoscheen, wo Jugendarbeit bestens betrieben wird, wie, dass außerhalb der Gebetszeiten wöchentliche Aktivitäten wie Fußballspielen oder Picknick angeboten werden.

ER: Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass viele der Syrien-Rückkehrer oder radikalisierte jungen Muslime keine Moscheeerfahrung haben. Sie haben alle Moscheen vermieden, weil darin nicht in deutscher Sprache die Religion vermittelt wurde, oder die Politik der „Heimat“ zu stark im Vordergrund war.

EULE: Was hält junge Muslime an ihrem Glauben und in der Gemeinschaft?

ER: Die Bildung und Kenntnis der eigenen Religion. Nur wer religiöse Bildung hat, versteht und schmeckt den Glauben, so dass er bewusst und reflektiert am Glauben bleibt. Wenn die einzelne Gemeinschaft junge Muslime ansprechen möchte, muss sie die Sprache beherrschen und den deutschen Kontext kennen. Es müssen für junge Muslime neben dem Moscheeunterricht Angebote gemacht werden, die sie eventuell woanders nicht finden können.

EULE: Welche Rolle spielen traditionelle Familienverhältnisse und Rollenbilder bei der Entscheidung, die Religion zu verlassen?

ER: Mir ist das Verlassen der Religion aufgrund traditioneller Familienverhältnisse und Rollenbilder nicht bekannt. Vielmehr, dass aufgrund dessen Jugendliche aus dem Elternhaus flüchten – wohin spielt keine Rolle. Meistens ist es eine salafistische Szene oder ein Kriegsgebiet.

Ich höre immer wieder abwertende Äußerungen der eigenen Kultur und Tradition, da sich junge Muslime damit nicht identifizieren können. Sie fühlen sich weder in der Kultur ihrer Eltern, noch in der dominanten westlichen Kultur willkommen. Sie befinden sich in einer Identitätskrise und suchen nach Alternativen, die heutzutage leider nur vom Salafismus angeboten werden.

EULE: Was unterscheidet junge Muslime in Deutschland von gleichaltrigen Christen oder Konfessionslosen?

ER: Da ständig vom Islam die Rede ist, steigt bei jungen Muslimen das Interesse an der Religion. Das religiöse Bewusstsein wird stärker. Sonst sehe ich bei vielen jungen Muslimen viele Ähnlichkeiten mit gleichaltrigen oder konfessionslosen Jugendlichen, nämlich die Sinnsuche, die den Weg ins Erwachsenenleben begleitet. In einer Gesellschaft, wo jede Spiritualität aus den Kirchen entnommen wurde, jetzt noch versucht wird, sie aus den Moscheen zu entnehmen, brechen die Wertegefüge. Jugendliche flüchten in radikale Milieus. Daher sind gemeinsame interreligiöse Ansätze vonnöten.

EULE: Wie verändert sich der Islam in Deutschland?

ER: Durch den Aufbau der Institute für islamische Theologie werden immer mehr Imame, Theologen oder muslimische Sozialarbeiter zu sehen sein. Sie werden einen von Europa geprägten Islam ausleben. Damit meine ich keinen Euro-Islam. Dieser gelebte Islam steht mit dem Grundgesetz nicht in Widerspruch. Er ist sogar dazu in der Lage, neue Perspektiven für ein besseres, friedliches Zusammenleben unter Menschen mit unterschiedlicher Religion und Weltanschauung zu geben, die Demokratie zu gestalten und dafür zu sorgen, dass internationale Kriege im Namen der Religion ein Ende haben.

(Die Fragen stellte Philipp Greifenstein.)


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