„Judensau“ in Wittenberg: Eine Ortsbegehung

Seit Jahren wird über die sog. „Judensau“ an der Stadtkirche in Lutherstadt Wittenberg gestritten. Philipp Greifenstein war vor Ort, um sich einen Eindruck zu verschaffen.

Über kaum ein anderes Kunstwerk an oder in einer Kirche wird so heftig gestritten wie über die sogenannte „Judensau“ an der Fassade der Stadtkirche in Lutherstadt Wittenberg. Die alte Predigtkirche Martin Luthers gehört zu den touristischen Attraktionen der Stadt. Sie liegt in unmittelbarer Nähe des Marktplatzes, auf dem die Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon mit Statuen geehrt werden.

Der „Lutherkult“ ist stark in Wittenberg: Man ist stolz auf den Reformator und der Tourismus bringt Gäste und Geld in die Stadt. Neben der Schlosskirche mit der Thesentür und Luthers Grab gehört die Stadtkirche, als eigentlicher kirchlicher Wirkungsort Luthers, zu den Hauptstationen jeder Stadtführung.

Im Juni 2022 entschied der Bundesgerichtshof (BGH), die „Judensau“ dürfe an der Fassade verbleiben, weil sie durch die Einbindung in ein Ensemble aus Denkmal und Erklärtafel ausreichend erklärt sei. Kommentator:innen weisen jedoch darauf hin: „Schandmal bleibt Schandmal“. Ein Expertengremium, dem Vertreter:innen der evangelischen Kirche, des Zentralrats der Juden, des Denkmalschutzes und des Landes Sachsen-Anhalt angehörten, hat sich zuletzt mit der Frage der zukünftigen Darstellung befasst – und Empfehlungen für eine Neugestaltung ausgesprochen:

„Zum einen soll das Schandbild nicht mehr an seinem bisherigen Ort zu sehen sein. Denn es ist eine Schmähung jüdischer Menschen und zugleich ein Sakrileg, nämlich eine Beleidigung des Gottesnamens. Zum anderen soll es in unmittelbarer Nähe auf andere Weise zu sehen sein. Denn die Auseinandersetzung darf nicht aufhören.“

Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen, der in der Kommission mitgearbeitet hat, kommentierte deren Empfehlungen auf seinem Chrismon-Blog:

„Mit beiden Gedanken wollen wir die in den Medien gehandelte Alternative „Dranlassen oder Abmachen“ überwinden. […] in unmittelbarer Nähe (und nicht in einem weit entfernten Museum) soll die Skulptur ausgestellt und im Kontext der Geschichte christlicher Judenfeindschaft erklärt werden. (Dafür gibt es erste Ideen.) Damit soll eine angemessene Auseinandersetzung ermöglicht werden.“

Wie schaut es wirklich aus?

Rund um die „Judensau“ gibt es viel Ärger, viel – auch oberflächliche – Berichterstattung. Mir ist Wittenberg seit 2007 durch viele Besuche bekannt, doch nicht alle Diskursteilnehmer:innen hatten bisher die Möglichkeit, Stadt und Stadtkirche vor Ort in Augenschein zu nehmen. Die Meldungen und Kommentare zur „Judensau“-Debatte in den Medien kranken daran, dass man sich von den Zuständen vor Ort kein gutes Bild gemacht hat – und darum zwangsläufig zu Fehlschlüssen bei der Interpretation des Ensembles und des Gefahrenpotentials des antijudaistischen Schandmals neigt.

Ich habe mich daher Anfang August 2022 noch einmal rund um die Stadtkirche umgesehen und Fotos gemacht. So sieht es aus:

Der Kirchplatz um die Stadtkirche liegt im herrlichsten Sonnenschein, als ich ihn an einem sommerlichen Sonntagmorgen betrete. Ich komme vom Marktplatz her durch eine schmale Gasse. Ginge ich geradeaus weiter, würde ich den Haupteingang an der südlichen Seite der Kirche erreichen. Ich biege jedoch nach Norden ab und umrunde die Kirche im Uhrzeigersinn.

Ich kenne Wittenberg und den Kirchplatz von zahlreichen Besuchen und weiß auch, wo genau sich das Mahnmal-Ensemble befindet. Häufig bin ich einfach daran vorbeigegangen, wie man an etwas vorübergeht, dem man wenig Bedeutung beimisst. Nun aber schaue ich mich genauer um. Die Fassade der Kirche ist gut saniert. Niemand kann hier ernstlich von „mittelalterlich“ sprechen. Gelegentlich finden sich an der Fassade Epitaphe, deren Aufschriften man aber nur mit detektivischem Geschick lesen kann.

Ich nähere mich dem Mahnmal-Ensemble von Norden aus, am Bugenhagenhaus vorbei. Direkt unter der „Judensau“ an der Südostecke der Kirche stehend kann ich die Schmähplastik zunächst nur erahnen. Ich trete einige Schritte zurück und kann nun auch den Text über der Sau erkennen. Mir fällt auf: Die „Judensau“ ist das einzige Objekt an der Fassade der Kirche, das ich ohne großes Zutun „lesen“ kann. Liegt das daran, dass mir Objekt und Text geläufig sind? Oder daran, dass sie im Unterschied zu anderen Epitaphen und Plastiken wirklich sorgfältig restauriert wurde?

Ich stehe nun am südöstlichen Zugang zum Kirchplatz, von hier aus kann ich das Mahnmal-Ensemble in Gänze betrachten. Ich sehe die Schmähung hoch oben an der Traufe und darunter die städtische Erklärtafel. Solche Tafeln finden sich überall in der an Schildern und Denkmälern wahrlich nicht armen Wittenberger Altstadt. Als regelmäßiger Besucher gehe ich an ihnen gewohnheitsmäßig vorbei. Kaum zu erkennen ist allerdings das Mahnmal des Bildhauers Wieland Schmiedel, das von der Stadtkirchengemeinde im November 1988 unter der „Judensau“ enthüllt wurde.

Um das Denkmal richtig zu erkennen, muss ich unter die Zeder und bis auf wenige Schritte an die im Boden versenkte Bronzeplatte heran treten. Den Text kann ich selbst direkt am Denkmal stehend kaum lesen. Ich muss mich dazu hinknien. Der Text von Schriftsteller Jürgen Rennert „verbindet die Inschrift der Schmähplastik mit dem Holocaust“, informiert mich die Erklärtafel. Er lautet:

„Gottes eigentlicher Name / der geschmähte Schem Ha Mphoras / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen.“

Dazu steht in hebräischer Schrift der Beginn von Psalm 130:

„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“

Angelockt durch mein Fotografieren oder die Erklärtafel treten gelegentlich Spaziergänger:innen an das Ensemble heran. „Ach, das ist dieses Denkmal, über das in den Nachrichten berichtet wurde“, höre ich eine Touristin ihrer Begleitung erklären. Das Schandbild selbst entdecken sie erst, nachdem sie die Fassade an der Südostecke danach abgesucht haben.

Es kommen nun mehr Menschen auf den Kirchplatz, der Gottesdienst beginnt bald. Sonntagmorgenroutine. Die Besucher:innen gehen zielstrebig in die Kirche hinein, nur einige Passant:innen – sehr wahrscheinlich Touristen – gehen gelegentlich zur Erklärtafel hin. Die Tafel ist mit einem Audiotour-Guide verbunden. Womöglich hören sich einige dort die Erläuterung des Ensembles an. Lange verweilt niemand am Ort.

Ein neuer Gedenk- und Lernort?

Hier also soll bald in veränderter Form vor dem christlichen und lutherischen Judenhass gemahnt werden, der in der „Judensau“ so prägnanten Ausdruck findet. Ich frage mich: Wo? Die Größe der Zeder, die direkt am Mahnmal steht, ist mir als gelegentlichem Fußgänger überhaupt nicht erinnerlich gewesen, heute aber fällt mir auf, dass sie die Südostecke der Stadtkirche überschattet und beherrscht.

Die Schmähplastik soll von der Wand und in unmittelbarer Nähe kontextualisiert werden, lautet die Empfehlung der Expertenkommission. „Dafür gibt es erste Ideen“, erklärt der EKD-Kulturbeauftragte. Ich bin sehr für die Abnahme der Plastik, die heute immer noch Juden beleidigt. Darum kann ich mir schwer vorstellen, ihr auch noch einen Schrein zu bauen, in dem man sie begutachten kann. Kontextualisierung hin oder her.

Können erklärende Texte überhaupt die intendierte Wirkung eines Kunstwerks schmälern, die Beleidigung mildern? Aus dem Geschichtsunterricht kenne ich sehr viele Karikaturen, mein Lehrer hatte eine Vorliebe für diese Quellengattung. Natürlich kann man historische Darstellungen dechiffrieren, entmystifizieren, die ihnen zugrunde liegenden Bildprogramme entkräften und sie so ihrer Demagogie berauben. Dafür scheinen mir Lernorte wie Akademien, Schulen oder Museen geeignete Orte zu sein. Soll auf dem Kirchplatz jetzt ein solcher Lernort zum Judenhass Martin Luthers und seiner Nachfolger:innen entstehen? Würde er nicht das restliche Ensemble überragen?

Letztlich geht es also auch um die Frage, welche historische Bedeutung man dem Judenhass in Luthers Schriften und in den evangelischen Kirchen beimisst. Die Wittenberger Altstadt mit Schloss und Schlosskirche, Marktplatz und Stadtkirche, den unzähligen Hinweisen und Gedenkorten für die Reformatoren sowie an die Wirkungsgeschichte der Reformation, von den Werkstätten der Cranachs bis hin zur Leucorea, ist in ihrer Gesamtheit ein Denkmal und Lernort des Protestantismus. Zum Protestantismus gehören Antijudaismus und Antisemitismus dazu, weshalb sie nicht übergangen werden sollten.

Doch schon heute richten, so mein Eindruck, Besucher:innen des Kirchplatzes ihre Aufmerksamkeit erst durch die Kommentierung und Kontextualisierung auf das Schmähbild selbst. Die Protestanten dürfen ihre judenfeindliche Geschichte nicht verdrängen und vergessen, aber erneuert man die Beleidigung nicht auch dadurch, dass man auf sie immer wieder hinweist? Ich bin mir sicher: Die Kraft der Schmähung wird man nur durch eine Abnahme der Plastik brechen können. Ohne Plastik allerdings ergibt das Mahnmal von 1988 zu seinen Füßen kaum mehr Sinn. Ob ein angemessener Gedenk- und Lernort im Stadtkirchenensemble zwischen Zeder, Fronleichnamskapelle und den anderen historischen Bauten Platz finden kann, der mehr ist als ein Ausstellungsort für Luthers Judenhass, wird man an konkreten Entwürfen prüfen müssen.

Quadratur des Kreises

Die Entfernung der Plastik und zugleich ihr Verbleib in unmittelbarer Nähe erscheinen mir eine Quadratur des Kreises zu sein. Wie die Stadtkirchengemeinde mit den Empfehlungen der Experten umgehen wird, steht noch dahin. Es gibt auch kritische Stimmen, die einen Verbleib an Ort und Stelle nach wie vor befürworten. Das Herz mancher Wittenberger hängt dabei nicht an der Schmähplastik, sondern am Mahnmal von 1988. Das wiederum ist so unscheinbar und erklärungsbedürftig, dass es als künstlerische Intervention zwar wertvoll ist, aber bei gewöhnlichen Besucher:innen zumeist wirkungslos bleibt.

Lern- und Gedenkorte gibt es in Wittenberg wirklich viele. Wenn man die Plastik nicht gleich einmotten will, wofür ich durchaus Sympathien habe, dann könnte man sie auch an einen der traditionellen Lernorte in der Altstadt verbringen und dort im Rahmen einer Dauerausstellung erklären – im Kontext der restlichen Reformationsgeschichte. Dafür müsste man sich von der Vorstellung verabschieden, die Schmähplastik zum dritten Mal in ihrer Geschichte irgendwo „in unmittelbarer Nähe“ der Stadtkirche zu installieren.

Ob es für eine museale Darstellung „in unmittelbarer Nähe“ oder an einem anderen Ort in der Altstadt der Stofflichkeit der Plastik überhaupt bedarf, scheint mir auch eine lohnende Frage zu sein. Am Tag vor meinem Wittenbergaufenthalt habe ich das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle (Saale) besucht. Dort befindet sich normalerweise die Himmelsscheibe von Nebra. Im Moment ist sie nach London verliehen, allerdings wird eine Kopie ausgestellt: Doch nicht wie üblich in der aufwendigen und effektvollen Inszenierung, sondern in einer stinknormalen Vitrine im Hauptgang. Vielleicht könnte man sich in Wittenberg davon inspirieren lassen.