Kritik ohne Kontext

„Perspektiven in Zeiten des Traditionsabbruchs“ will Thomas Martin Schneider seiner Kirche in einem neuen Buch präsentieren. Der Versuch misslingt, erklärt Gemeindepastor Philipp Kurowski.

Die Kirchenaustrittszahlen sind alarmierend hoch. Jede und jeder an der kirchlichen Debatte Beteiligte hat seine persönliche Erklärung dafür. Im allgemeinen Krakeel, ob die Kirche nun zu links, zu rechts, zu politisch oder zu fromm, zu männerlastig oder zu woke sei, freut man sich sehr, wenn sich nüchterne Wissenschaft zu Wort meldet.

Insofern hatte ich durchaus Erwartungen an das neue Buch von Thomas Martin Schneider, der sich auf dem Klappentext als apl. Professor für Kirchengeschichte mit Schwerpunkt Kirchliche Zeitgeschichte ausweist. Gerade auf Themenfeldern wie Politik, Sport und Religion, wo jede und jeder sich eine Meinung leisten darf, ist Expertise von unschätzbarem Wert. Gesteigert wurde diese Erwartung noch durch den Deutschlandfunk, in dem es aus dem Mund von Andreas Main hieß: „Wer die Evangelische Kirche in Deutschland etwas besser verstehen will, kommt nicht um das neue Buch von Thomas Martin Schneider herum“. Es sei nicht hochtrabend, sondern in bestem Sinne lutherisch, wie Schneider „dem Volk aufs Maul“ schaue.

Um es gleich vorwegzunehmen: Diese hohen Erwartungen wurden bitter enttäuscht. Zwar benennt Schneider im Vorwort als Problem der Zeitgeschichte, dass man als Zeitzeuge „Feind“ des Historikers sei, doch gelingt es ihm trotzdem selten, eine innere Distanz zu seinen eigenen Wahrnehmungen und Beobachtungen aufzubauen. So liest sich vor allem der zweite Teil des Buches als eine Sammlung von Befindlichkeiten eines älteren Herren, der sich in seiner eigenen Kirche zunehmend fremd fühlt. Dieses Gefühl will ihm gewiss niemand in Abrede stellen, sicher ist er damit auch nicht allein, aber das Ziel einer wissenschaftlich fundierten zeitgeschichtlichen Analyse wird so verfehlt.

Die Auswahl der von ihm dargestellten Ereignisse wirkt hochgradig eklektisch. Warum ist ein ZEIT-Artikel der New Yorker Auslandspastorin Miriam Groß, in dem sie sich positiv über Desmond Tutu äußert, wirklich relevant für das große Thema „Kirche und Israel“? Verliert die Kirche wirklich ihre Mitte, wenn im Magazin Chrismon die Band „Pussy Riot“ porträtiert wird? Schneider behauptet, die Politisierung der Kirche verschärfe sich in unserer Zeit, übersieht aber zum Beispiel, dass Evangelische Kirchentage heute nicht mehr so politisch einseitig sind wie in den 1980er Jahren, sondern viel nachdenklicher, vielstimmiger und offener. Wurde Bundeskanzler Helmut Kohl in Frankfurt 1987 noch ausgepfiffen – was Schneider offenbar tief getroffen hat – füllte Markus Söder 2023 die große Frankenhalle auf dem Nürnberger Kirchentag. Wenn ich das Buch eines Wissenschaftlers lese, möchte ich eigentlich von solchen „gefühlten“ Wirklichkeiten des Autors verschont bleiben.

Sieht so eine Kirche der Zukunft aus?

Das ganz große Problem des Buches ist aber seine Provinzialität. Schon im ersten Teil fokussiert Schneider ausschließlich auf die deutsche kirchengeschichtliche Entwicklung, vor allem auf das Verhältnis von Kirche und Politik. Damit verliert er nicht nur die gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen fast aus dem Blick, sondern auch den internationalen Horizont. Der fehlt völlig. Das erweist sich als folgenreich für die folgenden Kapitel, weil man den Eindruck gewinnt, der Niedergang der Volkskirche sei ein hausgemachtes deutsches Problem und könnte daher auch mit Hausmitteln gelöst werden. Ein kurzer Blick nach England, Skandinavien, ja sogar in die islamische oder jüdische Welt hätte gereicht, den Niedergang traditioneller, verfasster Religiosität auch anderswo festzustellen und die deutsche Entwicklung einzuordnen.

Folgerichtig kommt das EKD-Papier „Kirche der Zukunft“, in dem gerade die von Schneider geforderte Fokussierung auf erfolgreiche Gemeinden mit überzeugenden inhaltlichen Konzepten versucht wurde, im zweiten Teil gar nicht vor, sondern wird im vierten Teil als Lösung präsentiert. Da fehlt allerdings der viel rezipierte Artikel von Thies Gundlach (Wohin wächst der Glaube? Pastoraltheologie 107, 2018, S. 427-135, Download (€)), der im Kirchenamt der EKD an der Umsetzung von „Kirche der Zukunft“ arbeitete, und einräumen musste, dass der Versuch, wenigstens lokal oder regional „gegen den Trend“ wachsen zu wollen, eine Mischung aus Hybris und Überforderung war. Denn der Trend ist global und kümmert sich wenig um deutsche Versuche mit einem Sandschäufelchen die Gezeiten aufzuhalten.

Das alles nimmt Schneider nicht zur Kenntnis, und so überrascht es leider wenig, dass im dritten Teil nur alte Rezepte aufgewärmt werden, die in ihrer Einfältigkeit geradezu rührend wirken. „Das Hauptproblem der evangelischen Kirche“ so liest man, sei „die mangelhafte Nachwuchsarbeit, die unzureichende oder gar fehlende gemeinde- und evangeliumsnahe Kinder- und Jugendarbeit“ (S. 154). Da fragt man sich wirklich, in welchem Paralleluniversum er diese Erkenntnis gewonnen haben könnte.

Nicht nur, dass alle Kirchenvorstände aller Gemeinden alle Pastorinnen und Pastoren damit nerven, doch etwas für Kinder und Jugend anzubieten, nicht, dass die Landeskirchen landauf landab Millionen in Jugendpfarrämter, Jugendwerke, Pädagogische Institute und Fortbildungen investieren, und dennoch die Zahlen permanent sinken. Schneider ist sich auch nicht zu schade, sogar die Bemühungen, den schwindenden Rest noch zu halten und zu motivieren als „Konfiarbeit“ in Tüddelchen zu desavouieren und genau jene „Bibelgesprächskreise“ zu fordern, die uns in die Milieu-Verengung gymnasialer Debattierklubs getrieben haben, für die es heute einfach keine Nachfrage mehr gibt.

Auch ist es ja keineswegs so, dass heute alle Gemeinden Umwelt- und Friedensgruppen unterhielten, und die Bibel zu kurz komme. Seit den 1980er Jahren sind mit Sicherheit mehr Dritte-Welt-Läden, Friedensgebete und Umweltgruppen eingegangen als Bibelkreise, Konfirmanden- und Religionsunterricht. Aber Statistik kommt in dem Buch kaum vor. Die fortschreitende Politisierung der Kirche ist eine der gefühlten Wahrheiten, von denen es in der aktuellen Diskussion mehr als genug gibt. Warum das, was in Schneiders Jugend so toll lief, heute nicht mehr funktioniert, muss unbedingt an der inhaltlichen Schwäche der Kirche liegen, nicht etwa an gesellschaftlichen Veränderungen, kulturellen Entwicklungen, Demographie oder Generationenwechsel. Für seine Behauptung, die Jugend von heute sei brennend interessiert, religiöse Fragen „zu reflektieren und zu diskutieren“ bleibt er jeden Beleg schuldig.

Im weiteren hofft man vergeblich, dass genau die sozio-politische Erkenntnis, dass die „Mitte der Gesellschaft“ sich verschiebt, dass das, was einmal bürgerlich war, heute eher an den Rand gerät, und die gebildete Mittelschicht heute ziemlich grün ist, von Schneider wertungsfrei zur Kenntnis genommen würde. Dann wäre es nämlich auch normal, dass die Kirche in der Folge eben auch „grüner“ wird – gerade weil sie sich zu sehr auf die gebildete Mitte als ihr Klientel eingerichtet hat. Aber fordert er eine gesellschaftliche Öffnung, gar eine Proletarisierung der Kirche? Was ich bei ihm lese, resultiert vielmehr in einer weiteren Milieuverengung auf eine rechte Mitte, die seiner Meinung nach allein in Anspruch nehmen darf „gemeinde- und evangeliumsnah“ zu sein.

Eine Kirche der Reformation?

Im letzten Teil des Buches unternimmt Schneider den Versuch, die reformatorische Kernbotschaft als Mitte der Kirche neu zu definieren. Das ist theologisch sicher ehrenwert, hängt aber ohne die grundlegende Bestimmung des globalen und gesellschaftlichen Kontextes merkwürdig in der Luft. Eine Sündenlehre zu entwerfen, die rein individualistisch auf mein mögliches Versagen im privaten oder beruflichen Umfeld abhebt und das Verhängnis von Ungerechtigkeit, Schuld und Gewalt in unseren geschichtlichen Voraussetzungen, unserer globalen Vernetzung und gesellschaftlichem Versagen ausblendet, bleibt hochgradig defizitär.

Wenn dann eine individuelle Heilsgewissheit gegen die „scheiternden Weltverbesserungsstrategien“ ausgespielt wird, die der Autor zudem als „Flausen“ diffamiert, kann einem Angst und Bange werden. Angesichts von imperialistischen Kriegen in Europa und einer sich global verschärfenden Klimakrise die Kirche zu neuer Innerlichkeit aufzurufen, hat etwas Gespenstisches.

Als engagierter Gemeindepastor lege ich das Buch mit einem tiefen Seufzer der Enttäuschung zur Seite. Ich suchte Expertise und bekam Empfindlichkeiten. Sicher sind sie die Gedanken des Autors als solche auch zur Kenntnis zu nehmen. Wir haben eine Generation hochverbundener Menschen in unserer Kirche, die droht, sich in ihrer Glaubensgemeinschaft fremd und heimatlos zu fühlen. Das ist ohne Frage ein wichtiges, nicht zuletzt seelsorgliches Anliegen, das wir ernst nehmen müssen. Den Schmerz, nicht mehr „die Mitte“ zu sein, mit ihren Themen nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen, müssen wir verstehen.

Aber eine Perspektive, die das Buch mir verspricht, kann ich darin für meine Arbeit nicht entdecken. Denn – das wird den Leser vielleicht überraschen – ich teile Schneiders Kernanliegen, dass wir als Kirche zuallererst für die Menschen vor Ort da sein müssen, und unsere wichtigste Aufgabe ist, glaubwürdig von Jesus Christus zu erzählen, was er gesagt, getan und gelitten hat. Dabei dürfen wir den Verlust von Mitte, von Tradition und Relevanz betrauern – aber bitte ohne auf vermeintlich Schuldige mit dem Finger zu zeigen, oder in Selbstmitleid zu versinken.


Thomas Martin Schneider
Kirche ohne Mitte?
Perspektiven in Zeiten des Traditionsabbruchs
EVA Leipzig 2023
200 Seiten
22 €
Website


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