„Mit Glauben und Aktivismus ernst machen“

Die politische Theologin Dorothee Sölle kann uns noch 20 Jahre nach ihrem Tod inspirieren, auch wenn manche ihrer „einfachen Antworten“ heute nicht mehr tragen.

Mit Sarah Jäger hat Eule-Redakteur Philipp Greifenstein im Rahmen des Projekts „WIDERSTAND! Dorothee Sölle & der Osten“ ein ausführliches Gespräch über die politische Theologie Dorothee Sölles geführt. Hier ist es als Video auf YouTube und auf soelle-und-der-osten.de zu finden. Einen Teil des Gesprächs veröffentlichen wir hier in einer bearbeiteten Fassung.


Eule: Seitdem vor einem Jahr Russland den Krieg gegen die Ukraine ausgeweitet hat, finden wieder sehr viel häufiger Friedensgebete an vielen Orten in den Kirchen statt. Wenn man sich die Liturgien dieser Veranstaltungen anschaut, steckt da ganz viel vom Politischen Nachtgebet Dorothee Sölles drin.

Jäger: Das Politische Nachtgebet hat Sölle berühmt gemacht, und zwar auch durch die mediale Aufnahme und die darin enthaltene kirchenkritische Haltung. Sie selbst hat in diesem Kontext gesagt: „Jeder theologische Satz muss zugleich auch ein politischer sein.“ Das spiegelt sich im Ablauf des Nachtgebets wieder. Es geht darum, den Kontext, in dem wir leben, so lange zu lesen und zu diskutieren, bis er nach Theologie schreit, bis die Bibel in unser Leben hineinspricht und wir mit ihr ins Gespräch gehen.

Das hat eine ganz hohe Bedeutung auch für unsere Gegenwart, auch wenn es nicht heißt, dass wir damit zu einfachen Antworten kommen. Wir wissen nämlich nicht in aller Eindeutigkeit, wie es jetzt um die Frage der Waffenlieferungen bestellt ist. Wir haben vielleicht keine bessere Ideen als Politiker:innen dazu, wie verhandelt werden soll zwischen Ukraine und Russland. Aber zumindest haben wir die Dinge vor die, vor Gott, gebracht, die sie wenden kann. Da, wo wir selbst es nicht mehr können.

Eule: Sölle will anschlussfähig theologisch sprechen in die Öffentlichkeit hinein, auch mit Menschen, die nicht an Gott glauben. Das tut sie ausgerechnet, indem sie die Bibel liest. Steckt da nicht ein irrer Widerspruch drin?

Jäger: Ja, das ist ein Widerspruch, in dem Sölle verbleibt. An einer Stelle erzählt sie davon, dass ihre marxistischen Freunde sie immer fragen würden, warum sie doch glaube. Und dann spricht sie von der Hoffnung, die sie trägt. Die Bibel ist für sie auch eine Sammlung von Widerstandserfahrungen. Sie sagt immer wieder sinngemäß: Wir können doch nicht Propheten wie Amos lesen und dann nicht in unsere Gegenwart hinein sprechen lassen wollen!

Und die Bibel ist für Sölle natürlich auch ein Zeugnis von den Transzendenzmomenten, die sie in sich trägt: Wenn Sölle über die Auferstehung schreibt: „Ach fragt nicht nach der auferstehung / ein märchen aus uralten zeiten .. ich richte mich ein / auf die langsame gewöhnung ans totsein / in der geheizten wohnung / den großen stein vor der tür / Ach frag du mich nach der auferstehung / ach hör nicht auf mich zu fragen.“ Für Sölle überliefert die Bibel etwas, das jenseits unseres menschlichen Lebens ist, das unser menschliches Leben trägt und verändern kann.

Eule: In dem Material, das Dorothee Sölle verwendet, ist sie ganz die Tochter aus bürgerlichem Hause.

Jäger: Sie ist bürgerlich auch in der Art und Weise, wie sie in Deutschland lebt. Aber sie weiß darum selbstverständlich auch. Und sie erzählt in ihrer ganzen Theologie immer wieder auch ihre eigene Biographie nach, deutet sie immer wieder neu. Sie bleibt natürlich die bürgerliche Tochter, die als eine der wenigen Frauen ihrer Generation etwas studieren konnte, das nicht direkt in einem Beruf mündete. Sie studiert Theologie, aber der Beruf der Pfarrerin ist überhaupt nicht greifbar für ihre Frauengeneration. Sie kann Schriftstellerin werden mit kleinen Kindern, weil es elterliche Unterstützung gibt. Nein, sie lässt nicht alles hinter sich.

Eule: Sie geht nicht in den „theologischen Untergrund“.

Jäger: Nein, ihr Widerstand ist einer der Veröffentlichungen, des öffentlichen Sprechens und auch der Teilnahme an Demonstrationen. Sie nimmt Teil an Friedensdemonstrationen, an Blockaden von Castor-Transporten der Anti-Atomkraft-Bewegung. Sie nennt das Formen des zivilen Widerstandes. Sie wird auch inhaftiert. Es ist nie ein totaler Widerstand und trotzdem so viel mehr, als viele andere Theolog:innen jemals gewagt hätten.

Eule: Auch heute wird diskutiert, was man von Vertreter:innen der Kirche und von Theolog:innen erwarten darf: Kleben die sich irgendwo fest für das, was ihnen wichtig ist? Ist die Attraktivität der Theologin Dorothee Sölle die, dass sie sich mit ihrer ganzen Person verwendet?

Jäger: Ganz sicher, aber sie ist eben auch keine Kirchenvertreterin. Sie tut das nicht im Talar, wie manche Pfarrpersonen in der Friedensbewegung demonstriert haben. Sie ist kirchlich gebunden, aber steht eben auch immer ein Stück weit außerhalb der Institution. Sie ist dadurch freier, weil sich bei ihr damit keine Fragen nach dem Amt verknüpfen. Sie will in ihrer ganzen Selbstinszenierung immer Christin sein, nicht Kirchenvertreterin.

Eule: Aber dadurch hält sie auch Menschen in der Institution, oder? Auch heute gibt es ja Menschen, die so halb draußen stehen, aber die durch ihr Wirken auch einen stabilisierenden Effekt für die Institution haben, der vielleicht von ihren Gegnern gar nicht ausreichend gewürdigt wird. Über Sölle wird immer wieder gesagt: Wir sind in der Kirche geblieben und haben uns in der Gesellschaft als Christ:innen positioniert wegen ihr.

Jäger: Ihr Wirken war ganz sicher ein Resonanzboden für ganz viele Menschen, die sich selbst als links-protestantisch empfanden, die glaubend mit linken Idealen die Gesellschaft gestalten und verändern wollten. Damit hat sie, um einmal ihre Worte zu gebrauchen, Kirche auch wieder bewohnbar für Menschen gemacht. Sölle hat viele Basisgruppen in der Kirche inspiriert: Frauengruppen, Umweltgruppen, Gruppen, die sich als sog. „Dritte-Welt“-Gruppen gegründet haben. Da sind überall Menschen, die viel von ihr lernen und die in ihr eine Vorbildgestalt, eine Hoffnungsträgerin sehen.

Eule: Wo ist dieser Links-Protestantismus hin? Ist er in die Kirche eindiffundiert? Wenn man sich die Liturgien der Friedensgebete anschaut, könnte man meinen, dass ganz viel von Sölles politischer Theologie „allgemein“ geworden ist. Oder ist sie doch zu großen Teilen verschwunden?

Jäger: Was man für Theologie und Kirche insgesamt sagen kann, ist, dass der Öffentlichkeitsauftrag von Kirche völlig unzweifelhaft ist. Darauf werden sich evangelische Professor:innen und Theolog:innen verständigen können: Kirche hat Öffentlichkeitsauftrag. Wie dieser aber konkret aussieht und wie „linksgefärbt“ er sein sollte, das ist hoch umstritten. Der EKD wird ja immer wieder „linksgrüne Versifftheit“ vorgeworfen. Ich glaube, das überschätzt das links-grüne Potential der EKD bei Weitem. Trotzdem ist der Vorwurf natürlich auch ein Zeichen dafür, dass Positionen, wie sie Sölle vertreten hat, in einer weicheren Form durchaus in die Kirche eingewandert sind. Das hat sicher auch etwas mit Generationenkohorten zu tun, die heute im Pfarramt und in Leitungspositionen sind.

Trotzdem ist da noch viel Luft nach oben, was den politisch-gesellschaftlichen Auftrag angeht, vor allem in der evangelischen Theologie und Ethik. Mein Eindruck ist: Die Bewegung, die wirklich ernsthaft versucht, Aktivismus und Theologie zusammenzudenken, ist stark zurückgegangen. Ich glaube, da könnte evangelische Theologie noch viel lernen, wenn wir Sölle nicht unbedingt wieder-, sondern überhaupt einmal entdecken.

Eule: Was genau?

Jäger: Ernst zu machen mit Glauben und Aktivismus, mit Aktivismus und Theologie – den Gedanken wenigstens einmal zu Ende zu denken, welche Auswirkungen unsere wissenschaftlich-theologischen Positionen haben können. Viel zu häufig erwecken wir den Eindruck, dass unsere theologischen Diskurse alleine schon genügen würden. Als ob es genügen würde, wenn wir einander zitieren, aufeinander Bezug nehmen und gar nicht mehr danach fragen, was das für Kirche bedeutet, für Kirchengemeinden, für Christ:innen, aber auch für die Gesellschaft, in der wir leben.

Eule: Ich denke zurück an die letzte Phase der öffentlichen Wirksamkeit Dorothee Sölles bei den Protesten gegen die Kriege nach dem 11. September. Sölle sagt zum dräuenden Irak-Krieg: „Nicht in unserem Namen!“  Damit ist die Frage nach der Verantwortbarkeit des christlichen Pazifismus gestellt.

Jäger: Das ist, was ich vorhin einmal als „selbstgerecht“ bezeichnet habe. Ich glaube, dass wir die Ambivalenzen in unserer Welt noch viel stärker auch theologisch thematisieren müssen. Es gibt keine einfachen Antworten. Wir können uns nicht einmal auf die Position zurückziehen, dass wir in jedem Fall schuldig werden. Schuldig, das sind wir schon lange. Durch unseren Konsum, durch all die anderen Dinge, die wir so tun. Schuldig werden wir auch in jeder Position, die wir jetzt im Ukraine-Krieg einnehmen.

Ich glaube, heute wäre es wichtig, miteinander zu ringen darüber, was im Moment das Richtige sein könnte und miteinander zu beten für diejenigen, die in der Ukraine leiden, in einer entsetzlichen Weise leiden, aber auch für den Friedensprozess als Ganzes. Da helfen uns vielleicht die ganz einfachen Antworten von Sölle, „richtig“ und „falsch“, „schwarz“ und „weiß“ und ich – Sölle – stehe auf der richtigen Seite, nicht mehr weiter.

Eule: Es gibt in Deutschland und auch im Osten Anti-Amerikanismus, der sich aus ganz unterschiedlichen Quellen speist. Eine eigentümliche Spielart davon gab es auch bei Sölle, selbst in dem Satz „Wir sind mit dem anderen Amerika verbündet“, in dem ja ganz viel Liebe und Sehnsucht nach diesem Freiheitsort Amerika drinsteckt. Gab es dieses „andere Amerika“ wirklich? Gäbe es heute so etwas wie das „andere Russland“?

Jäger: Sölle macht es sich da auch einfach, wie auch Teile der westdeutschen Friedensbewegung, wenn die Demonstrant:innen rufen: „Ami go home!“ Als ob alles so einfach wäre! Aber sie hat natürlich diese anderen Vereinigten Staaten am Union Theological Seminary gefunden. Also an einer ein bisschen quer zur akademischen Theologie laufenden Institution, an der früh schon post-koloniale Strukturen diskutiert wurden, an der Menschen gelehrt haben, die bunter waren, als herkömmliche Theologie ist, in Deutschland auf jeden Fall, aber eben auch in den USA.

Sölle sucht immer wieder widerständige Gruppen in den USA, sucht Personen, die anders denken und von einer anderen Hoffnung getragen sind. Diese Suche könnte eine Parallele zur Situation heute in Russland sein, wo es auch Menschen im Widerstand gibt. Menschen, die sich Dinge anders wünschen, die versuchen, sich zu organisieren. Diese Menschen wirklich zu suchen und zu unterstützen – ohne einfache Antworten – das wäre heute dran.

Eule: Das „andere Deutschland“, die real existierende DDR, spielt bei Dorothee Sölle eine untergeordnete Rolle. Was für ein Bild hat sich Sölle denn vom Sozialismus gemacht?

Jäger: Ja, sie hatte überraschend wenig Interesse an der DDR, wie sie tatsächlich war. Ihr ist Lateinamerika immer näher als die DDR. Sie lernt Spanisch, um dort reisen zu können. Sölle hat ein sehr utopisches Bild vom Sozialismus. In diesem Bild kommt auch die Sowjetunion nicht vor, die neben einem idealisierten Bild von Lateinamerika ja ein Beispiel dafür gewesen wäre, wie Sozialismus tatsächlich aussieht. Dorothee Sölles Sozialismus ist ein utopischer Hoffnungssozialismus, der eher eine Zukunftsvision ist als ein reales Beispiel dafür darstellt, was man politisch machen könnte.

Eule: Die politische Theologin Dorothee Sölle ist hoch international. Wo aber bleibt denn die politische Theologin Dorothee Sölle ganz deutsch?

Jäger: Sie ist in ihrem Selbstverständnis westdeutsch, vor allem dort, wo sie die eigene Verwurzelung auch in der Geschichte des „Dritten Reichs“, des Nationalsozialismus und der Shoah thematisiert. Das ist Teil ihres Weges in die Theologie hinein. Sie spricht von einer bleibenden deutschen Schuldgeschichte, die auch in die Theologie hineingedacht werden muss. Theologie kann für ihre Generation nur „Theologie nach Auschwitz“ sein – und muss damit ernst machen.

Sölle ist diejenige, die auf der ÖRK-Versammlung sagt: „Ich spreche zu Ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Erde kommt, einem Land mit einer blutigen, nach Gas stinkenden Geschichte, die einige von uns Deutschen noch nicht vergessen konnten; einem Land, das heute die größte Dichte von Atomwaffen in der Welt bereithält.“ Ein Satz, für den sie von Kritikern – auch aus ihrer Kirche – hart angegangen wurde. Sie macht ganz klar: Ich bin deutsche Theologin, mein Denken ist davon geprägt und daran muss ich mich auch abarbeiten.

Eule: Zu proklamieren, dass man aus dem Volk der Täter kommt, ist das eine. Das ist, so schwierig das für Sölles Generation war, heute häufig eine Selbstverständlichkeit, aus der dann nichts folgt. Was folgt für Dorothee Sölle aus dieser Verantwortung?

Jäger: Aus ihr folgt für Dorothee Sölle alles. Ihre ganze Theologie ergibt sich für sie aus diesem Schuldzusammenhang, aus dem Tätervolk zu kommen. Das betrifft ihr Gottesbild, ihre Auffassung von Jesus Christus, das betrifft vor allem ihr Denken über die Widerständigkeit von Theologie. Alles steht für sie unter dem Paradigma des „Nie wieder“. Nie wieder Nationalsozialismus, nie wieder Shoah.

Zu diesem „Nie wieder“ gehört für sie auch das Wissen darum, dass Waffen Frieden schaffen können. Sie ist selbstverständlich Pazifistin, die nach anderen Möglichkeiten als Waffengewalt und Aufrüstung sucht. Aber sie weiß eben auch, dass das nationalsozialistische Regime nur durch Militär zum Ende gekommen ist.

Eule: Wo finde ich denn „die Sölle“, die ich jetzt im Jahr ihres 20. Todestages kennenlernen kann?

Jäger: Wir neigen in der akademischen Theologie dazu, ganz viele Texte der Vergangenheit zu lesen. Und dann lesen wir in Uni-Seminaren noch so ein, zwei Texte der Gegenwart. Ich lese dann mit meinen Studierenden manchmal Dorothee Sölle. Dann weisen sie mich zu Recht darauf hin, dass Dorothee Sölle keine Gegenwart mehr ist. Sie zeigen mir auch in ihrer Rezeption der Texte, wie stark Sölle zeit- und kontextgebunden ist. Wie viel man wissen muss von dieser Zeit, um ihr Denken zu verstehen.

Aber ich erlebe auch immer wieder, dass sie inspirierend wirken kann für Studierende, gerade in dieser starken biografischen und zeitgebundenen Art und Weise zu denken. Ich glaube schon, dass ihre Theopoesie etwas ist, das uns als Christ:innen inspirieren kann, aber auch als diejenigen, die akademisch theologisch nachdenken. Sölle kommt einem nahe über die Gedichte und über diejenigen Texte, in denen sie ganz stark narrativ ihre eigene Biografie entfaltet. Ich glaube, diese Texte können Appetizer sein, die Lust machen, sich auch mit den schwergängigeren Texten auseinanderzusetzen. Wenn man das denn möchte.

Eule: Lohnt sich’s?

Jäger: Ich würde nach wie vor sagen: Sölle ist eine der Riesinnen, auf der Schultern wir stehen. Und sie zu lesen, mit ihr zu diskutieren und mit ihr und anderen zu streiten, das trägt etwas aus für Theologie heute.

WIDERSTAND! Dorothee Sölle & der Osten

Am 27. April 2003 verstarb die Theologin und Dichterin Dorothee Sölle. Keine andere deutschsprachige Theologin hat im 20. Jahrhundert eine so bedeutende und weitreichende Wirksamkeit entfaltet wie sie. Die Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt und Die Eule fügen dem Gedenken an Dorothee Sölle wichtige ostdeutsche Perspektiven hinzu: „WIDERSTAND! Dorothee Sölle & der Osten“.

In Gesprächen, Artikeln und Veranstaltungen kommen Menschen zu Wort, die von Sölles Beziehung zum und Denken über den Osten berichten. Wo haben sich DDR-Oppositionelle von Sölle inspirieren lassen. Wo gab es Dissens? Was kann uns die politische Theologin Dorothee Sölle heute bedeuten?


Interview und Bearbeitung: Philipp Greifenstein