Musiker*innen-Bücher: Glaube, Träume, Instagram

Drei Musiker*innen schreiben über ihre Kunst und die Beziehung zu ihrem Publikum, zu ihren Fans – den Menschen, mit denen sie ihr Leben teilen. Drei Bücher, die nicht nur auf den Gabentisch, sondern in unsere Zeit passen.

In diesem Herbst legten wieder zahlreiche Musiker*innen Bücher über sich und ihr Schaffen vor, die sich garantiert als Gabe unter dem Weihnachtsbaum eignen. Doch es muss ja nicht immer eine Autobiographie sein. Drei ungewöhnliche, intensive Bücher geben Einblick in Ängste und Träume, Glauben und Hoffnung, Veränderung und Entwicklung von drei Ausnahme-Musiker*innen.


„Jeder Tag ist kostbar“ (Patti Smith)

Am 20. März 2018 eröffnet Patti Smith ihren Instagram-Kanal @thisispattismith. Die „Godmother of Punk“ sieht sich selbst vor allem als Lyrikerin, zählte aber über viele Jahre auch eine alte Polaroid-Kamera zu ihren täglichen Begleitern. Nun, mit dem Mobiltelefon anstelle der Polaroid, gelingt Smith etwas, was wenigen Künstler*innen ihrer Generation so zwanglos von der Hand gehen dürfte: Eine Social-Media-Plattform jenseits von allem „Social-Media-Marketing“ zu nutzen, um die künstlerische Handschrift weiterzuentwickeln und ihren ureigensten Themen an einem neuen Ort Wirkung zu verleihen. Nachzuerleben in dem jüngst bei KiWi erschienen „Buch der Tage“, für das Smith 366 Beiträge der letzten Jahre kuratiert hat.

366 Beiträge? Patti Smith hat einen immerwährenden Kalender kreiert, der Lust auf jeden einzelnen Tag macht. Aus ihrem Instagram-Feed gespeist, beginnt ihr „Tagebuch“ mit dem 1. Januar und führt durch alle Tage eines Jahres – auch an den 29. Februar ist gedacht. Für jeden Tag finden sich Bild und ein kurzer Text, persönliche Fotos, Reminiszenzen an Vorbilder und Zeitgenossen, auch Cat Content kommt vor.

„Viele Einträge sind Gedenkstücke“, schreibt Patti Smith im Vorwort, und im Jahreslauf gedenkt sie an zahlreiche Vorgänger und Wegbegleiter. An Dichter*innen wie Albert Camus, Haruki Murakami, Joan Didion oder Arthur Rimbaud, an Musiker-Kolleg*innen wie Joni Mitchell, Joan Baez, Bob Dylan oder Jimi Hendrix, natürlich an den an AIDS verstorbenen Freund Robert Mapplethorpe oder ihren zu früh gestorbenen Ehemann Fred „Sonic“ Smith. Dazwischen Bilder von Greta Thunberg, von ihrer Tochter Jesse, von Reisen und Tourneen, von Kunstwerken und Landschaften.

Patti Smiths „Buch der Tage“ versammelt Fragmente eines Bewusstseinsstroms, die ihren eigenen Rausch erzeugen. Im Gespräch miteinander wandern die Beiträge durch die Zeit, pendeln assoziativ zwischen den zahlreichen Perspektiven und Ebenen, die das Leben wertvoll und oft unbegreiflich machen: ein Dialog zwischen Lebenden und Toten, eine Würdigung des Alltags und der Kunst.

„Jeder Tag ist kostbar, weil wir noch atmen und uns davon berühren lassen, wie das Licht auf einen hohen Ast fällt, auf einen Arbeitstisch am Morgen oder auf den Grabstein eines verehrten Dichters“,

so Patti Smith. Den in kulturkonservativen Kreisen so oft der Oberflächlichkeit bezichtigten sozialen Netzwerken einen so tiefen Humanismus, eine so unaufdringliche Poesie gestiftet zu haben, ist eine künstlerische Leistung, die in Buchform mehr als gebührend gewürdigt wird.


 „Ich will mein Leben zurück!“ (Judith Holofernes)

Ja, klar: Facebook, Instagram & Co. haben die Arbeit von Musiker*innen grundlegend verändert. Das betrifft nicht zuletzt das Verhältnis zu den Fans. Die Beziehung zwischen Fans und Künstlern „ist real“, sagt Judith Holofernes, „und die Zuneigung ist, in den allermeisten Fällen, echt und ehrenwert. Und vor allem: beidseitig. Wir kennen uns nicht, aber wir kennen uns gut“. Die einstige Frontfrau von „Wir sind Helden“ hat diesen Herbst ein Buch veröffentlicht, nach dessen Lektüre man die Berliner Musikerin so gut zu kennen meint, dass es fast schmerzt. In „Die Träume anderer Leute“ erzählt sie aus ihrem Leben und von ihrer Arbeit nach der Auflösung der „Helden“ im Jahr 2012. Und erzählt im Grunde zwei Geschichten.

Die eine Geschichte handelt von der Frontfrau einer der erfolgreichsten Bands des Landes, die nach dem Ende ihrer Band eine Solokarriere beginnt und ins Straucheln kommt. Denn die auf Verwertung ausgerichteten Regeln des Musikgeschäfts widersprechen den kreativen Freiräumen, die Holofernes mit ihren Soloplatten „Ein leichtes Schwert“ (2014) und „Ich bin das Chaos“ (2017) lustvoll erforscht. „Alles, was neu war an mir“, so schreibt sie, war „unter kommerziellen Gesichtspunkten ein Flop“. Was tun? Musikerkollegin Amanda Palmer hilft ihr beim Start einer Crowdfunding-basierten Fan-Community auf Patreon. Seitdem hat sich eine Schar von Patreons (fka Fans) um sie versammelt, die mit kleinen regelmäßigen Geldbeträgen die vielseitigen Aktivitäten von Judith Holofernes unterstützen. Auch ihr Buch entstand in engem Dialog mit ihren Patreons.

Empfiehlt sich „Die Träume anderer Leute“ auf dieser Ebene vor allem als Handbuch für Musiker*innen, um ihre eigene Arbeitsweise und Kommunikationsform zu finden und sich ihres Verhältnisses zur Musikindustrie bewusst zu werden, so ist das 400-seitige Memoir von Judith Holofernes aber auch für Nicht-Musiker*innen – und auch für Nicht-Helden-Fans – von Interesse.

Denn Holofernes, die sich schon in ihren Lyrics als begnadete Wortkünstlerin erwies, schreibt nicht nur unterhaltsam, dicht und humorvoll, sondern zeigt sich ehrlich und offen in all ihrer Verletzlichkeit, ihren Widersprüchen, ihren Fehlern. Schonungslos erzählt sie davon, wie sich die eigenen Träume und die Erwartungen (eben: Träume) anderer Leute bekriegen. Und wie schwer, wie notwendig es ist, das eine vom anderen unterscheiden zu lernen. „Ich will mein Leben zurück“, sang sie am Anfang ihrer Karriere. Doch was genau ist das: mein Leben? Judith Holofernes erzählt die beeindruckende Geschichte einer Frau, die auszieht, das eigene Leben zu suchen und sich mehr als ein blaues Auge holt.

„Ich bin inzwischen überzeugt, dass die einzige Rettung darin liegt, zu möglichst großer emotionaler Freiheit zu kommen. Immer weniger Panzer zu brauchen gegen die Bescheuertheit der Welt.“


„Jedes Leben ist prekär“ (Nick Cave)

Nick Cave hat in den letzten Jahren einige Panzer abgeworfen, hat sich auf eine Weise verändert, die Bewunderung, Verstörung, Abwehr gleichermaßen auslösen kann. Auch er reflektiert nun in einem umfangreichen Band öffentlich über die Veränderungen in seinem Leben. Er hat dazu in Seán O’Hagan einen aufrichtigen Gesprächspartner gefunden, der mit klugen, kenntnisreichen Fragen die Gespräche lenkt und den Musiker auch mal in seiner Gesprächigkeit bremst.

Moment: Gesprächigkeit? War Nick Cave, dieser „Schmerzensmann“ der dunklen Indie-Musik, nicht bekannt dafür, Interviews zu meiden wie ein Vampir das Tageslicht? Ließ er nicht seine intensiven, mit biblischen Motiven vollgepackten Songs für sich sprechen? Was ist passiert?

„Das eine, das alles verändert hat, ist die Tatsache, dass Arthur gestorben ist“, sagt Cave. Sein 15jähriger Sohn kommt 2015 bei einem Sturz von den Klippen ums Leben. Für Cave und seine Frau Susi ein tiefer Schnitt, der das Leben in ein Davor und ein Danach trennt. Immer wieder betont Cave, wie uninteressant es für ihn ist, über sein früheres Selbst zu sprechen:

„Ich kann über diese Dinge reden, die Drogen, alles das, aber die Vergangenheit hat keinen Wert, sie besitzt keine eigentliche Bedeutung.“

In der Folge gerät Nick Cave in einen Schaffensrausch sondergleichen: Allein drei Studioalben entstehen mit seinem Partner Warren Ellis. Neben diversen anderen Aktivitäten startet er „The Red Hand Files“: Eine Website, auf der er an ihn gesendete Fragen beantwortet. Sind es zunächst klassische Fragen von Fans an einen Musiker, so werden die Themen mit der Zeit immer persönlicher. Es sei, so Cave, wie ein „Buch der Sehnsucht – so real und so rau“. Und Cave, der nach wie vor diszipliniert, in regelmäßigem Turnus antwortet, beschreibt: „Für mich geht es bei „The Red Hand Files“ nicht nur darum, eine Frage zu beantworten. Es geht im Wesentlichen darum, einer Frage zuzuhören.“

In dem Maße, wie sich Caves Verhältnis zu seinen Fans ändert, ändert sich sein Selbstverständnis als Künstler. Da ist zum Beispiel seine 2019er Tournee „Conversations with Nick Cave“: Abend für Abend setzt er sich den spontanen Fragen der Konzertbesucher aus und antwortet offen, persönlich, verletzlich. Es sind das Abende einer großen, vertrauensvollen Gemeinschaft, in der sich die Menschen einander öffnen, Leben – und Leiden – teilen. Und daraus, aus der Schwäche und dem Kontrollverlust, etwas Neues, Starkes entsteht.

„Das war also eine große Veränderung in meinem Denken, das ist sicher: die Sorge um das Ergebnis meiner künstlerischen Entscheidungen aufzugeben und die Würfel so fallen zu lassen, wie sie halt fielen. Diese Idee zieht sich durch alles, was ich seitdem tue.“

In „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ schildert Nick Cave in schonungsloser Offenheit, wie es sich anfühlt, wenn deine Welt von einem Augenblick zum anderen zu einem Schauplatz des Gemetzels und des Leids wird. Er steigt hinab in die Tiefe der Trauer und beschreibt, was sich da finden lässt: Die ganze Schönheit der Welt, alle Gründe zu leben und die beständigen Wurzeln der Liebe. Die Gespräche, abgedruckt auf 300 Seiten, handeln viel von Musik und Kunst, klar, im Kern aber ist dieses Buch eine erstaunliche, schwindelerregende, glasklare Reflexion über die schöpferische Kraft von Glaube, Liebe und Kreativität – und über die „Nützlichkeit“ des Glaubens angesichts der Kontingenz des Daseins.

„Ich glaube, auf gewisse Weise ist meine Arbeit zu einer deutlichen Ablehnung von Zynismus und Negativität geworden. … Das Leben ist verdammt noch mal zu kurz, um ihm nicht mit Ehrfurcht zu begegnen.“