Kultur

Nachdenken über Zeit und Freiheit

Ob über den Wolken oder auf der Autobahn: Der Traum von der grenzenlosen Freiheit scheint vorerst ausgeträumt. Die Philosophin Eva von Redecker nimmt das in „Bleibefreiheit“ zum Anlass, neu über Freiheit nachzudenken.

Es fällt nicht schwer, ihrer Diagnose zuzustimmen: Das liberale Freiheitsverständnis, das die moderne kapitalistische Gesellschaft geprägt hat, stößt an Grenzen. Ja, es zerbröckelt vor unseren Augen. In Zeiten multipler Krisen ist es gar nicht mehr so einfach, die eigene Freiheit auszuleben, ohne jemand anders auf die Füße zu treten. Zumindest war das der große Einschnitt, den die Corona-Pandemie bedeutete: Dass da plötzlich ein Anderer ist, dem zuliebe ich mich einschränken muss.

Natürlich setzten genau an dieser Stelle die Verteidigungsimpulse derer ein, denen die persönliche Freiheit eben doch über alles andere geht. Die Philosophin Eva von Redecker spricht hier von „Phantombesitz“. Eigentlich nämlich ist diese Freiheit ein verzweifelt verteidigtes, aber nie besessenes Gut. Und ganz ehrlich: Die liberale Rhetorik sieht nicht nur in Sachen Tempolimit auf deutschen Autobahnen irgendwie ziemlich alt aus.

Fakt ist: Als Verfügungsgewalt über ein Stückchen Welt, über einen Heizungskeller, ein Auto oder auch nur die eigene (maskenfreie) Nase ist diese Freiheit nur in dem Maß möglich, indem sie die Freiheit anderer ausblendet oder beschneidet. Hebt man einmal die Augen, kommen da noch ganz andere Dimensionen ins Blickfeld: die Grenzen der Erde, der ausgelaugte Boden, die aussterbenden Arten, die Zukunft der Menschheit.

„Hier bleiben und frei bleiben können.“

Von Redecker, geschult in Kritischer Philosophie und aufmerksame Zeitgenossin aktueller Protestformen, skizziert in ihrem neuen, schmalen Büchlein „Bleibefreiheit“ zunächst diesen von ihr kritisierten liberalen Freiheitsbegriff. Freiheit sei, so sagt sie, in der westlichen Tradition mit Bewegungsfreiheit verknüpft. Es geht um Verfügung über einen Raum, den man besitzt, in dem man sich bewegen kann und der im Idealfall eben „grenzenlos“ ist. In letzter Konsequenz herrscht da, wo von Grenzenlosigkeit geträumt wird, vor allem eins: Rücksichtslosigkeit. Auf die Spitze getrieben wird der Traum von der Bewegung durch den Raum nicht in Reinhard Meys Lied „Über den Wolken“, sondern in aktuellen Projekten, die von Mars-Eroberung und – wie beim Longtermism – von der Kolonialisierung des Weltalls schwärmen.

Eva von Redecker setzt solchen Maßlosigkeiten einen eigentlich ziemlich bescheidenen Wunsch entgegen: Sie möchte einfach gern auf der Erde bleiben, dem diversesten, lebendigsten Planeten, den es in diesem Universum je gab. Sie fordert „Bleibefreiheit“.

Im diesem Bleiben steckt eine zeitliche Dimension – und genau um diese geht es ihr in ihrem Essay. An die Stelle einer auf den Raum bezogenen Freiheit setzt sie eine verzeitlichte: Eine Freiheit, die die Zukunft mitdenkt und ermöglicht.

Ein Prisma aus Zeit

150 Seiten Nachdenken über Zeit: Das öffnet paradoxerweise einen unfassbar weiten Raum, in dem sich vortrefflich über erfülltes Sein, die Voraussetzungen von Selbstentfaltung und die Grundlagen des Lebens nachdenken lässt. Trug ihr Vorgängerbuch „Revolution für das Leben“ den Untertitel „Eine Philosophie der neuen Protestformen“, so ist auch dieser schmale Essay alles andere als trocken und akademisch.

Ganz im Gegenteil: Eva von Redecker macht es sich nicht gerade einfach, wenn sie wiederholt verschiedene Freund*innen und Gesprächspartner*innen ins Boot holt, die ihr Fragen, Diskussionsstoff, Kritik oder einfach nur andere Perspektiven schenken. Sie spricht von ihren „sokratischen Widergeistern“, die im Buch schon auch mal den Schreibprozess und Gedankengang der Autorin kritisieren. Das macht das Reden über Freiheit nicht nur diverser, es lässt das Leben in seiner ganzen Fülle ein und erzählt somit selbst von der Zeitlichkeit. Ganz ähnlich wie die Schwalben, die geradezu widerspenstig durch das Buch fliegen.

Das von der Philosophin entfaltete Prisma aus Zeit besteht aus drei Dimensionen, die sich gegenseitig spiegeln und stützen. Natürlich sind beim Nachdenken über die Zeit der Tod und die Endlichkeit nie weit: erste Dimension. Um „Zeitfülle“ erleben zu können, darf man nicht aus der eigenen Zeitlichkeit fliehen. Es gilt, „den Tod zu sehen“: seine Unerträglichkeit und seine Unabänderlichkeit. Anders als bei den Existentialisten ist der Tod für Eva von Redecker aber kein bloßes Faktum: Er ist eine „Mischung aus Glück und Klasse“, wie die marxistisch geprägte Philosophin schreibt: „Der Skandal ist, dass wir so unterschiedlich früh sterben.“

Frei zu sein, hier bleiben zu dürfen, heißt in dieser ersten Betrachtungsweise also schlichtweg, für ein Mehr an Lebenszeit zu kämpfen: „Bleibefreiheit heißt, dass es darauf ankommt, weiterzuleben“, formuliert von Redecker zugespitzt. Sie benötigt eine zweite Zeit-Dimension, damit hieraus nicht nur ein verzweifelter Abwehrkampf gegen das Sterben erwächst.

„Walking away“ (erstellt mit Playground AI)

Anfängergeist

Teile ihres Essays sind eine Auseinandersetzung mit Simone de Beauvoir und Hannah Arendt. Während letztere mit ihrer „Vita activa“ ein prägender Einfluss für Eva von Redeckers engagierte Philosophie darstellt, erscheint das Verhältnis zur französischen Existentialistin um einiges komplizierter. Was kein Wunder ist, betrachtet man die zweite Dimension der verzeitlichten Freiheit genauer. Wie entsteht aus „Zeitfülle“ auch wirklich eine „erfüllte Zeit“? Für die Beantwortung dieser Frage blickt von Redecker anders als die Existenzphilosophie nicht nach vorn auf den Tod, sondern zurück: auf den Anfang.

„Freiheit stellt sich ein, wenn wir uns ins richtige Verhältnis zur Geburt setzen“, schreibt sie anknüpfend an Hannah Arendts Konzept der Natalität. „Und das richtige Verhältnis ist eine Wiederholung.“ Der Mensch als Anfänger*in: Darin äußert sich die eigentliche menschliche Freiheit. Wir sind frei, im Rahmen der uns zur Verfügung stehenden Zeit immer wieder neu anzufangen, die Initiative zu ergreifen, neu „zur Welt zu kommen“. Zur Welt kommen bedeutet vor allem: Begegnung, Verbundensein, Dialog. Geteilte Zeit ist nicht weniger als die Vervielfältigung von Gelegenheiten zum Neuanfang. Die Voraussetzungen hierfür liegen wiederum auf einer gesellschaftlichen Ebene (gerechte Arbeitsteilung, Gleichwertigkeit in Beziehungen, Abwesenheit von Zwang). Aber anfangen kann jede*r selbst: „Weltwahrnehmung, nicht Weltaneignung ist hier der Schlüssel zum Glück.“

Zeitbewusstsein

„Befreiung heißt, neu zur Welt zu kommen“, schreibt Eva von Redecker. Aber geht das ohne Welt? Damit kommt die dritte Dimension in den Blick, die vielleicht die grundlegendste ist: die „Zeitlichkeit der Welt“. Denn die Welt selbst ist „aus Zeit gemacht“ und mehr als nur der Hintergrund für (menschliches) Leben: Mit der Ausbeutung und dem Missbrauch der natürlichen Ressourcen und dem blinden Wegsehen arbeitet die Menschheit eifrig daran, nicht nur der eigenen Zeit ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Wir sind Meister darin, uns die Welt (also die Grundlagen unseres Leben) wegzudenken (auszublenden). Die Folge ist der aktuell weiterhin in ungebremstem Tempo erfolgende Raubbau an der Zukunft.

Da erweist sich die Diagnose der amerikanischen Geologin Marcia Bjornerud (aus ihrem ebenfalls sehr lesenswerten Buch „Zeitbewusstheit“) als sehr treffend, die die spätkapitalistische Kultur für ihren „zeitlichen Analphabetismus“ kritisiert: Im Grunde geht es uns nur noch darum, Zeit zu sparen, schneller, effizienter zu sein – ohne ein Bewusstsein für die zeitlichen Proportionen, aus denen Leben gemacht ist. Leben, so Eva von Redecker, als „Transformation von Stoff in Gezeiten – angefangen vom Sternenstaub, aus dem letztlich alles, was die Zeit daraus gemacht hat, besteht“.

Weltwahrnehmung, nicht Weltaneignung: Man muss gar nicht mehr so genau hinschauen, um zu erkennen, wie gestört die Gezeiten – das Zusammenspiel mannigfaltiger Zyklen in Natur und Umwelt – mittlerweile sind. Von Redecker warnt: „Ökosystemischer Kollaps ist irreversibel. Die verlorene Zeit ist wirklich verloren.“ Es ist an der Zeit, sich ernsthaft um die Zukunft zu sorgen. Sonst ist irgendwann kein Bleiben mehr.

Noch ist das möglich.

Freiheit, ganz praktisch

Von Redecker weiß um die Lähmung, die all die multiplen Krisen auszulösen vermögen. Sie weiß um das Gefühl der Ratlosigkeit angesichts eines um sich greifenden Weltenbrandes und des Ausbleibens adäquater Reaktionen. Ihr Plädoyer für „Bleibefreiheit“ aber atmet leidenschaftlichen Optimismus. „Wir müssen nur einen anderen Anfang finden“, sagt sie: mit der Natur, im Einklang mit ihren Gezeiten und in Gemeinschaft mit anderen. Dem liberalen Freiheitsverständnis, das so auf die Grenze und das Eigentum fixiert ist, setzt sie Fürsorge, Verbundensein und die Idee der reziproken Verpflichtung entgegen.

Im Ergebnis hat die Idee von der „Bleibefreiheit“ das Potential zu einer immensen Befreiung: „Die Quelle unserer Freiheit liegt außerhalb unserer selbst.“ Die zahllosen Möglichkeiten, die auf uns warten, auch. Sorgen wir noch ein wenig, dass wir bleiben können.


Eva von Redecker
Bleibefreiheit
S. Fischer 2023
160 Seiten
22 € (gebunden), 16,99 € (E-Book)
Website


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