NATO-Manöver: Standhaft oder leichtsinnig?

Statt Atomwaffen abzuschaffen, üben NATO und Russland den Einsatz von Nuklearwaffen in Europa. Wegen des Ukraine-Krieges wird die „nukleare Abschreckung“ neu diskutiert. Worum geht es?

In diesen Tagen üben die NATO-Truppen in Europa den schlimmsten Ernstfall: Die Verteidigung des Bündnisgebiets mit Atomwaffen. Deutschland hat keine eigenen Atomwaffen, ist aber über das Konzept der „nuklearen Teilhabe“ einbezogen. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die Angst vor einem Einsatz von Atomwaffen in Europa neu angefacht. Ist die Abschreckung mittels Atomwaffen noch zeitgemäß, ist sie unverzichtbar oder vor allem gefährlich?

Darüber wird in Gesellschaft und Kirchen zum Teil heftig gestritten. Die einen wünschen sich eine atomwaffenfreie Welt und wollen auch einseitig auf (nukleare) Rüstung verzichten, andere wollen am Konzept der gegenseitigen nuklearen Abschreckung festhalten. Hinzu kommen Fragen, die sich aus der veränderten geopolitischen Lage ergeben: Sind die USA ein verlässlicher Partner oder braucht es eine europäische Strategie? Kann sich Deutschland darauf verlassen, unter dem Schirm der NATO sicher zu sein? Was bedeutet die nukleare Rüstung in China, Indien, Pakistan (und Iran) für unsere Sicherheit?

„Atomwaffen sind unvereinbar mit wahrem Frieden“, erklärt der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Friedrich Kramer (Evangelische Kirche in Mitteldeutschland), auch und gerade wegen der neuen russischen Bedrohung. Die wiederkehrenden Drohungen mit Atomwaffen durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin würden, so Kramer, „nicht nur die Gefahren eines Atomwaffenbesitzes deutlich machen, sondern auch zeigen, wie real die Möglichkeit eines Atomkrieges ist“.

Gehen wir den Drohungen Putins auf den Leim?

Ob und wie realistisch die Drohungen aus Moskau tatsächlich sind, diskutieren Sicherheitsexpert:innen in den vergangenen Wochen intensiv. Ein Einsatz von sog. taktischen Kernwaffen (nukleare Gefechtsfeldwaffen) kann zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden, ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Sicher ist, dass Russland seine nukleare Bewaffnung propagandistisch und strategisch nützlich ist. Dass die Ukraine der russischen Aggression überhaupt ausgesetzt sei, stehe mit ihrem Verzicht auf eigene Atomwaffen nach Ende der Sowjetunion in Zusammenhang, betonen Sicherheitsexpert:innen seit 2014.

In der Debatte in Deutschland wird unterdessen immer wieder problematisiert, dass die Drohungen Putins hierzulande stärker verfangen als bei den osteuropäischen EU- und NATO-Partnern. Zwar würde auch dort die nukleare Bedrohung ernst genommen, aber die russische Kriegspropagnda würde in Deutschland besonders gut funktionieren. Rechtsradikale und linkspopulistische Akteur:innen aus AfD und LINKE machen sich die Angst vor einem russischen Atomschlag zunutze, um eine Befriedigung „legitimer russischer Sicherheitsinteressen“ zu fordern – bis hin dazu, der Ukraine die Kapitulation nahezulegen.

Es kann jedoch auch beides zugleich wahr sein: Die russische Propaganda wird in Deutschland besonders effektiv von politischen Akteur:innen verstärkt und für eigene Ziele instrumentalisiert und die Angst vor einem Atomkrieg ist bei uns – vielleicht aus historischen Gründen – auch ohnedies stärker verbreitet: Schließlich steht die (militärische und zivile) Nukleartechnologie kaum irgendwo sonst unter so großem Verdacht wie in Deutschland, und die Erinnerung an den „Kalten Krieg“ ist im ehemals geteilten Deutschland nach wie vor lebendig.

„Steadfast Noon“: NATO und Russland proben den Ernstfall

Die Angst vor einem Atomkrieg ist jedenfalls zurück auf dem europäischen Kontinent. Hier probt auch die NATO jährlich im Oktober den Einsatz von Atomwaffen. In diesem Jahr hat sie ihr Manöver – anders als sonst üblich – öffentlich angekündigt. Wahrscheinlich, um Russland die eigene Einsatzbereitschaft zu signalisieren.

An der Übung „Steadfast Noon“ („standfester Mittag“) nimmt auch die Bundeswehr teil. „In den kommenden zwei Wochen werden bis zu 60 Flugzeuge beteiligt sein – darunter moderne Kampfjets, aber auch Überwachungs- und Tankflugzeuge sowie Langstreckenbomber vom Typ B-52. Schauplatz soll insbesondere der Luftraum über Belgien, Großbritannien und der Nordsee sein“, berichtet tagesschau.de. Laut Militärexpert:innen werde bei den regelmäßigen Manövern geübt, „wie man die US-Atomwaffen sicher aus unterirdischen Magazinen zu den Flugzeugen transportiert und unter die Kampfjets montiert“. Bei den Übungsflügen werde dann aber ohne die Bomben geflogen.

Auch Russland übt in diesen Tagen den Einsatz von Atomwaffen. Anders als bei der NATO liegt beim russischen Manöver der Schwerpunkt allerdings nicht auf den taktischen, sondern auf den strategischen Nuklearwaffen. Der Einsatz dieser „politischen Waffen“, die einzig als „Vergeltungswaffen“ oder für einen vernichtenden nuklearen Erstschlag zu gebrauchen sind, erfolgt von U-Booten, Langstreckenbombern und ballistischen Raketensystemen aus. Auch die US-Langstreckenbomber vom Typ B-52 sind ein Trägersystem für solche strategischen Atomwaffen.

Die Unterscheidung von „kleinen“, also taktischen, und „großen“, also strategischen, Atomwaffen, wie sie noch immer häufig in den Medien anzutreffen ist, muss kritisch betrachtet werden, weil auch die im Vergleich mit weniger Sprengkraft ausgestatteten taktischen Nuklearwaffensysteme verheerende und kaum zu kalkulierende Wirkung im Gefecht entfalten, die nicht zuletzt auch eigene Truppen in Gefahr bringen. Sicherheitsexpert:innen bezweifeln einen Einsatz taktischer Atomwaffen seitens Russlands in der Ukraine auch deshalb, weil die russischen Soldaten gegen den radioaktiven Niederschlag (fallout) nicht geschützt wären.

Das aktuelle NATO-Manöver „Steadfast Noon“ wird auch von westlichen Sicherheitsexpert:innen kritisiert, die befürchten, Russland könne die gemeinsame Übung als Vorbereitung auf einen Erstschlag missverstehen. Zugleich gibt es seit Wochen immer wieder Berichte über einen sog. „Atomzug“, der durch Russland fahre und Truppen mit Atomwaffen versorge. Die Sichtungen dieses Zuges verstärken die Angst davor, Russland könne im Ukraine-Krieg zu diesen Waffen greifen. Wahrscheinlich, erklärt der „Streitkräfte und Strategien“-Podcast des NDR, handelt es sich bei den Aktivitäten aber um Vorbereitungen des russischen Manövers. Gleichwohl können Manöver, wie erst am Beginn des Ukraine-Krieges zu erleben war, der Maskierung eines tatsächlichen Aufmarsches dienen.

Hat die „nukleare Teilhabe“ eine Zukunft?

Die Bundesrepublik Deutschland nimmt an der Abschreckung mittels Atomwaffen durch die NATO durch das Konzept der „nuklearen Teilhabe“ teil. In diesem Rahmen „teilen“ die USA Atomsprengköpfe mit Belgien, den Niederlanden, Italien, der Türkei und Deutschland. 100 US-Atomwaffen sollen in Europa lagern, 20 davon unter US-amerikanischer Aufsicht am Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel. Trägersystem der US-Atomwaffen in Deutschland sind dort stationierte Tornado-Bomber, die nach mehr als 40 Jahren Dienst spätestens 2030 vollständig ausgemustert werden sollen.

Die Frage, ob und wie Deutschland im Anschluss daran weiter Teil der nuklearen Abschreckung der NATO bleiben soll, wurde daher in den vergangenen Jahren zum Teil heftig diskutiert. Friedensgruppen aus den Kirchen machten sich, auch mit Demos in Büchel, für einen Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe stark. Der EKD-Friedensbeauftragte Kramer zum Beispiel erklärt, dass „die evangelische Friedensethik seit vielen Jahren bekenne, dass die Drohung mit Nuklearwaffen nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden könne“.

Auch diese Pointierung der evangelischen Friedensethik durch Kramer hat jedoch Kritik hervorgerufen. Der Wiener Theologieprofessor Ulrich Körtner zum Beispiel forderte in den zeitzeichen vielmehr, die evangelische Kirche müsse wegen des Ukraine-Krieges „ihre Haltung zur atomaren Abschreckung überdenken“: „In Anbetracht dieser Lage ist die Annahme, der Verzicht auf Kernwaffen würde den Weltfrieden fördern, zumindest zweifelhaft.“ Er empfiehlt der evangelischen Kirche eine Abkehr von der Friedensdenkschrift von 2007 und eine Rückkehr zu den „Heidelberger Thesen“ zur Atombewaffnung von 1959.

Im März 2022 jedenfalls entschied sich die Bundesregierung unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges für die Beschaffung von bis zu 35 Maschinen vom Typ F-35 des US-Herstellers Lockheed-Martin und damit für die langfristige Fortsetzung der „nuklearen Teilhabe“ an US-Atomwaffen. Die F-35 sind ab Werk für den Einsatz von nuklearen Waffen vorgesehen und bedürfen daher keiner aufwendigen Zertifizierung. „Damit wird waffentechnisch nachvollzogen, was die Koalition in ihrem Vertrag und danach Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Regierungserklärung kurz nach Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine schon politisch festgeschrieben hatten“, schrieb Robert Birnbaum in seinem Bericht im Tagesspiegel, in dem er auch die rüstungspolitischen Hintergründe hinter der Entscheidung für die F-35 beleuchtet.

Eine Welt ohne Atomwaffen?

In Umfragen wünschten sich die Deutschen in der Vergangenheit mit großen Mehrheiten einen Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland und damit den Ausstieg aus der „nuklearen Teilhabe“. Mit dem Ukraine-Krieg ist diese Ablehnung in der Bevölkerung jedoch ins Wanken geraten. Unter dem Eindruck der neuerlichen russischen Aggression erscheint der Schutz unter dem (nuklearen) Schirm von NATO und USA unverzichtbar. Kritiker:innen werfen der Friedensbewegung ohnehin seit Jahren vor, mit der Forderung nach einem Ende der „nuklearen Teilhabe“ anti-amerikanische Ressentiments zu bedienen.

Gleichwohl findet das Ziel, eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen, bei allen (Nuklear-)Staaten und in allen politischen Lagern Unterstützung. Doch alle warteten darauf, „dass die andere Seite den ersten Schritt macht“, erklärt Simon Bödecker von der Initiative „Ohne Rüstung Leben (ORL). ORL entstand Ende der 1970er Jahre als ökumenische Organisation und wurde maßgeblich von Pfarrern aus Württemberg mitbegründet. ORL kritisiert die Aufkündigung bereits bestehender Atomabkommen durch die USA und Russland in den vergangenen Jahren.

Als Partner der „Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen“ (ICAN) setzt sich ORL vor allem für den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) ein und fordert dessen Unterzeichnung durch die Bundesrepublik. Der AVV verbietet den Einsatz, Besitz und Transit sowie die Lagerung und Stationierung von Nuklearwaffen. Würde die Bundesrepublik den AVV unterzeichnen, entspräche das einem Ausstieg aus der „nuklearen Teilhabe“.

An der ersten Konferenz der inzwischen 86 AVV-Vertragsstaaten in Wien Ende Juni 2022 nahm Deutschland als Beobachter teil. Zu diesem Anlass informierte das Auswärtige Amt darüber, dass eine Welt ohne Atomwaffen für Deutschland weiterhin das Ziel bleibe. „Zentraler Handlungsrahmen“ sei dabei der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV, auch Atomwaffensperrvertrag), denn mit seinen „weitreichenden Verboten“ stehe der AVV „in einem Spannungsverhältnis mit Verantwortungen, die die NATO-Bündnispartner übernommen haben“. Deshalb, so das Auswärtige Amt weiter, seien „weder Deutschland noch andere NATO-Mitgliedstaaten dem AVV beigetreten“.

Dessen ungeachtet fordert der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer, Atomwaffen müssten „endlich auch völkerrechtlich geächtet und verboten werden“. Die Atommächte müssten wieder Verhandlungen über einen Abbau von Atomwaffen und dann auch deren Verbot aufnehmen, fordert er weiter, dabei könne „der UN-Atomwaffenverbotsvertrag [AVV, Anm. d. Red.] eine gute Grundlage sein“.