Ukraine-Krieg: Wo hat die Ökumene Grenzen?

An der Position von Papst Franziskus während des Ukraine-Krieges wird scharfe Kritik geübt. Auch die Ökumenische Bewegung muss ihre Haltung zur Russisch-Orthodoxen Kirche überdenken, wenn sie glaubwürdig bleiben will.

An der Unentschiedenheit von Papst Franziskus während des Ukraine-Krieges wird bereits seit Kriegsbeginn heftige Kritik geäußert (wir berichteten). Hauptkritikpunkt war zunächst seine Weigerung, die Aggressoren Putin und Russland beim Namen zu nennen. Anfang Mai machte Franziskus dann die NATO mitverantwortlich für den Angriffskrieg Russlands, der durch die Osterweiterung des Verteidigungsbündnisses ausgelöst worden sei. Immer wieder entsteht der Eindruck, Papst Franziskus sei sich mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill einig, der den Krieg außerordentlich befürwortet und als Abwehrkampf gegen den „dekadenten“ Westen sieht.

Dass Papst Franziskus der Vereinnahmung seiner Person durch die Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) entgegentreten soll, forderten vorvergangene Woche vier WissenschaftlerInnen in internationalen, katholischen Medien. Thomas Bremer, Regina Elsner (hier im Eule-Podcast), Massimo Faggioli und Kristina Stoeckl rufen Papst Franziskus dazu auf, „klar [zu] machen, wo die katholische Kirche in Bezug auf die Ukraine steht“.

Eine Ökumene der Klarheit statt „Ökumene des Hasses“

In ihrem Appell zeichnen sie die Geschichte der jüngsten Vereinnahmungen von Äußerungen und Begegnungen von Franziskus im Kontext des Ukraine-Krieges durch Patriarch Kyrill und den Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Metropolit Hilarion, nach. Dabei bringen sie bei aller Kritik am Bischof von Rom eine Menge guten Willen auf: Zwar raten sie dringend von einer „Ökumene der Werte“ ab, die Rom und Moskau z.B. im Blick auf die „traditionelle Familie“, die Ablehnung von LGBTQI* und Abtreibungen verbindet. Sie stellen aber auch Franziskus‘ Verdienste im Kampf gegen eine solche „Heilige Allianz“ von reaktionären Kräften („Ökumene des Hasses“) heraus, zu denen seine Unentschiedenheit angesichts des Ukraine-Krieges nicht recht passen will.

„Papst Franziskus setzt immer noch Hoffnungen auf den ökumenischen Dialog mit der gegenwärtigen Führung der Russischen Orthodoxen Kirche“, stellen die AutorInnen fest, momentan fehlten „jedoch wichtige Voraussetzungen für diesen Dialog: ein wirksamer Einsatz für den Frieden, den Wert menschlichen Lebens und für Wahrhaftigkeit“. Die „gezielte und strategische Manipulation“ der vatikanischen Botschaften zum Ukraine-Krieg zum Nutzen der russischen Propaganda sei alarmierend, es sei daher „nur schwer vorstellbar, dass echter ökumenischer Dialog und Gemeinschaft mit der Orthodoxie ohne ein Zeichen von Umkehr seitens der Führer der Russischen Orthodoxen Kirche wiederhergestellt werden kann“.

Vor diesem Dilemma steht nicht allein Franziskus, sondern die gesamte ökumenische Bewegung. Erste Forderungen, die Russisch-Orthodoxe Kirche als Ganze aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖKR) auszuschließen oder ihre Mitgliedschaft zu suspendieren, sind inzwischen allerdings Differenzierungen gewichen. Ostkirchen-Expert:innen wie Elsner und Stoeckl weisen darauf hin, dass zwar mit dem Moskauer Patriarchat um Kyrill kein Dialog zu machen ist, aber sehr wohl mit denjenigen Kirchen in der Ukraine und Belarus, die dem Moskauer Patriarchat (bislang) unterstellt sind.

Bremer, Elsner, Faggioli und Stoeckl kritisieren in ihrem Appell an Rom: „In den letzten Wochen wurden die diplomatischen Bemühungen des Vatikans gegenüber Moskau nicht von einer entsprechenden Annäherung an die anderen orthodoxen Kirchen in der Region begleitet: die Orthodoxe Kirche der Ukraine mit ihrem Metropoliten Epifanij und die Ukrainische Orthodoxe Kirche (in Gemeinschaft mit dem Moskauer Patriarchat) mit ihrem Metropoliten Onufrij, der offen das Schweigen seines Patriarchen kritisiert hat.“ Papst Franziskus solle „informell und inoffiziell diejenigen Kräfte in der Ukrainischen Orthodoxen Kirche unterstützen, die sich von Moskau distanzieren“.

Die Lehre aus der Vergangenheit

Akteur:innen der ökumenischen Bewegung haben seit vielen Jahren Kontakte in die Moskau unterstellten orthodoxen Kirchen in Belarus und der Ukraine. Diese Perspektiven sollen auch auf der 11. Vollversammlung des ÖRK Ende August/Anfang September in Karlsruhe mehr Gewicht bekommen. Der Moskauer Patriarch selbst sieht von einer Teilnahme inzwischen ab. Für eine vertiefte Ökumene mit den anderen orthodoxen Kirchen der Region bringt der ÖRK derzeit eigentlich hervorragendes Rüstzeug mit, ist doch sein geschäftsführender Generalsekretär selbst ein orthodoxer Priester, Ioan Sauca aus der Rumänisch-Orthodoxen Kirche.

Die Orthodoxie hat in den vergangenen Jahrzehnten Wert darauf gelegt, die ökumenische Zusammenarbeit nicht allzu „politisch“ zu gestalten. „Westlichen“ Einflüssen steht man auch jenseits von Moskau kritisch gegenüber. Darum weisen Akteur:innen auch heute darauf hin, dass der ÖRK gerade den Austausch über unterschiedliche Positionen zum Ziel hat und kein Instrument „westlicher“ Religions- und Minderheitenpolitik sein sollte. Im Kern geht es auch hier vor allem um unterschiedliche Familienbilder, die Haltung zu LGBTQ* und Abtreibung. Eine Suspendierung oder gar ein Ausschluss der ROK käme schon deshalb nicht in Frage, weil sie die größte orthodoxe Kirche sei, ihre Haltungen biblisch begründet und der ÖRK kein Verein für die „Verbreitung westlicher Werte“.

Allerdings übersehen diese Akteure einen jahrzehntealten Grundkonsens der ökumenischen Bewegung. In einem Vortrag von Januar 196 formulierte Willem A. Visser ‚t Hooft, der erste Generalsekretär des ÖRK, ihn so:

„Die Lehre aus der Vergangenheit lautet, dass man brüderliche und vertrauensvolle Beziehungen nur zwischen Kirchen herstellen kann, die in ihrem Handeln und in ihren Beziehungen mit anderen Kirchen ausschließlich geistliche Mittel anwenden. […] Ein für allemal muss es ausgesprochen werden: Die Zeit ist vorbei – von nun an lehnen wir jede Art der Gewaltanwendung oder der Machtpolitik radikal ab.“

Es ist offensichtlich, dass das Moskauer Patriarchat unter Kyrills Leitung diesem Anspruch nicht gerecht wird. Bremer, Elsner, Faggioli und Stoeckl stellen fest:

„[Kyrill] hat den Krieg in denselben Begriffen wie die russische Regierung gerechtfertigt, hat die russischen Soldaten zu einem Kampf gegen „böse Kräfte“ aufgerufen, hat der Nationalgarde eine Ikone für ihre Mission in der Ukraine gestiftet und diesen Krieg als einen dargestellt, in dem Russland das Opfer und nicht der Aggressor ist.“

Wenn Kyrills Wirken seit mindestens 2010 und besonders während des jüngsten Ukraine-Krieges nicht als Machtpolitik und Legitimierung von Gewaltanwendung, ja von Mord und Verbrechen, gelten kann, was dann?

„Wandel durch Annäherung“ gescheitert?

In den vergangenen Wochen sind viele Selbstverständlichkeiten der Friedens- und Sicherheitspolitik in Frage gestellt worden. Darunter auch, ob „Wandel durch Annäherung“ ein tragfähiges Konzept ist, wenn man es mit Autokraten und Diktatoren zu tun hat. Dialog und auch Friedensverhandlungen sind nur möglich, wenn daran beide Seiten Interesse haben. Bremer, Elsner, Faggioli und Stoeckl warnen eindringlich davor, dass die prinzipielle Gesprächsbereitschaft des Vatikans – und man kann hier den ÖKR als weiteren Akteur ergänzen – vom Moskauer Patriarchat für die eigenen Propagandazwecke missbraucht wird. Kyrill und seinen Mannen sei schlicht nicht zu trauen.

Auf der anderen Seite bewerten Sicherheitspolitiker:innen und -Expert:innen ein Kappen aller Gesprächsfäden nach Russland negativ. Das vorläufige Scheitern von „Wandel durch Handel“ dürfe nicht dazu führen, kulturelle, zivilgesellschaftliche und eben auch religiöse Kontakte einzufrieren oder ganz einzustellen. Nur aus solchen Begegnungen könne erwachsen, was für einen wirklichen Frieden notwendig ist: Verständigung und ein gemeinsames Bekenntnis zur Gewaltfreiheit und Ächtung des Krieges.

„Wir akzeptieren nur einen rein geistlichen Wettbewerb“, erklärte Visser ’t Hooft 1966 den gemeinsam mit der römisch-katholischen Kirche im Anschluss an das 2. Vatikanische Konzil erreichten Konsens: „Wir wollen nicht mehr den Traum von der Wiederherstellung einer Christenheit träumen, die dieser oder jener einzelnen Kirche unterworfen ist, die eifersüchtig ihr Monopol verteidigt.“ Eine Ökumene, die dem Frieden dient, ist darum auch eine Herausforderung für die römisch-katholische Kirche und die evangelischen Kirchen. Eine Wahrheitsmonopolisierung durch „den Westen“ ist den Partnerkirchen aus aller Welt nicht mehr zu vermitteln, das gilt neben bio- und medizinethischen Fragen besonders auch für die Debatte um den Post-Kolonialismus, die innerhalb des ÖRK geführt wird.

„Wir sind gewillt, den Pluralismus anzunehmen, nicht im Sinne eines allgemeinen Indifferentismus“, bekannte Visser ‚t Hooft, „sondern im Sinne einer Kultur, die es gestattet, jede ernsthafte Überzeugung offen zum Ausdruck zu bringen“. In diesem 56 Jahre altem Diktum steckt auch eine Menge, das sich die Kirchen in den reichen Ländern des Westens sagen lassen müssen, ohne dass man einer allzu leichten Klage über deren „Dekadenz“ das Wort reden müsste.

Die Grenze des Dialogs

Zugleich markiert Visser ‚t Hooft auch eine Grenze dafür, was im Rahmen der Ökumene möglich ist und was ihre Grenzen sprengen muss, wenn er auf die Ernsthaftigkeit der Fragen und Positionen zu sprechen kommt. Denn „jeder Ökumenismus, der diese Bezeichnung verdient, stellt eine Bewegung der Konzentration, der Rückkehr zu den Quellen oder noch besser: der Rückkehr zum Zentrum dar“, hält er als erste grundlegende Lehre aus der Geschichte der Ökumene fest und erinnert an die Botschaft der Stockholmer Weltkirchenkonferenz von 1925: „Je näher wir dem gekreuzigten Christus kommen, um so näher kommen wir einander“.

Unter dem Kreuz Christi stehend aber kommt man nicht umhin, die gegenwärtige Verkündigung von Kyrill als Blasphemie zu brandmarken. Das muss gleichwohl nicht End-, sondern Ausgangspunkt einer erneuerten Ökumene mit der Orthodoxie sein.