Offenheit, Öffentlichkeit, Vernetzung: Eine Religionspädagogik der Zukunft
Durch Schulschließungen und Distanzunterricht ist auch der Religionsunterricht herausgefordert. Die Erfahrungen aus der Corona-Krise und die Chancen der Digitalisierung werden den Religionsunterricht der Zukunft prägen.
Mit den ersten Schulschließungen aufgrund der Corona-Pandemie von Mitte März 2020 waren wir Lehrkräfte auf einen Schlag mit einer schwierigen Situation voller Herausforderungen konfrontiert. Ich sage „wir“, weil ich selbst an einem Gymnasium in Baden-Württemberg unterrichte. Seit dem 1. April 2020 bin ich auch als Dozentin für Digitalisierung im religiösen Bereich mit dem Schwerpunkt Religionsunterricht am ptz Stuttgart-Birkach tätig.
Ich schildere hier die Erfahrungen aus meiner Praxis sowie diejenigen der Kolleg:innen, die ich versuche, zu unterstützen, zu beraten und mit ihnen gemeinsam Lösungsansätze für die Anforderungen ihrer spezifischen Umgebungen zu erarbeiten.
(Kirchliche:r) Lehrer:in im Nebenfach Religion sein
Religionsunterricht wird als „weiches“, teils sogar als „schwaches Nebenfach“ in der Schule gesehen, für das Viera Pirker konstatiert, dass es selbst „Inklusion im Schulsystem“ brauche. Den Sonderstatus im Fächerreigen und die Einbeziehung der Glaubensperspektive belächeln viele fachfremde Kolleg:innen unreflektiert als Erziehung zum Glauben. Diese Geringschätzung wird oftmals kleinen Fachschaften entgegengebracht, die aus zwei Gruppen bestehen, kirchlichen und staatlichen Lehrkräften.
Während der Schulschließung kam dies besonders zum Tragen: Als Unterrichtende in einem „weichen Fach“ waren wir aufgefordert, den Schüler:innen Aufgaben und Formate zukommen zu lassen. Aufgrund des Unverständnisses vieler Schulleitungen und Kollegien in Bezug auf den Religionsunterricht wurden viele Religionspädagog:innen dezidiert aufgefordert, sich und ihr Fach zurück zu nehmen, um die Kapazitäten der Schüler:innen für die Hauptfächer offen zu halten. Viera Pirker berichtet über eine Nachrangigkeit des Religionsunterrichts, die andere Randfächer ebenfalls erfahren haben.
Der Einbezug der Glaubensperspektive, der des lebendigen Dialoges bedarf, wurde durch mangelnde Kommunikations- & Infrastrukturen sowie deren Zugangsbeschränkungen für kirchliche Lehrkräfte erschwert. Schüler:innen waren für uns Lehrer:innen nicht erreichbar, was Enttäuschung und Frust bei Lehrer:innen, Eltern & Schüler:innen hervorrief. Gelingender Unterricht unter diesen Bedingungen braucht die Kommunikation klarer Richtlinien und vor allem eine angemessene Ausstattung der Schulen zur Kommunikation & Datenübertragung.
Öffnung und Öffentlichkeit: Kollision der Erwartungen
Hinter den verschlossenen Türen des Klassenzimmers hatten bisher nur wenige Zaungäste unmittelbaren Einblick in die Unterrichtspraxis der Religionslehrer:innen. In den Familien wurde sich am Rande über Religionsunterricht im Schultag ausgetauscht; im Idealfall mal über spannende & provokante Themen des RU diskutiert. Insgesamt schien der Religionsunterricht im Schutze des Präsenzunterrichts meist nach außen hin abgeschottet.
Während der Schulschließung änderte sich dies und hatte nicht unerhebliche Folgen: Die Verlagerung der Tätigkeiten aus Schule und Arbeit in den häuslichen Bereich erzeugte in vielfacher Hinsicht eine neue Situation. Der Forderung an die Lehrer:innen, Aufgaben zu erteilen, wurde je nach Lehrkraft gar nicht, unzureichend, angemessen oder übermotiviert entsprochen. Diese Varianz erzeugte Unsicherheit, die durch klare Richtlinien und einfache Kommunikationswege hätten abgemildert werden können.
Schüler:innen und Eltern stoßen oftmals an ihre Grenzen. Viele suchen Wege, schnell und einfach Klärung zu erreichen. Das Fehlen von datenschutz-konformen Kommunikationsstrukturen verhinderte dabei die schnelle und einfache Kommunikation zwischen Lehrer:innen und Familien. Eltern fühlen sich oftmals von der Schule im Stich gelassen und holen sich öffentlich Hilfe in den Sozialen Netzwerken, in denen sie sich bewegen.
In ihren Anfragen dokumentieren sich neben Hilflosigkeit oftmals auch enttäuschte Erwartungen, die in den Filterblasen ungefiltert gespiegelt und verstärkt wurden. Der eilige Wechsel zum Distanzunterricht brachte einen schnellen, aber unzureichenden Wandel vom analogen, geschlossenen, schulischen Unterricht hin zum digitalen, öffentlichen, heimischen Lernen.
Über das Gelingen des Distanzlernens entscheidet die Ausstattung von Schulen mit passender Software zur Übermittlung von Aufträgen und für die Kommunikation von Lehrer:innen und Schüler:innen. Es braucht außerdem eine klare, verbindliche Richtlinie für die Erreichbarkeit von Lehrkräften während des Distanzlernens.
Hilfe zur Selbsthilfe durch Fortbildung und kollegialen Austausch
Als „Religionsunterricht für alle“-Lehrerin in Hamburg und im konfessionell-gebundenen Religionsunterricht Baden-Württembergs habe ich oft eine andere als die frustrierte und hilflose Seite der enttäuschten Elternschaft wahrgenommen: Die Wertschätzung des Religionsunterrichts durch viele (multi-)religiös geprägte Familien. Religiöse Schüler:innen fühlen sich verstanden und gut aufgehoben bei Lehrer:innen, die klar kommunizieren, aus welcher Glaubensperspektive sie reden und wie sie ihren Glauben wissenschaftlich und reflektiert mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Positionen in Einklang bringen.
Wenn es in diesem Zuge im Religionsunterricht zudem noch gelingt, den Menschen in seiner Umwelt und im Hier und Jetzt in den Mittelpunkt zu stellen sowie schwierige Themen und Diskurse nicht auszublenden, sondern Schüler:innen zu bestärken, sich kritisch und reflektiert aus ihrer Glaubensperspektive heraus zu positionieren, gilt der Religionsunterricht oftmals als „gut“.
Schon vor Corona fühlten sich allerdings viele Religionslehrkräfte aufgrund oftmals sehr kleiner Fachschaften in ihrem Kollegium allein. Dieser Mangel wurde auf zweierlei Arten kompensiert: Erstens nutzte das Gros der Religionspädagog:innen die Kirchen und Fortbildungsinstitute als starke Partner und Orte der Vernetzung. Zweitens waren schon lange vor Corona Bestrebungen von aktiven und sichtbaren Religionspädagog:innen zu bemerken, die auf Social Media Vernetzungsstrukturen etablierten und eine „Community of Practice“ aufbauten, die institutionell gestützt wurde und so Austausch und Vernetzung über räumliche Distanz hinweg zu unterstützen vermochte. Die Relevanz von rpi-virtuell ist hierbei nicht zu unterschätzen.
Mit Schulschließungen und Distanzunterricht wurden diese unterstützenden Partner & Netzwerke unentbehrlich: Immer mehr Kolleg:innen begannen aktiv Social Media als zentrale Anlaufstelle zur Vernetzung, Weiterbildung und zur individuellen Professionalisierung zu nutzen. Diese Tendenz war auch unter Religionslehrer:innen deutlich zu beobachten. Drei Initiativen möchte ich dabei hervorheben:
Der #relichat ist ein Netzwerk auf Twitter, das sich auffällig schnell, effizient und über nationale Grenzen hinaus, auf ökumenischer Basis formierte. Neben Institutsdozenten kamen auch viele Religionslehrer:innen aus der Praxis hinzu, um sich auf Augenhöhe auszutauschen. Der Account @relichat weist inzwischen eine ordentliche Followerstärke von nahezu 1000 Followern auf. An den wöchentlichen, fachlichen Austauschrunden des #relichat (Mittwochs 20-21 Uhr) nimmt eine stetig wachsende Anzahl Fachkolleg:innen aktiv teil. Dabei tauschen sich die Lehrkräfte zu vorab festgelegten Themen aus. Zudem dient der Hashtag der schnellen Beschaffung von Impulsen, wenn man Tweets mit dem Hashtag #relichat und Fragen versieht.
Aus dem #relichat entwickelte sich ein neues Format, das ohne eine Mitgliedschaft bei einem Sozialen Netzwerk auskommt. In der Zeit der Schulschließungen wurde das #relichatCafe etabliert, das immer donnerstags um 16 Uhr seine Tore öffnet. Diese Initiative wird von rpi-virtuell als Raum für kollegialen Austausch und Beratung sowie individuelle und passende Impulsgebung für Religionspädagog:innen unterstützt und beworben.
Mit Beginn des Schuljahres 2020/2021 wurde ein neues Fortbildungsformat mit Mini-Barcamp-Charakter etabliert: die RUfOERtBILDUNG. Sie findet unter dem Dach des #relichat-Cafés statt und bietet den Lehrer:innen neben den Vorteilen des #relichat-Café auch innovative Impulse und versierte Inputs aus der Religionsfachschaft in jeweils 45-minütigen Mini-Formaten, die aufgezeichnet, aufbereitet und den Religionspädagog:innen auch im Nachhinein als interaktive Lernmodule zur Verfügung gestellt werden.
Leider wurde zu lange und zu dogmatisch auf ausschließlich analoge Formate gesetzt, und diese gegen digitale Formate ausgespielt. Viera Pirker konstatiert diesbezüglich: „Der Religionsunterricht steht längst in der Pflicht, seine Didaktik um digitalgestützte und mediensensible Instrumentarien zu erweitern.“ Dabei zeigen sich Religionslehrkräfte unterschiedlichen Alters aufgeschlossen und experimentierfreudig in den Fortbildungsformaten und lassen sich auch gerne inspirieren.
Durch die Schulschließungen gab es auch unter den Religionspädagog:innen einen Digitalisierungsschub. Viele Lehrkräfte versuchen sich bedarfs- und ressourcengerecht fortzubilden. Hierbei wählen sie eher nach individueller Prägung und Interessen sowie verfügbaren Kapazitäten aus. Ob die neu erworbenen Kompetenzen in ein Schulsystem hineingenommen werden können, dem es an Konzepten und Ausstattung fehlt, wird sich wohl erst nach der Rückkehr zum Normalbetrieb zeigen.
Der Seuchenschutz schafft politische Tatsachen
Der Religionsunterricht ist gesetzlich verankert und klar geregelt. Schüler:innen und Eltern haben Wahlfreiheit und werden in ihrer spezifischen Religiosität wahr- und ernstgenommen. Niemand wird verpflichtet, ein Fach wählen zu müssen, das der eigenen Persönlichkeit und Spiritualität gegenläufig ist.
Während der Corona-Krise drohen nun allerdings Tatsachen geschaffen zu werden, die im Blick gehalten werden müssen. Angesichts des Wechselunterrichts und Distanzlernens wurden vielerorts Klassenverbände gebündelt und im gemeinsamen Ethik- und Religionsunterricht unterrichtet, um die Durchmischung verschiedener Gruppen zu verhindern. In Nordrhein-Westfalen wurden in diesem Sinne Lehrkräfte unterschiedlicher Religionsangehörigkeit darauf verpflichtet, Inhalte zu unterrichten, die die Religionen einen. Dieses Vorgehen schafft Fakten, die zukünftig prägend wirken können.
Für den Religionsunterricht ist es wichtig, die religiösen Bedürfnisse der Schüler:innen fachlich kompetent und versiert wahrzunehmen und aufzugreifen. Seine Relevanz für die Schule als Ganzes wurde im Grundsatzpapier zur Bedeutung des schulischen Religionsunterrichts ausführlich dargelegt. Es gilt nun tragfähige didaktische Konzepte zu entwickeln, die erlauben, das durch die Verfassung garantierte Recht auf Religionsunterricht wahrnehmen zu können.
Heterogenität auffangen
Oftmals wird leider vergessen, dass Schulen vor Corona auch dafür da waren, den Schüler:innen ungefähr gleiche Chancen zum Erwerb von Bildung und Wissen einzuräumen. Dies sollte bestenfalls unabhängig von familiär prekären Voraussetzungen daheim passieren. Schulschließungen machen das nahezu unmöglich.
Politiker:innen pauschalisieren während der Corona-Krise immer wieder, dass die Schulen geöffnet werden müssten, weil „die Kinder“ mit dem Distanzlernen überfordert wären. Eine solche Überforderung habe ich selbst nur vereinzelt bei Schüler:innen erlebt. Viele Kinder entwickeln sich schnell und optimieren ihre Selbstorganisation. Die Möglichkeit, im eigenen Tempo zu lernen und sich unabhängig von der 45-Minuten-Taktung in Inhalte zu vertiefen, tut vielen gut. Jedes vierte Kind hatte während des Distanzlernens das Gefühl, dass es mehr und effizienter lernen kann als in der Präsenz.
Dabei wurde auch das Verständnis in den Familien dafür gefördert, was Kinder für die Schule leisten. Dass ein Großteil dieser profitierenden Kinder im Gymnasium beschult wird, möchte ich angesichts meiner Erfahrungen gerne glauben. Trotz vielfältiger Belastungen forderten Schüler:innen den Religionsunterricht und die Behandlung großer Fragen im Horizont der Pandemie ein.
Im Kontrast dazu sind Kinder aus ländlichen und infrastrukturell schwach ausgebauten Regionen sowie wirtschaftlich schwächeren Milieus zu sehen, denen aufgrund mangelhafter digitaler Ausstattung der Zugang zu Bildung verwehrt bleibt. Auch Kinder aus gewalttätigen oder schwierigen Familienverhältnissen, die unter Misshandlungen oder Vernachlässigung leiden, können nur schwer von den Religionslehrkräften erreicht werden. Viele Religionslehrkräfte engagierten sich während des Frühjahrs und darüber hinaus in der Notbetreuung, Seelsorge und individuellen Betreuung.
Der religiöse Bildungsauftrag kollidiert angesichts der bedrohlichen Situation mit der Verantwortung und der Fürsorge von Schule und Staat gegnüber Lehrer:innen und Schüler:innen und dem Selbstanspruch des Faches. Natürlich übernimmt der Religionsunterricht Verantwortung und steckt zurück, da das Unterrichten in gemischten Klassenverbänden oder an verschiedenen Schulen derzeit nicht verantwortbar ist. Dies kann allerdings nicht zum Dauerzustand werden, da der Bildungsauftrag ungebrochen auch für das Fach Religion gilt. Analoge und digitale Zugänge dürfen dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Mit Ängsten umgehen
Vor der Pandemie wurde auch im Fach Religion der Lehrplan stark in den Vordergrund gerückt und immer wieder auf reine Wissensvermittlung gesetzt. Diese wird häufig genug leider eher als interessant wahrgenommen und nicht als elementar. Mit der Pandemie und den neuen und unbekannten Bedingungen, unter denen nun gearbeitet werden sollte, hat sich diese Sicht verschoben.
Ängste wurden verstärkt: Angst um die Großeltern, die eigene Gesundheit und die der Mitmenschen, Überwältigung von den Umständen und Hilflosigkeit angesichts eines unsichtbaren Feindes. Familien werden durch die Gleichzeitigkeit von Betreuung und Arbeit vor eine Zerreißprobe gestellt, die unvermindert ihren Tribut verlangt und alle an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit führt. Weder das kreative Suchen nach neuen Lösungen und Ansätzen, noch die Verbundenheit und Solidarität mit denen, die Verlust erlitten, einsam waren und gegenüber allein lebenden oder allein erziehenden Menschen konnten das auffangen.
Der Auftrag für die Zukunft des Religionsunterrichtes wird in diesem Sinne von Viera Pirker pointiert auf den Punkt gebracht:
„Wer mit Schicksal, Schöpfung, Kontingenz, Unverfügbarkeit und Dankbarkeit leben gelernt, und vielleicht sogar einen einigermaßen geklärten Transzendenzbezug entwickelt hat, hat gute Ausgangsvoraussetzungen, mit Ambiguitäten umzugehen, wie sie sich in der Bewältigung der Pandemie, in den Herausforderungen der Demokratie, in einer pluralen Gesellschaft insgesamt stellen.“
Das Gebot der Stunde
Was ist das Gebot der Stunde angesichts dieser Herausforderungen? Viele Maßnahmen, die in den Schulen bisher angeordnet wurden, sind vom Mangel geprägt. Der Ausbau digitaler Infrastrukturen und die Erarbeitung von Schulkonzepten abseits der alleinigen und ausschließlichen Protegierung des Präsenzunterrichtes ist zunächst staatliche Aufgabe. Dazu gehört auch eine kontinuierliche und individualisierte Fortbildungspraxis.
Hier müssen Angebote gemacht werden, die die Digitalität der heutigen Zeit aufgreifen und auch ernstnehmen. Die Festsetzung eines frei wählbaren, individuellen und in der Stundenanzahl verbindlichen Fortbildungskontingentes (in Hamburg 30 Stunden im Jahr) durch die Länder ist definitiv förderlich. So wäre auch ein äußerer Anreiz dafür gegeben, dass sich Lehrkräfte oder Fortbildende im Fach Religion vernetzen und sich im Team weiterentwickeln. Ansatzpunkte finden sich in den dargestellten Communities of Practice (#relichat, #relichatCafé, #RUfOERtBILDUNG).
Die Corona-Krise hat die Herausforderungen für den Religionsunterricht der Zukunft noch stärker in den Vordergrund treten lassen: Religionslehrkräfte müssen im Netzwerk zusammenarbeiten, um passgenauen, zeitgemäßen und guten Religionsunterricht anbieten zu können, den Kontakt zu den Schüler:innen zu halten und sie auffangen zu können. Das geht nur mit starken Partnern. Effiziente Unterstützungsangebote wie rpi-virtuell.de müssen daher gefördert und nicht kaputtgespart und beschnitten werden.