Foto: Hendrik Wieduwilt (Flickr), CC BY 2.0

Passionierter Antisemitismus

Der alltägliche Antisemitismus in Deutschland sollte Christen Anlass genug sein, sich mit dem religiös begründeten Judenhass der eigenen Tradition zu beschäftigen. Ein Blick in die Passionsgeschichte.

Bundesaußenminister Heiko Maas besuchte auf seiner Israel-Reise auch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. In das Gästebuch trug er ein: „Die Erinnerung darf niemals enden. Deutschland trägt die Verantwortung für das grausamste Verbrechen der Menschheitsgeschichte“. Und weiter: „Jeder Form von Antisemitismus und Rassismus müssen wir uns entschieden entgegenstellen – überall und jeden Tag.“

In diesen Tagen werden erneut antisemitische Übergriffe auf Schüler an deutschen Schulen heiß diskutiert. Zuletzt ging es um einen Fall an einer Berliner Grundschule. Im Fokus steht daher abermals der religiös motivierte Antisemitismus, hier am Beispiel von Einwanderern aus muslimischen Ländern. (Mehr dazu: „Woher kommt der Judenhass an Berliner Schulen?“, Der Tagesspiegel)

Blick auf die eigene Tradition

Für Christen ist der alltägliche Antisemitismus in Deutschland Anlass genug, sich mit dem religiös begründeten Judenhass der eigenen Tradition zu beschäftigen. Gemeint sind einmal nicht die judenfeindlichen Auswürfe des Reformators und die Entstehung des modernen Antisemitismus aus den Herzkammern des Protestantismus des 19. Jahrhunderts.

Schon in den Passionserzählungen des Neuen Testaments finden sich judenfeindliche Passagen, die über Jahrhunderte Anknüpfungspunkte für christlichen Judenhass boten. Dass sich die Kirchen hierzulande nach Shoah und Zweitem Vaticanum kritisch mit der eigenen judenfeindlichen Geschichte auseinandersetzen, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass diese Texte bis heute als Reservoir für christlich legitimierten Judenhass herhalten müssen.

Was ist wirklich gemeint?

Es ist sicherlich nicht zielführend, eine simple „Reinigung“ der Passionserzählungen zu fordern. Was von den Autoren des Neuen Testaments damals geschrieben wurde, ist aus bestimmten Gründen so verfasst und später ausgelegt worden. Zu dieser Wirkungsgeschichte müssen Christen heute stehen und sich konstruktiv zu ihr verhalten. Ein simples Ausstreichen hilft hier nicht weiter.

Vielmehr kommt es darauf an beim Lesen und Hören eine erneute „Übersetzung“ vorzunehmen, d.h. nicht allein auf den Wortlaut des Textes zu hören, sondern sich ernstlich zu fragen, was gemeint sein könnte.

Gefordert sind vor allem zwei Übersetzungsleistungen, die dem judenfeindlichen Ressentiment die Basis entziehen können. Gleichzeitig gelangt man durch eine solche Akzentuierung, die für sich genommen ebenfalls schon im Neuen Testament angelegt ist, näher an den Sinn der Passion für unsere Zeit. Niemand, erst recht nicht den Christen, nützt es heute, gegen die Juden oder den Hohen Rat anzugehen. Wir müssen verstehen, was im Kontext der Passionsgeschichte mit beiden wirklich gemeint ist.

Wider die religiöse Macht

Mit dem Hohen Rat der Juden (Markus 14, 53-65) ist die religiöse Macht aller Zeiten gemeint. Schon immer wollen Menschen gerne bestimmen, was und wie geglaubt werden soll. Daraus entsteht konkrete Macht über das Leben des Einzelnen wie der Gruppe. Wo findet der Gottesdienst statt, was geschieht dort, wer darf in welcher Rolle teilnehmen? Zu welchem Preis darf ich teilnehmen?

Das sind auch heute aktuelle Fragen und diejenigen, die Macht haben zu entscheiden, wer außen vor bleibt und wer dabei ist, regieren noch heute in das Leben von Menschen hinein. Wer darf am Tisch des Herrn Platz nehmen? Sind es wiederverheiratete Paare, geschiedene Menschen? Wer darf zum Tisch des Herrn rufen? Allein geweihte Männer, die den Kirchenoberen genehm sind, oder auch Frauen, Zweifler, Sünder? Und wen lädt der Jesus der Ostererzählungen zu seinem letzten Mahl?

Wer nimmt für sich in Anspruch, bestimmen zu dürfen, was wahr und gut, was falsch und böse ist? Jedes Lehramt steht in der Gefahr sich zu verabsolutieren, die eigenen Interessen unreflektiert zum Ausgangspunkt der Urteilsfindung zu machen. Wenn das alles noch im Gewand der Demut daher kommt, dann stehen die Anderen schnell als Gotteslästerer da, die mit der alten Ordnung den ganzen Glauben, ja, Gott in Frage stellen. Was wird Jesus von den religiösen Führungskräften seines Volkes gefragt (Markus 14, 61)?

Wer die religiöse Sprengkraft des Jesus-Glaubens verstehen will, der tut gut daran, beim Lesen und Hören nicht zu hören „der Hohe Rat der Juden„, sondern zu verstehen, dass hier alle religiöse Macht gemeint ist. Übergriffige religiöse Macht steht mit den Despoten weltlicher Macht im Bunde, auch davon geben die Passionserzählungen beredtes Zeugnis. Jesus stellt die Macht in Frage, unterläuft ihre Mechanismen, unter ihr leidet er; weil er ihr nicht entspricht und gehorcht, stirbt er am Kreuz.

Die Juden, das Volk

Es dauert keine Woche, da fordern die Jubelnden seinen Tod. Das Volk ist eine untreue Geliebte, es schreit: „Weg, weg mit dem! Kreuzige ihn!“ (Johannes 19, 14-15). So manch kulturell bewandertem Christen klingt die entsprechende Passage der Johannespassion in den Ohren.

Die Forderung des jüdischen Volkes Jesus zu kreuzigen, ist der prominenteste Ankerpunkt für christlichen Judenhass im Neuen Testament. Die Juden sind Schuld am Tod des Erlösers. Für diese ewige Schmach müssen sie büßen, ihre Häuser und Synagogen sollen brennen.

Selbst jene, die mit ihrer Exegese im Gepäck nicht zu Pogromen aufrufen, verzwecken die Juden gerne für die Erlösungsgeschichte der christlichen Religion. In dieser Geschichte führen die Juden nur aus, was Gott von langer Hand geplant hat, den Tod seines Sohnes am Kreuz. Sie trifft darum keine Schuld, sie folgten dem Plan Gottes. Tragisch allein ist ihre Verstockung, in Jesus doch nicht den Messias zu erkennen. So weit Paulus.

Näher an die Tragik des Todes Jesu gelangt man gleichwohl, indem man konsequent von Volk statt den Juden spricht. Es ist das Volk, das einen der ihren ausstößt und dem Tode preisgibt. Das gleiche Volk, das eben noch begeistert war. Die Passionsgeschichte wird so zu einem Gleichnis über die Verführbarkeit der Massen, zu einem Menetekel der menschlichen Anfechtung.

Heute soll erneut festgelegt werden, wer dazu gehört und wer nicht, wer sich in den Mauern unserer Städte, an unseren Schulen sicher fühlen darf und wer gejagt werden soll. Jesus starb am Kreuz vor den Toren der Stadt, verstoßen aus der Gemeinschaft, keinem Volk zugehörig.

Ecce homo

Das Kreuz kann nicht Zeichen derjenigen sein, die Macht über andere Menschen fordern und durchsetzen. Unter dem Kreuz werden alle Grenzen der Menschen für nichtig erklärt. Es steht den Tyrannen und Despoten nicht mehr zu Verfügung. Wer auf das Kreuz schaut, misstraut der Macht und der Masse.

Der Mensch Jesus von Nazareth, der dort am Kreuz unter Qualen stirbt, ist Jude, ist ein Staatenloser, ist von religiöser und weltlicher Macht verraten und im Stich gelassen.