Einführung von Pastorin Maren Brückner in Kiel 1970, Foto: Friedrich Magnussen (Wikipedia, CC BY-SA 3.0 DE

Provokation Lettland: Die Frage nach der Frauenordination

Die Evangelisch-Lutherische Kirche Lettlands hat die Frauenordination wieder abgeschafft. Christine Globig blickt nach Lettland und in die Geschichte der Frauenordination und zeigt: Sie ist eben keine Selbstverständlichkeit.

„Und so ist heute geradezu Kennzeichen der Kirchen der Reformation, dass Frauen alle Ämter innehaben“, so Margot Käßmann. Der Anspruch, dass reformatorische Theologie in ihrem Kern die Gleichstellung von Männern und Frauen im Amt fordert, wurde im Zusammenhang des Reformationsjubiläums 2017 immer wieder zur Sprache gebracht: Die Frauenordination sei „eine Langzeitfolge reformatorischer Erneuerung“, „ein ‚Markenzeichen‘ reformatorischer Kirchen in Deutschland“.Es sei eindeutig, dass „heute die Frauenordination zum evangelischen Selbstverständnis gehört“ und dass dem Anspruch nach „die Repräsentation von Frauen in allen Ämtern Kennzeichen einer Kirche ist, die sich reformatorisch nennen will.“ Ich selbst habe die Frauenordination in einem älteren Beitrag als „amtstheologisches Proprium des Protestantismus“ bezeichnet.

Gegenwärtig aber stellt sich die Frage, was geschieht, wenn der theologische Anspruch auf ganz andere Realitäten aufprallt. Hinsichtlich der Frauenordination ist im deutschen evangelischen Raum ein Gefühl der Selbstverständlichkeit erreicht, und das Reformationsjahr gab Gelegenheit den reformatorischen Impuls mit dem Anspruch von gender-Gerechtigkeit zu verbinden.

Folgt man dem, wird die Entwicklung hin zur Frauenordination als linear, folgerichtig und unrevidierbar begriffen. Doch was ist mit den protestantischen Schwesterkirchen, die diese Entwicklung nicht teilen wollen oder ihr gar entgegensteuern?

Eine Ökumene der Frauenordination?

Die Evangelisch-Lutherische Kirche Lettlands (ELKL) hatte die Frauenordination im Jahr 1975 eingeführt, hatte sie 1993 – in Konsequenz der Wahl von Erzbischof Jānis Vanags, einem entschiedenen Gegner der Frauenordination – ausgesetzt und im Juni 2016 wieder abgeschafft, als die Synode die Beschränkung des Pfarrdienstes auf Männer in der Verfassung verankerte.

Damit ist die kleine ELKL die erste Kirche weltweit, die die Frauenordination zurückgenommen hat. Ähnliche Bewegungen gibt es zwar in der Schlesischen Lutherischen Kirche der Tschechischen Republik und in der Reformierten Kirche von Transkarpatien, die aber, weil sie noch viel kleiner sind, keine Beachtung gefunden haben.

Lettland indes zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Schon unmittelbar vor und nach dem Beschluss hatten sich deutsche Kirchen und kirchliche Verbände kritisch, zum Teil offen empört zu Wort gemeldet. Die Bischöfin der der ELKL eng verbundenen Nordkirche, Kirsten Fehrs, protestierte bereits vor der Synode gegen die geplante Verfassungsänderung; und die Nordkirche hat im Anschluss maßgebliche finanzielle Konsequenzen gezogen. EKD und VELKD bedauerten die Entscheidung, ebenso das Gustav-Adolf-Werk und die Evangelischen Frauen in Deutschland.

Wilfried Hartmann, Präsident der Generalsynode der VELKD, äußerte sich auf Facebook „traurig und enttäuscht… Beten wir dafür, dass Gott sie bald erkennen lässt, was sie da beschlossen haben.“ Die bayerische Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler schrieb ebenda: „Das ist ja wohl die Höhe! Zurück ins Mittelalter oder was? Wo bleibt unser Proteststurm?“ Einen Sturm hat es trotz der vielfachen Empörung nicht gegeben. Eher sind es kurze bedauernde und auch zum Teil räsonierende Äußerungen zu Lettland, die zurzeit nahezu jedes Votum zur Frauenordination begleiten.

Was durch den Beschluss der ELKL in die Irritation geraten ist, ist die Annahme, dass die Entwicklung in Richtung auf gender-Gerechtigkeit linear verläuft. Dieser Anspruch – und sei er noch so theologisch-reformatorisch ernsthaft – ist geknickt. Das ceterum censeo, das die Statements zur Frauenordination so konstant begleitet, macht deutlich, dass es eine Verunsicherung gibt und dass die kritischen Repliken auf die baltische Kirche wahrscheinlich auch der eigenen Selbstvergewisserung dienen. Der zeitliche Vorsprung, den die deutschen evangelischen Landeskirchen in dieser Frage besitzen, ist ja sehr gering.

Ich komme deshalb auf die Entwicklung in Deutschland zurück, nicht nur, um den Anspruch einer Überlegenheit zurechtzurücken, sondern auch, um nach möglichen Vergleichspunkten zu suchen und dann die Besonderheiten der lettischen Situation genauer zu konturieren.

Im Hauptteil meines Beitrags richtet sich die Analyse auf drei Gesichtspunkte, die ich für die Genese der Ablehnung der Frauenordination in Lettland für besonders relevant halte und die zumindest einen ersten Schlüssel bieten können, um die Situation zu verstehen: Ich untersuche den Einfluss und die Position des lettischen Erzbischofs bzw. des Bischofskollegiums und Konsistoriums gegenüber der Synode, die spezifische Prägung von Erzbischof Jānis Vanags durch die Bedingungen der 1980er Jahre und die Institutionen der Ausbildung in der ELKL.

Danach stelle ich abschließend die Frage, ob – wie Friedrich Wilhelm Graf meint – die Ablehnung der Frauenordination in Lettland als Symptom für einen religionsbezogenen Modernisierungskonflikt zu begreifen ist.

Frauenordination in Deutschland

Zunächst aber soll der Ausklang der deutschen Diskussion zur Frauenordination in Kürze aufgezeigt werden, um die zeitlichen und zum Teil auch positionellen Überschneidungen zwischen den beiden Ländern zu verdeutlichen.

In Deutschland fand die erste vollgültige Frauenordination 1943 statt – Folge des Pfarrermangels im Zweiten Weltkrieg –, aber die Entwicklung nach 1945 brachte für die Frauen im Pfarramt noch erhebliche Einschränkungen mit sich. Erst in den 1970/80er Jahren haben die meisten evangelischen Landeskirchen die völlige rechtliche Gleichstellung von Pfarrern und Pfarrerinnen implementiert.

Im Jahr 1991 – zwei Jahre, bevor die lettische lutherische Kirche die Frauenordination 1993 wieder aussetzte – hat Schaumburg-Lippe als letzte deutsche Landeskirche die Frauenordination eingeführt. Ein Jahr später provozierte die Wahl einer Frau (Maria Jepsen) ins höchste lutherische Leitungsamt nochmals eine EKD-weite Auseinandersetzung, weil nicht nur erneut der Häresie-Vorwurf aufbrandete, sondern auch Unbotmäßigkeiten von nordelbischen Pfarrern zu befürchten waren.

Die Theologische Kammer der EKD verfasste eine kleine Schrift „Frauenordination und Bischofsamt“, die meines Wissens die erste deutsche kirchliche Verlautbarung darstellt, in dem die Frauenordination als zwingende Konsequenz der reformatorischen Lehre festgestellt wird. Dort ist zu lesen:

„Die Kritik an der Wahl einer Frau in das evangelische Bischofsamt verläßt … den Boden der evangelischen Kirche, wenn man zwar der Ordination von Frauen, nicht aber der Wahl einer Bischöfin zustimmen zu können meint. Aber auch eine prinzipielle Kritik an der Frauenordination verläßt den Boden der in der evangelischen Kirche geltenden Lehre.“

Mit diesem Votum war aber weniger ein theologisches Bekenntnis, als die dienstrechtliche Frage im Blick. Gegenüber dem beharrlich opponierenden Erlanger Systematiker Reinhard Slenczka, der die EKD angeklagte, „eine bestimmte neue Menschensatzung mit dem Mittel der Exkommunikation und der Lehrverurteilung“ durchsetzen zu wollen und ein Anathema für alle Andersdenkenden zu formulieren, hat der damalige Präsident des EKD-Kirchenamtes, Hartmut Löwe, die Stellungnahme dahingehend erläutert, dass der Rat „zu keiner Zeit ein Anathema ausgesprochen“ und die „Frage der Frauenordination nicht zu einer ‚Bekenntnis- und Heilsfrage‘“ erhoben habe.

Es gehe vielmehr darum, dass „es mit den geltenden Ordnungen der evangelischen Kirche nicht zu vereinbaren ist, wenn sich Amtsträger der Zusammenarbeit mit ordinierten Frauen prinzipiell verweigern oder der Amtsausübung einer Bischöfin widersetzen“. Allzu grundsätzlich wollte das EKD-Votum also gar nicht verstanden werden.

Doch nicht einmal die dienstrechtliche Frage ließ sich zu diesem Zeitpunkt überall absichern: In der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern war noch bis zum 1. Januar 1998 der sogenannte Veto-Paragraph in Kraft, der verlangte, eine Pfarrstellenausschreibung auf Männer zu beschränken, wenn „die Mehrheit der Kirchenvorsteher oder ein zum Dienst in der betreffenden Kirchengemeinde berufener Pfarrer oder Pfarrverwalter es verlangen.“

Insofern kann Deutschland hinsichtlich der Frauenordination auf gerade 21 Jahre echte Erfolgsgeschichte – und auf erhebliche Retardierungen in der Entscheidungsfindung – zurückblicken.

Die Ablehnung der Frauenordination war nicht nur auf evangelikale und konfessionell-lutherische Gruppen, sondern auch wesentlich auf den Einfluss hochkirchlicher Strömungen und auf die Position einzelner Bischöfe und ihren Einfluss auf Landeskirchenämter, Gremien, Gemeinden und Pfarrer zurückzuführen. Die entschiedene Position von Landesbischof Hermann Dietzfelbinger war lange Zeit ausschlaggebend: „Rückblickend bezeichnete er sich selbst als Hauptursache für die späte Einführung der Frauenordination in Bayern.“

In Schaumburg-Lippe hat es bis zum Ende der Amtszeit von Landesbischof Joachim Heubach 1991 keine Frauenordinationen gegeben. Heubach war neben Peter Brunner nach 1945 der maßgebliche Vertreter einer hochkirchlichen Amtstheologie, die sich der Frauenordination verweigerte.

Der Einfluss des Erzbischofs in der ELKL

In der einflussreichen Position eines Bischofs kann man nach einem Vergleichspunkt für die Entwicklung in Lettland suchen. Dort war die Bejahung oder Ablehnung der Frauenordination immer mit einzelnen Erzbischöfen verbunden; Phasen der Zustimmung und Ablehnung wechseln einander allerdings ab!

Um dieser Wechsel willen war die Akzeptanz in der Kirche nie sehr hoch, die Entscheidung für die Frauenordination wurde in den Folgejahren immer wieder hinterfragt und konservative Gemeinden drohten mit Abspaltung. In der kleinen ELKL sind es zudem nicht viele Frauen, die die Ordination erhalten haben.

Dennoch aber waren die Entscheidungen pro oder contra, die die theologische Position des jeweiligen Erzbischofs widerspiegeln, natürlich zeichenhaft, und die vollzogenen Ordinationen sind für junge Frauen, die theologisch interessiert sind und eine Berufung für den Pfarrdienst spüren, bis heute das entscheidende Signal.

Unter Jānis Matulis (Erzbischof 1969-1983) erfolgte 1975 die Ordination der ersten Theologinnen – Vaira Bintēna, Berta Stroža und Helēna Valpētere – zum Pfarrdienst in Lettland. Matulis’ Nachfolger Erik Mesters (Erzbischof 1983-1989) lehnte die Frauenordination ab; der ihm nachfolgende Karlis Gailitis (Erzbischof 1989-1992) ordinierte fünf Frauen, bevor das Amt des Erzbischofs auf Jānis Vanags überging. Die vor dessen Amtsübernahme ordinierten Frauen blieben im Amt, und zwei weitere Frauen, die unter Gailitis 1991 bereits die erste Ordinationsstufe erhalten hatten, bekamen unter Jānis Vagas „ohne Aufsehen“ noch die vollen Ordinationsrechte. Doch der gegenwärtige Erzbischof ordiniert keine Frauen, und die Theologinnen, die ihre Ordination zwischenzeitig in der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands im Ausland (LELBĀL) erhalten haben, bekommen in der ELKL keine Anstellung.

Die Voten der Synode sind in diesem Prozess insofern zweitrangig gewesen, als die bischöflich bereits ausgeübte Praxis der Frauenordination synodal erst 1989, 14 Jahre nach der ersten Ordination, mit knapper Zweidrittel-Mehrheit bestätigt wurde. Ebenso geschah es mit der Aussetzung dieser Praxis: Obwohl seit Vanags’ Installation 1993 keine Frauen mehr ordiniert wurden, wurde die Entscheidung erst 13 Jahre später, 2016, als Verfassungsänderung verankert. Schon weil sie nur alle drei Jahre zusammenkommt, hat die Synode gegenüber Konsistorium und Bischofskollegium der ELKL eine schwache Position. Gefragt, warum er den ersten synodalen Beschluss nach seiner Wahl missachtet habe, reagierte Erzbischof Vanags lakonisch:

„Well, I stopped it by itself. Since the archbishop is the only person in the ELCL [ELKL] who has the right to ordain, there have been no ordinations of women since I was chosen since there is nobody who could ordain them.“

Auf diesem Hintergrund wirkt es unangenehm, dass Vanags in heutigen Äußerungen massiv und unerschütterlich auf die Bedeutung der synodalen Entscheidung von 2016 insistiert, während er das anderslautende Votum der Synode von 1989 nahezu karikiert hat. Der Erzbischof beharrt darauf, dass die Entscheidung im Jahr 1989 ohne Überzeugung geschah, und auf der Rechtmäßigkeit der Verfassungsänderung von 2016:

„In der sowjetischen Zeit hat man die Frauenordination ohne Konsultation mit der Synode begonnen. So ging es auch weiter. Aber nun haben wir einen synodalen Beschluss. Damit ist klar, was Position der Kirche ist.“

Tatsächlich ist aber sehr zu vermuten, dass beide Entscheidungen der Synode – 1989 pro, 2016 contra Frauenordination – unter dem starken Einfluss des jeweiligen Erzbischofs und anderer Meinungsführer geschehen sind. Auch bei der Abstimmung 2016 wurde eine Zweidrittel-Mehrheit erreicht (77,3% vs. 22,7%), allerdings nur, indem 22 Stimmen, die sich enthalten hatten, gar nicht gezählt wurden. Ein schriftlicher Einspruch gegen dieses Zählverfahren am nächsten Tag wurde abgelehnt. „Den Antrag auf geheime Wahl hatte die Mehrheit abgelehnt, denn viele betonten: Dieses Votum hat den Charakter eines öffentlichen Bekenntnisses.“

Einen Kontrapunkt in der Frage der Frauenordination erfährt die ELKL durch die Evangelisch-Lutherische Kirche Lettlands im Ausland (LELBĀL). Die Auslandskirche, die nach der dramatischen Emigrationswelle 1944 von Erzbischof Teodors Grīnbergs (1932-1962) aufgebaut wurde und zu den Gründungsmitgliedern des Lutherischen Weltbunds gehört, steht der Frauenordination positiv gegenüber, hat 1974 die allererste lettische Theologin, Agnese Pone, (in Deutschland) ordiniert und die Praxis der Frauenordination stetig fortgesetzt. Sie hat inzwischen auch eine Propstei in Lettland und ordiniert dort auch Theologinnen. Die Erzbischöfin der LELBĀL, Lauma Zušēvica (Erzbischöfin seit 2015), erscheint, allemal im großen Bischofsornat, als starke Kontrastfigur gegenüber dem Rigaer Erzbischof.

Biographie und Theologie: Jānis Vanags

Der 1958 geborene, in der Illegalität ausgebildete Theologe wurde 35-jährig Erzbischof der ELKL und leitet sie seit über 25 Jahren. Alle Etappen in Vanags‘ theologisch-kirchlicher Biographie wurden sehr schnell erreicht:

Erzbischof Jānis Vanags, Foto: Reinis Inkēns, Saeimas Kanceleja (Wikipedia), CC BY-SA 2.0

Zunächst Lehrer für Chemie und 1984 bis 1989 Student in der illegalen theologischen Ausbildung des Lutherischen Seminars (s.u.) wurde Vanags 1985 aufgrund seines christlichen Bekenntnisses aus dem Schuldienst entlassen und jobbte zwischenzeitig, bevor er im Dezember desselben Jahres als Gemeindepfarrer installiert wurde – eine nicht untypische Situation in der Zeit der Ablösung von der Sowjetunion, die vom schnellen Anwachsen der Gemeinden und von Pfarrermangel geprägt war und in der viele Theologiestudierende Gemeinden übernahmen.

Doch Vanags‘ Biographie erscheint auch in diesem Kontext exzeptionell: Der bis 1989 noch studierende Pfarrer gehörte nach 1990 bereits zu den jüngeren Dozenten an der neu eröffneten Theologischen Fakultät in Riga. 1993 war er Erzbischof.

Vanags’ amtstheologische Position – Fokussierung auf die sakramentalen Funktionen und Christusrepräsentation – spiegelt die Prägung durch den Kirchenhistoriker und Pfarrer Roberts Feldmanis wider, der in den 1980er Jahren eine Gruppe junger Christen an sich band. Die Gruppe Atdzimšana un Atjaunošana (Wiedergeburt und Erneuerung), die von Feldmanis inspiriert war und deren Mitglieder teilweise auch in der Unabhängigkeitsbewegung Lettlands aktiv waren, bemühte sich während Glasnost und Perestroika erfolgreich darum, den christlichen Einfluss in der Sowjet-lettischen Gesellschaft zu stärken.

Darüber, ob Vanags auch in der Unabhängigkeitsbewegung aktiv war, ist mir nichts bekannt. Doch schließt er in der Interpretation seiner Biographie immer wieder an die Sowjetzeit an:

„Wir jungen Theologiestudenten erkundigten uns bei den aus der Gefangenschaft befreiten Christen, wie man im Gefängnis überleben kann, denn wir mussten mit Festnahme als realer Möglichkeit rechnen. Wir wussten zur Genüge vom Leben im Gulag, um es zu fürchten. Und doch war etwas stärker als diese Furcht.“

Vanags’ offensiv-kritische Haltung gegenüber dem liberalen Westen speist sich aus dem Rückblick auf eine Zeit, die für Kirche und Christen dramatisch gewesen ist. Er fokussiert die Phase der Sowjetbesatzung als eine Zeit des christlichen Märtyrertums und interpretiert die Erfahrung des Widerstands als Ausdruck der Vitalität einer Kirche, die nicht liberal ist, sondern die alten Strukturen beibehält – und nur darum beständig sein kann.

„There are many questions… that emerge for liberal theology in times of persecution, and I think that it is thus not able to survive danger and persecution… When theology is permanently liberal and persecutions come, then the Church collapses.”

Hinsichtlich der Narrative von Verfolgung und Widerstand, die der Erzbischof immer wieder aufruft, muss allerdings noch einmal differenziert werden, worauf Zanda Ohff hinweist: Die Verfolgungsgeschichten sind weniger von den Verfolgten selbst, als vielmehr von denen erzählt worden, die erst in den 1980er Jahren zu Christen wurden, als akut keine Gefahr mehr bestand. Insoweit aber an diese Geschichten angeknüpft wird, prägen sie das Selbstbild auch der gegenwärtigen Kirche.

Dazu hat die lange Isolation durch die Sowjetbesatzung zu einem Beharren auf der eigenen Position geführt, die von westlicher Seite mitunter als mangelnde Diskursfähigkeit empfunden wird. Als Ende der 1980er Jahre die sowjetische Ideologie bereits an Durchsetzungskraft verloren hatte, nahm das Interesse der Bevölkerung an anderen Wertvorstellungen – auch denen der Kirche – zu.

„Die Suchenden der 1980er Jahre waren im sowjetischen System groß geworden, in dem es nur eine Wahrheit gab – die von der Partei vertretene. Wenn die Wahrheit der Partei aber eine Lüge war, sollte es dann irgendwo die wahre Wahrheit geben… Die meisten Menschen, die sich in dieser Zeit zum Christentum bekehrten, verfügten über verhältnismäßig wenig Wissen über den Inhalt des Christentums, aber über sehr viel… Begeisterung und Kompromisslosigkeit.“

Aus westlich-akademischer Perspektive – die ihrerseits von der baltischen Kirche wiederum oft als arrogant empfunden wird – erscheint es so, dass eine gewisse Ungeübtheit in theologischer Ausdrucksweise die Dialoge erschwert.

Der fehlende Diskurs

Der (fehlende) Diskurs um die Frauenordination ist dafür ein Beispiel. Erzbischof Vanags betont, in mancher Hinsicht stereotyp, die Gleichwertigkeit von Mann und Frau vor Gott bei gleichzeitiger Unterschiedenheit der Aufgaben, die Konstanz der Botschaft der Heiligen Schrift, der die Kirche unveränderlich zu folgen hat, und die Fehldeutungen des Feminismus. In der lettischen Tageszeitung Diena wurde der Erzbischof wie folgt zitiert:

Gott schuf Mann und Frau gleichwertig. Gott hat ihnen verschiedene Aufgaben in Familie, Gesellschaft und Kirche anvertraut. Die zweitausend Jahre alte Kirche hat immer daran geglaubt, dass nach Gottes Willen, dem Vorbild Christi und dem Zeugnis der Heiligen Schrift das ordinierte Priesteramt zu den Aufgaben gehört, die Gott dem Mann anvertraut hat. Durch ihre ganze Geschichte hindurch hat die Kirche den Gedanken abgelehnt, dass in dieser Hinsicht irgendetwas zu ändern wäre, weil sie Gott gehorchen wollte, nicht aber, weil sie die Frauen als minderwertig aufgefasst hätte. Wir benutzen heute die gleiche Bibel wie immer. Die Idee der Ordination der Frauen ist ein Produkt der feministischen Ideologie, die aber vom Christentum weit entfernt ist.“

Der Begriff des „Feminismus“ ist ebenso wie der der „liberalen“ Theologie bei Vanags schlagwortartig immer vorhanden, aber inhaltlich nicht näher gefüllt.

Auch wenn der Erzbischof nicht müde wird zu betonen, dass es vorrangig die Gemeinden und Pfarrer sind, die die Frauenordination ablehnen, ist seine eigene Position und sein Einfluss auf eben diese Gemeinden und Pfarrer über die Länge seiner Amtszeit hin sicherlich erheblich. Auch ein weiterer Theologe im Bischofskollegium, Hanss Jensons, Regionalbischof von Liepāja, bekämpft die Frauenordination radikal. Jensons emigrierte aus diesem Grund aus seiner Heimatkirche Schweden nach Lettland.

„Bei seiner Vorstellung vor der Synode [anlässlich seiner Bischofswahl] soll er verkündet haben, er könne nicht mit einer ordinierten Frau am Altar stehen und eigentlich auch keine Partnerschaft mit einer Kirche eingehen, die Frauen ordiniert.“

Akademische Theologie und kirchliche Ausbildung

Der Einfluss der leitenden kirchlichen Organe auf die theologische Position der Pfarrer und Gemeinden verstärkt sich durch die Struktur der theologischen Ausbildung in Lettland – faktisch eine Verdoppelung der Ausbildungseinrichtungen –, die dazu geführt hat, dass die akademische Theologie einer im engeren Sinne kirchlichen und konservativen Qualifikation der Pfarrer gegenübersteht. Diese Doppelstruktur wirkt sich unmittelbar auf die Ausbildungswege und Berufschancen von theologisch interessierten Frauen aus.

Gegenwärtig besteht neben der Theologischen Fakultät in Riga die 1997 gegründete Luther-Akademie (für die als Direktor anfangs der in Erlangen emeritierte Reinhard Slenczka berufen wurde). Zukünftige Pfarrer der ELKL – an Pfarrerinnen ist nicht gedacht – müssen an der Luther-Akademie studiert haben. Ein Abschluss der Theologischen Fakultät wird nicht akzeptiert, es sei denn, dass die Absolventen anschließend Ausbildungsgänge an der Luther-Akademie belegen; auch sind Magisterabschlüsse oder Doktorate nach Abschluss der Lutherakademie an der Fakultät möglich.

Mit dieser strikten Einbindung der Theologiestudenten in einen rein kirchlichen Ausbildungsweg kann die Kirchenleitung nur eingeschränkt auf eine akademisch-internationale Vernetzung des Nachwuchses, aber auch kaum mit theologischem Widerspruch in der Pfarrerschaft rechnen.

Die innerkirchliche Ausbildung hat in Lettland Tradition: Schon der erste und einflussreiche Bischof der ELKL, Kārlis Irbe (Erzbischof 1922-1931), wusste sich mit der Theologischen Fakultät an der 1920 gegründeten Universität Lettlands nicht einverstanden und insistierte, wie die ELKL es heute auch tut, auf eine eigene kirchliche Ausbildung, vor allem in Praktischer Theologie und konfessioneller Theologie.

Begünstigt durch die Tatsache, dass die Fakultät zunächst keinen Lehrstuhl für Praktische Theologie besaß und bestärkt durch den extremen Pfarrermangel auch der 1920er Jahre, gründete Irbe ein Institut für Theologie, das von 1923 bis 1937 Bestand hatte und in dem neben anderen Aus- und Fortbildungen ein außeruniversitärer theologischer Ausbildungsweg zum Pfarramt aufgestellt wurde. Die Dozenten des Instituts waren alle (vielfach kirchenleitende) Pfarrer und vertraten, wie Irbe selbst, ein orthodoxes Luthertum.

Unter den Studierenden am Institut gab es einige wenige Frauen, über deren Lebensweg ich aber nichts ermitteln konnte. In dieser Hinsicht ist die Theologische Fakultät interessant, die im gleichen Zeitraum einen beachtlichen – im Vergleich mit Deutschland überragend hohen –Anteil von Theologinnen qualifiziert hat. Unter den ersten 15 Studierenden waren bereits 4 Studentinnen; in den ersten 20 Jahren ab 1920 studierten zwischen 14% und 20% Frauen, von denen viele später als Religionslehrerinnen arbeiteten.

Die lettische Theologin Zenta Brauere hat bereits 1923, als zweite Theologin in ganz Europa (!), an der Theologischen Fakultät in Riga ihr Examen abgelegt und danach – ohne Ordinationsrechte – auch Predigtdienst versehen. Die Theologin Johanna Ose, die mit Fakulätsabschluss in der Diakonie arbeitete, lehnte die ihr unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs angebotene Ordination ab, „weil sie befürchtete, die erste ordinierte Frau der Welt zu sein!“ Die Offerte an Johanna Ose war dem Pfarrermangel der Nachkriegszeit (aufgrund der Emigrationen 1944) geschuldet. In Deutschland hat man, wie wir gesehen haben, wegen Pfarrermangels während des Krieges mit der Frauenordination begonnen.

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Der Artikel von Christine Globig ist zuerst im Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim erschienen (Ausgabe 1/2019). Dort finden Sie den Beitrag inklusive ausführlicher Belege und weiterführenden Literaturhinweisen. Den Materialdienst können Sie im Abonnement beziehen oder Einzelhefte bestellen.

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In der Zeit der sowjetischen Besetzung Lettlands war die Theologische Fakultät geschlossen. Initiiert durch Alberts Freijs (1903-1968), der vor seiner Deportation nach Sibirien eine Professur an der Fakultät innehatte und aus der Gefangenschaft zurückkehren konnte, wurden ab 1969 theologische Kurse und 1976 das Lutherische Seminar geschaffen, das im Untergrund agierte und mit wenigen Studientagen und viel Selbststudium eine elementare Qualifikation (und zugleich den Broterwerb in einem anderen Beruf) ermöglichte. Die Studierenden

„trafen sich mit ihren Lehrern zwei bis drei Tage im Monat in den Räumen des Seminars, studierten aber im Wesentlichen zu Hause, während sie in der übrigen Zeit ihren Lebensunterhalt verdienten.“

Auch Erzbischof Jānis Vagas hat diesen Ausbildungsweg durchlaufen, wie auch alle ordinierten Theologinnen Lettlands an diesem Seminar ausgebildet wurden. Das Seminar bildete die Basis für die Wiedereröffnung der Theologischen Fakultät 1990. Es ist indes zugleich ein Identifikationsort für diejenigen geblieben, die die staatliche Ausbildung kritisieren.

Der Anspruch, dass nur die kirchlich-außeruniversitäre Theologie in der Lage ist, sich antichristlichen oder postmodernen Strömungen zu widersetzen, findet sich auch in der Erfahrung eines Studiums im Untergrund repräsentiert. Dieser Anspruch wird heute von der Lutherakademie fortgesetzt.

Das Theologiestudium an der Theologischen Fakultät hat, trotz der nach 1993 ausgesetzten Frauenordination, weiterhin viele Frauen fasziniert. Für den Zeitraum von 1990 bis 1997 bilanzierte der damalige Dekan der Fakultät, Vilis Varsbergs, die Bachelor- oder Master-Abschlüsse von 58 Männern und 57 Frauen. Einige von ihnen wurden in der Auslandskirche ordiniert. 2016 waren unter 150 Pfarrer*innen innerhalb der ELKL nur noch 3 Frauen tätig. Umgekehrt waren und sind bis heute rund die Hälfte der Diakon*innen und Evangelist*innen, die umfangreiche Aufgaben in der Gemeindearbeit – die Evangelist*innen auch den Predigtdienst – wahrnehmen, Frauen.

Varsbergs bemerkt, nicht ohne Ironie hinsichtlich von 1 Tim 2,12 („Ich gestatte einer Frau nicht, dass sie lehre…“), eine beträchtliche Spannung zwischen Theorie und Praxis, denn

„unter der Aufsicht ordinierter Pastoren dürfen die Evangelisten alles tun, außer der Weihung der Abendmahlselemente und der Durchführung von Hochzeiten“.

(Letzteres ist aufgrund einer staatlichen Regelung behindert, die nur ordinierten Geistlichen die Durchführung von Hochzeiten gestattet.) Die Lehre, d.h. der Predigtdienst von Frauen steht also in der Praxis in der ELKL gar nicht in Frage! (wohl aber eine weibliche Gemeindeleitung).

Eine biblizistische Begründung für den Ausschluss von Frauen kommt hier also selbst an ihre Grenzen. Noch einmal zeigt sich eine Überschneidung mit der Entwicklung in den deutschen Landeskirchen im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, in der sogenannte Vikarinnen nicht ordiniert, aber eingesegnet wurden und maßgebliche Aufgaben im Gemeindedienst übernahmen, die mitunter nach Bedarf an die Gegebenheiten angepasst wurden.

Ein Modernisierungskonflikt?

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Entscheidung hinsichtlich der Frauenordination durch verschiedene Faktoren bestimmt ist. Dazu gehört ein eingewurzeltes, schon Jahrzehnte währendes Misstrauen gegenüber der akademischen Theologie, die dazu geführt hat, dass sich eine innerkirchliche Ausbildung vom wissenschaftlichen Lehrbetrieb isoliert und autoritäre Strukturen begünstigt.

Die Pfarrer werden nicht in der Breite wissenschaftlicher Reflexion ausgebildet und müssen im Ordinationsgelübde versprechen, „in selbstlosem Gehorsam alle Befehle des Erzbischofs, des Konsistoriums oder des Dekans auszuführen“. Mit Varsbergs ist daher zu fragen: „Gibt es eine andere lutherische Kirche, welche von ihren ordinierten Pastoren einen solchen Gehorsam verlangt?“

Ob die Ablehnung der Frauenordination tatsächlich so tief in den Gemeinden verwurzelt ist, wie der Erzbischof es betont – andere bestreiten es – fällt hinsichtlich der Bedingungen der synodalen Entscheidungsfindung nicht absolut ins Gewicht. Die Entscheidungen pro und contra Frauenordination wurden vom amtierenden Erzbischof getroffen und jeweils erst mehr als 10 Jahre später synodal ratifiziert. Es ist Gemeinden und Pfarrern nicht zu verdenken, wenn sie dann vom status quo ausgehen.

Für das kirchliche Selbstbild sind die Überwindung der Sowjetherrschaft und die Verarbeitung der unendlichen christlichen Leidensgeschichten, die der Unabhängigkeit Lettlands vorausgehen, immer noch zentral. Insofern ist auch die Abgrenzung gegenüber westlicher (finanzieller, ideologischer) Dominanz gut nachvollziehbar.

Indes fördert es den Dialog nicht, wenn Narrative des Märtyrertums und der kirchlichen Selbstbehauptung in holzschnittartige Abgrenzungen (Feminismus, liberale Theologie, Postmoderne) einmünden, die die tatsächlichen Diskurse nicht mehr treffen. Die Theologinnen sind von diesen Widersprüchen besonders schmerzlich berührt.

„Besonders weh tut es, wenn wir Kolleginnen aus dem Ausland begegnen, die eine konservative Theologie mit dem Pfarramt vereinbaren und in ihrer Kirche vertreten können – denn dies macht deutlich, dass die Frage der Frauenordination keine primär theologische Frage ist.“

Ich habe eingangs Friedrich Wilhelm Grafs These eines „religionsbezogenen Modernisierungskonflikts“ angedeutet. Graf verweist in diesem Zusammenhand auch auf den problematischen Umgang der Kirche Lettlands mit Homosexualität.

Weit durch die internationale Presse ging die Entlassung des homosexuellen Pfarrer Maris Sants.  Als Sants nach seiner Entlassung einen Gottesdienst in der Anglikanischen Kirche organisierte, an der der damalige Dekan der Theologischen Fakultät Juris Calītis, als Pastor wirkte, wurde auch Calītis um dieser Solidarität willen von seinem Pfarramt suspendiert und aus der Abendmahlsgemeinschaft der Lutherischen Kirche ausgeschlossen.

Die ELKL reagiert in der Frage absolut kompromisslos. Bedrückend unreflektiert wirkt der Zusammenhang, den Vertreter der ELKL zwischen den beiden Themen Frauenordination und Homosexualität herstellen. Freilich spiegelt die kirchliche Position zur Homosexualität auch einen gesellschaftlichen Standpunkt wider – 2006 hat das lettische Parlament eine Verfassungsänderung beschlossen, die eine gleichgeschlechtliche Ehe verbietet – während die Rolle von Frauen sich in der lettischen Gesellschaft völlig anders darstellt: Lettland ist, trotz massiver wirtschaftlicher und sozialer Probleme, ein hochmodernes Land, chancenreich für viele Frauen – in Lettland nehmen sie mehr berufliche Spitzenpositionen ein als in anderen EU-Staaten. „41% der Angestellten in leitenden Positionen sind Frauen.“

Will man einen Modernisierungskonflikt beschreiben, dann wäre die Rolle der Frauen darin weiter zu untersuchen. Vielleicht ist der Begriff für die lettische Situation auch zu groß und zu allgemein gewählt.

Wie wir gesehen haben, geht es in der ELKL um ganz verschiedene Gegebenheiten, von denen ich nur einige präparieren konnte: um eine in der Kirche traditionelle Distanz gegenüber der wissenschaftlichen Theologie, um ein ebenfalls traditionell sehr starkes Bischofsamt, um Narrative der Märtyrerkirche, um ein bibeltreu-konservatives Luthertum und  – angesichts des Pfarrermangels und der überaus schnellen Qualifikation von Pfarrern im Lutherischen Seminar – um die Frage, ob die Theologen, die dort ausgebildet werden, und deren Gemeinden im weiteren Sinne diskursfähig gemacht werden.

Wenn das nicht geschieht, könnte der Anschluss der ELKL an die Moderne verloren gehen. Die Aufgabe der europäischen Kirchen ist darum, die Achse der Kommunikation bestmöglich aufrechtzuerhalten, damit sich die Isolation nicht verschärft.