Das crazy … der Rage Bait
Algorithmen und Populismus bestimmen das Leben auf den Social-Media-Plattformen. Zum Oxford Word of the Year 2025 wurde darum Rage Bait gewählt. Wie passend.
Wahlen zu den (Un-)Wörtern des Jahres sind verlässliche Schlagzeilen-Lieferanten, die von den Medien gerne genutzt werden. Frisch vor die Türschwellen der hungrigen Nachrichtenmacher:innen wird – wie gestern von der Oxford University Press – zumeist ein ganzes Bündel von hübschen Zitaten, Einordnungen und Social-Media-tauglichen Materialien gesetzt. Die Redaktionen bedienen sich gerne, basteln eigene Meldungen, Kacheln für Instagram, stellen junge Moderator:innen für Kurzvideos (Reels) vor die Kameras.
Mit Blick darauf, dass es sich bei den Losungswörtern entweder um die Wunschkandidaten von Professor:innen oder das Ergebnis von Online-Befragungen handelt, wirkt die große Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wird, ein wenig crazy. Den Wörtern wird doch recht viel zugemutet: Sie sollen uns etwas Wichtiges und Richtiges über unsere Zeit sagen. „Das crazy“ ist übrigens das Jugendwort des Jahres 2025 aus dem Hause Langenscheidt.
Der Rage Bait ist allerdings wirklich eine nice Wahl. Gemeint sind Online-Inhalte, „die bewusst darauf ausgelegt sind, Wut oder Empörung hervorzurufen, indem sie frustrierend, provokativ oder beleidigend sind“. Der Rage-Bait-Content wird typischerweise veröffentlicht, „um den Traffic oder das Engagement auf einer bestimmten Website oder in sozialen Medien zu erhöhen“. Mit dem Rage Bait (dt. Wutköder) als digitalem Phänomen hatten wir uns hier in der Eule bereits im Herbst 2024 ausführlich auseinandergesetzt. Rage Bait ist also zeitgeistig!
Keiner ist gefeit davor, dass es ein′n trifft
Es ist auch nur ein klein wenig enervierend, dass sich nun alle möglichen Medien befleißigen, uns den Rage Bait zu erklären, die noch in den vergangenen Tagen mit den bewegten und bewegenden Bildern von der Polizeigewalt oder Redeschnipseln vom Gründungstreffen des neuen AfD-Jugendverbands aus Gießen genau solchen Content produziert haben, der wenig mehr und anderes hervorrufen sollte als „Wut und Empörung. Und Gießen ist dafür nur das aktuellste Beispiel.
Das Tempo in den Medien ist hoch, die Social-Media-Plattformen wollen stets frisches Futter, Kachel an Kachel, Reel an Reel. Da geht das Qualitätsversprechen der Presse, auch der öffentlich-rechtlichen Medienmarken, schon mal unter. Dass der Content von Nachrichtenkanal zu Nachrichtenkanal im Grunde verwechselbar ist – who cares? Die stärksten Mediendynamiken unserer Tage sind die Emotionalisierung, durch Personalisierung und Verkürzung, und das Nachmachen.
Aufmerksame christliche Mediennutzer:innen kennen das zur Genüge: Wie oft wurde in den vergangenen Monaten über die kleine und im gesellschaftlichen Maßstab ziemlich unbedeutende Gruppe von deutschsprachigen „Christfluencer:innen“ berichtet? Oder über den „Tradwife“-Trend? Währenddessen muss das Leben in den realexistierenden Kirchen, an sozialen und gesellschaftlichen Brennpunkten häufig ohne mediale Aufmerksamkeit auskommen. Wenn doch aber der SPIEGEL oder das ZDF drüber berichten, dann darf auch unsere Redaktion nicht fehlen! Content, Content, gib mir den Content …
Auch die Medienkonsument:innen und besonders die politischen Gegner:innen der in den Fokus der Kameralinsen gezerrten Fundamentalisten und/oder Extremisten spielen mit: Da wird selbstverständlich – manchmal begeistert, manchmal routiniert – weggeliked, was einem auf Instagram & Co. vorgesetzt wird. Man ist ja dankbar, dass Religion und Kirche, dass das eigene soziale Herzensthema „überhaupt vorkommt“. Und wenn der Artikel oder die Sendung ganz schlimm geworden sein sollte, dann kann man ja selbst ein wenig Reaction-Rage-Bait drüber produzieren und ein paar Dutzend Likes einfahren.
Der Rage Bait ist eine veritable Taktik zum Reichweiten-Erfolg auf Social-Media-Plattformen. Vielleicht die einzige „Strategie“, die trotz der medienfeindlichen Plattformpolitiken, insbesondere auf den Plattformen des Meta-Konzerns (Facebook, Instagram, Threads & WhatsApp), noch „funktioniert“. Gleichwohl verstümmeln sich seriöse Nachrichtenmedien natürlich selbst, wenn sie das böse Spiel mitspielen. Der Wut-Köder ist der einfachste Trick aus der Schatulle der Empörungsunternehmer und Populisten.
So rechts: Jeder Kommentar, jeder Take, jeder Thread.
Die großen Social-Media-Plattformen brauchen Wut-Köder und fleißige Angler:innen für ihr eigenes Geschäftsmodell. Andere Begünstigte fallen mir nicht wirklich ein. Empörungsunternehmer:innen gibt es in jeder politischen Farbschattierung und offenbar auch in jeder religiösen Verortung und Frömmigkeit. Das bedauerliche an der Empörung ist allerdings, dass sie auch dann zum Erfolg der ursprünglichen Botschaft beiträgt, wenn sie sich gegen Hetzer:innen richtet.
Jeder rechte Dummbatz kann sich glücklich schätzen, auf das „kritische“ Radar von „aufrechten Demokrat:innen“, selbsternannten Extremismus-Expert:innen oder anderen Empörungsmietlingen zu geraten: Ein Drüko oder ein Reaction-Reel beschert Reichweite, die man sich auf den Plattformen so überhaupt nicht kaufen kann.
Nun ist es ja schön, dass Politik-Ruheständler, ehemalige Leitartikel-Edelfedern von großen Medien oder Alle-Welt-Expert:innen auf diese Weise eine Tagesbeschäftigung finden, die ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben simuliert. Ist es nicht auch richtig und wichtig, dass die demokratischen, liberalen und „progressiven“ Internet-Menschen aus den Kirchen wenigstens dadurch medial stattfinden, dass sie das irrige Treiben der „Christfluencer“ und „Tradwifes“ einordnen oder kommentieren dürfen? Aber was haben wir alle, also die ominöse Gesellschaft, von der sich aufschaukelnden Empörung? Wäre es nicht an der Zeit, aus der Wutköder-Ökonomie auszusteigen?
Den Aufstieg der extremen Rechten hat all die sozial-mediale Gegenrede (counterspeech) jedenfalls nicht verhindert. Sie ist viel eher eine Politiksimulation und Fake-Aktivismus. Digitale Empörungsunternehmer:innen verwechseln die Plattformen mit der Realität. Billige Empörung aber spielt den Hetzern in die Karten und widersetzt sich gerade nicht der radikalisierten Atmosphäre. (Mehr dazu auf dem Instagram-Account der Journalistin und Kommunikationsberaterin Dana Buchzik. Über den Atmosphäre-Begriff kann man bei A.R. Moxon lesen.)
Das Reaktionäre tief in dir will endlich raus
Wie ich im vergangenen Herbst schon schrieb, gibt es auch in den christlichen Bubbles auf Instagram & Co. reichlich Rage Bait. Christ:innen stecken mitten im Kulturkrieg, in dem es vor allem um den Anti-Gender-Diskurs, LGBTQI+ und rassistische sowie antisemitische Hetze geht. Hinzu kommen klassische Topoi des christlichen Fundamentalismus wie purity culture („Kein Sex vor der Ehe!“) sowie „traditionelle“ Familien- und Frauenbilder. Dabei wird der Diskurs von talking points (etwa: Schlagwörter) rechter Christen geprägt.
Ich kann den Impuls sehr gut verstehen, diesen Botschaften widersprechen zu wollen. So will man sich als Christ:in dann doch nicht dargestellt wissen! Vor allem will man auch anderen Menschen zeigen, dass das rechte Gesülze nicht „christlich“ ist. Sicher will man auch die Opfer rechter Hetze in Schutz nehmen. Das Problem: Bei jedem Anbeißen an Wutködern aktualisiert man durch die Empörung die Ursprungsbotschaft, trägt sie weiter, macht sie diskurswürdig.
Neuankömmlingen und passageren Besucher:innen stellt sich die Kirchenbubble auf Instagram als ein Ort dar, an dem jeden Tag über LGBTQI+, Sexualmoral und das Wohlverhalten von Frauen gestritten wird. Hetze und auch Gegenrede sind dabei eines sicher nicht: kreativ und neu. Im Gegenteil: beide sind redundant und oberflächlich. Dabei beschäftigen sich Christ:innen in Deutschland mit einer Vielzahl weiterer gesellschaftlicher und politischer Themen. Sie bilden die Mitte dieser Gesellschaft. Das vielfältige Engagement von Christ:innen und Kirchen droht hinter dem Kulturkampf um Themen zu verschwinden, die von rechten Akteuren gesetzt werden.
Das alles ist umso verheerender, weil sich viele (junge) Nachrichtenredakteur:innen offenbar nur noch auf den Social-Media-Plattformen inspirieren lassen und sich auf oberflächliche Online-Recherchen beschränken. Im Zweifel wird einfach aufgeschrieben und gesendet, was anderswo schon als sendewürdig die Qualitätskontrolle überstanden hat. So entsteht eine sozial-mediale Blase, die mit der Realität in Kirche und Gesellschaft kaum noch Ähnlichkeit hat. Platzt sie, ist das Entsetzen groß!
Du kannst etwas tun!
Wirksame Gegenrede gegen Extremist:innen erschöpft sich nicht in Empörung. Dafür gibt es in den Kirchen auch Expert:innen, deren Expertise verstärkt auf die (digitale) Strecke gebracht werden muss. Es gibt auch eine Menge an Büchern, Podcasts, (populär-)wissenschaftlichen Artikeln usw. – man kann, wenn man denn will, viel dazulernen! Und das sollten wir machen, nicht auf den nächsten Empörungszug aufspringen.
Im Moment allerdings, so mein Eindruck, wird nicht Social Media schlauer durch solche Interventionen, sondern Rage Bait und Klickgeilheit färben auf die Intervenierenden ab. Wer terminally online ist, also digitale Plattformen mit der Realität verwechselt, fällt als Rettungsanker aus. Wer nach Likes und billigem Applaus giert, der nimmt Schaden an seiner*ihrer Seele.
Vor einem Jahr hatte ich einen Deal vorgeschlagen: Für jeden Rage Bait-Beitrag, für jedes Reel und jede Insta-Story, die sich mit den talking points von Fundis und Rechtspopulisten befassen, und die unbedingt versendet werden müssen, machen wir doppelt so viele Beiträge über andere wichtige gesellschaftliche, (kirchen-)politische und theologische Fragen und Themen. Wir verstärken mit unseren Herzchen, Likes und Reposts nicht mehr die Hetzer, sondern diejenigen Akteur:innen, die kreativ und kundig ihre Themengebiete beackern. Das empfehlen auch der Papst und deutsche PR-Expert:innen.
Wir reproduzieren nicht den rechten Kulturkampf, sondern setzen eigene Themen, erzählen andere Geschichten. Wir hören auf, unsere Welt um Rage Bait, Fundis und extrem rechte Populisten kreisen zu lassen. Denn das tut sie nicht. Wer sich von christlichen Fundamentalisten umzingelt sieht, lässt sich den Wutköder schmecken.
Alle Eule-Beiträge des Themenschwerpunkts #digitaleKirche.
Alle Eule-Beiträge des Themenschwerpunkts Christliche Rechte.
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