Das Gegeneinander beenden

Wie können Christ:innen die Transformation der Kirche gestalten? Über das Schrumpfen der Kirche und notwendige Reformen diskutierten wir mit Viola Schrenk bei einem Eule-Online-Abend.

Am vergangenen Donnerstag haben wir bei der Eule bei einem Online-Hangout mit unseren Abonnent:innen und Viola Schrenk über Reformen in der Kirche diskutiert. In ihrem Impuls entwarf Schrenk das Bild einer Kirche, die sich nicht an den Regeln des Wachstums orientiert, sondern mutig den Wandel gestaltet. In der anschließenden Diskussion wurden sowohl positive Beispiele für Veränderungen als auch Sorgen um die Zukunft der Kirche ausgetauscht.

Viola Schrenk ist Studieninspektorin am Evangelischen Stift in Tübingen. Dort arbeitet sie mit einer neuen Generation von angehenden Theolog:innen zusammen, von denen einige den Weg in den kirchlichen Dienst einschlagen. Die profilierte Theologin kandidierte in diesem Frühjahr für das Amt der Landesbischöfin der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (ELKWUE), unterlag jedoch Ernst-Wilhelm Gohl. Ein paar Eindrücke von „Wahlkampf“ und Bischofswahl teilte sie im anschließenden „Meet & Greet“ der Redaktion mit den Teilnehmer:innen.

In ihrem Impuls identifizierte Schrenk drei Mächte, denen die Kirche erlegen ist – und gegen die sie angehen muss, wenn sie den Wandel gestalten will: Die Macht des Messbaren, die Macht der Organisation und die Macht der Tradition.

Die Macht des Messbaren

„Es gibt eine Abwärtsspirale im Reden und Denken“, diagnostizierte Schrenk ihrer Kirche, die sich ganz im Sinne der herrschenden Wachstumslogik von Zahlen beherrschen lasse. Dabei sind die sinkenden Mitgliedschafts- und Gottesdienstteilnehmer:innen-Zahlen vielfach durch den demographischen Wandel verursacht, an dem sich nichts ändern ließe, erklärte die Theologin. Das Schrumpfen würde vor allem auch deshalb als herber Verlust wahrgenommen, „weil wir von einem hohen Niveau her kommen“.

Statt immer nur auf die Zahlen zu schauen, empfiehlt Schrenk, andere Kategorien heranzuziehen, mit denen kirchliche Praxis betrachtet werden kann: Erfahrung, Nähe, Qualität. Dabei sieht Schrenk die Kirche auf einem guten Weg, wenn sie sowohl in die geistlich-sprituelle Begleitung von Menschen investiert, die ein Rahmen für Gottesbegegnungen sein kann, als auch gesellschaftlich und diakonisch-sozial tätig bleibt.

Die Macht der Organisation

Sehr kritisch äußerte sich Schrenk zum Miteinander von Bürokratie und Synoden, hauptamtlicher Exekutive und ehrenamtlicher Leitung. Sie erlebe immer wieder, dass das eigentlich intendierte Miteinander zu einem Gegeneinander geworden ist. Die Spielräume der Synoden würden durch Vorgaben der Kirchenämter eingeschränkt: Was entschieden werden soll, stünde häufig schon vorher fest. Wenn sich Synodale darüber hinwegsetzen, komme es immer wieder zu Konflikten zwischen den unterschiedlichen Systemen innerhalb der Organisation.

Sie fühle mit den Menschen mit, erklärte Schrenk, die „ihre Zeit und Kraft für die Leitung einer Großorganisation opfern, die sich in ihren Prozessen aufreibt“. Gesetze, Verfassungen und die ausdifferenzierte Bürokratie müssten nach ihrem Nutzen befragt werden.

Trotzdem sei sie sich sicher, dass es die verschiedenen Säulen der Landeskirchen auch in Zukunft geben werde, die Beharrungskräfte seien stark. Menschen, die heute in ihrer Kirche etwas verändern wollen, empfiehlt Viola Schrenk, neben den Strukturen Gespräche zu führen, am System vorbei Netzwerke zu bilden.

Die Macht der Tradition

So wichtig das interne Streiten um neue Formen von Kirchenorganisation sei, dürfe sich die Kirche doch darin nicht erschöpfen, ist sich die Theologin sicher. Reformer:innen sollen nach der Bibel fragen, denn biblische Bilder beeinflussen bewusst und unterbewusst, wie wir von der Kirche als Organisation sprechen. Die Tradition meldet sich, so Schrenk, noch viel zu häufig im Duktus einfacher Antworten und Wahrheiten zu Wort, von denen die Menschen merkten, „dass sie nicht auf unsere komplexen Lebensvollzüge passen“. Auch Rollenbilder, die die Kirche aus der Bibel ableitet, seien „unglaublich langlebig“ – wie man nicht zuletzt an der Genderdebatte sehe.

Deshalb empfiehlt Schrenk auch, nicht von Reform, sondern von Transformation zu sprechen: „In der Reform steckt das Re-, das Zurück schon drin.“ Mit alten Antworten komme man jedoch nicht weiter, stattdessen müsse man den Wandel akzeptieren und auf dieser Grundlage neue Antworten finden. Dafür könne man die Tradition, vor allem die Bibel, wieder fruchtbar machen.

Heute werde die Macht des Messbaren auch mit Wachstums-Bildern aus der Bibel gestützt: „Wenn wir von Kirche sprechen, dann häufig mit Metaphern des Wachsens, Pflanzens oder Bauens.“ Auch die Rede von der Kirche als einem Leib, dessen Glieder alle unterschiedliche Funktionen haben, enthalte eine Schlagseite zum Hierarchiedenken: „Wenn man die Kirche mit einem Boot oder Schiff vergleicht, dann drängt sich die Frage auf, wer da eigentlich der Kapitän ist, der uns sicher in den Hafen bringt“.

Der eigentliche Sinn dieser biblischen Metaphern, nämlich auf Christus als das Haupt der Kirche hinzuweisen, würde unterlaufen, „weil wir in dessen Abwesenheit sofort nach Stellvertretern fragen, denen wir dann Macht zuschreiben“. Demgegenüber empfiehlt Schrenk „dynamische Bilder“, wie z.B. aus Apostelgeschichte 17, 28, die Gottesgegenwart auch in Veränderungsprozessen versprechen.

Trauer und Transformation

In der anschließenden Diskussion tauschten sich Eule-Abonnent:innen und -Redaktion mit Viola Schrenk aus. Dabei war eine große Einigkeit in der Diagnose der zahlreichen praktischen Reformfragen spürbar: Wie können Hauptamtliche Zeit und Kraft für ihren eigentlichen Dienst finden, statt sich in fachfremden Verwaltungstätigkeiten aufzureiben? Wie kann die Kirche nah bei den Menschen und ihren Problemen sein, die Türen offenhalten für die Probleme in ihrer Nachbarschaft?

Die Kirche solle allgemein mehr ausprobieren und mit dem noch immer reichlich vorhandenen Geld in neue Formen und Ideen investieren. Es gebe nicht den einen Masterplan für Kirchenreformen, weshalb die Kirche experimentieren sollte, waren sich die Teilnehmer:innen der Diskussion weitgehend einig.

Doch wurden auch drei Probleme des Kirchenreformdiskurses selbst thematisiert: Er beschränke sich viel zu häufig auf die Rolle, die Pfarrer:innen in der Kirche spielen, ihre Probleme und Anliegen. Statt auf Kooperation zu setzen, wird an vielen Stellen Ähnliches versucht, ohne von den Erfahrungen zu profitieren, die andere bereits gemacht haben. Und im Vergleich mit den Organisationsfragen stünde das Problem des Glaubwürdigkeitsverlustes zu selten im Fokus.

Daran erinnerten nicht zuletzt zwei Teilnehmer:innen des Eule-Hangouts an diesem Abend, die Perspektiven von Missbrauchsbetroffenen einbrachten. In den Worten einer Teilnehmerin: „Eine Kirche, die für Betroffene gut ist, ist auch für andere Menschen gut.“

„Wann ist wieder Klassentreffen, Philipp?“, fragte ein Teilnehmer im Anschluss. Für uns als Redaktion ist der Austausch mit den Eule-Abonnent:innen immer wieder interessant. Am Donnerstag hat sich bestätigt, was wir an unseren Wohnorten und während der Recherchen in der Kirche immer wieder erleben: Neben Lust und Mut zum Aufbruch gibt es auch das Bedürfnis zum Betrauern dessen, was im Verschwinden begriffen ist.

Es leiden viele Menschen an ihrer Kirche – gerade diejenigen, die viel mit ihr verbinden. „Es hat sich manchmal wie eine Selbsthilfegruppe angefühlt“, berichtete eine andere Teilnehmerin im Nachgang dieses Eule-Hangouts. Trauer und Transformation verbindet, dass es sich bei beiden um Prozesse handelt, die obendrein in unseren Kirchen gleichzeitig stattfinden und sich gegenseitig beeinflussen. Auch Reformen können unsinnig sein, zu ungerechtfertigten und daher umso schmerzhafteren Verlusten führen. Ein trauerndes Herz bewegt sich nicht gern. Es bleibt die Frage: Wie können wir diesen Doppelprozess gestalten?

„Meet & Greet“ mit der Eule: Online-Abende für Abonnent:innen

Mindestens zwei Mal im Jahr lädt die Redaktion spannende Referent:innen und alle Eule-Abonnent:innen zu einem digitalen Hangout ein. Im Zentrum stehen aktuelle oder wichtige Themen, mit denen wir uns hier im Magazin vertieft befassen. Im Frühjahr 2022 ging es mit Jonathan Spanos um „Als Christen über Flüchtlinge stritten“.

An Vortrag und Diskussion schließt sich eine lockere Gesprächsrunde mit der Eule-Redaktion an. Alle Eule-Abonnent:innen erhalten freien Zugang zu den Online-Abenden, eine zusätzliche Anmeldung ist nicht erforderlich. Jetzt Eule-Abo abschließen!

Das nächste Eule-Hangout findet am 12. Oktober 2022 statt. Kira Beer und Philipp Greifenstein diskutieren dann mit den Teilnehmer:innen über Instagram.