Religionsunterricht statt „Ethik für Alle“!
Der Religionsunterricht trendet auf Twitter: Soll man den konfessionellen Religionsunterricht zugunsten eines einheitlichen Werte-Unterrichts abschaffen? Die Debatte ist so alt wie realitätsfern. Ein Kommentar.
Immer wenn die mangelnde politische Bildung der Jugend beklagt wird – von derjenigen der Erwachsenen wird zumeist geschwiegen -, tritt eine Forderung auf den Plan: Es bräuchte statt des konfessionellen Religionsunterrichts den einen, verpflichtenden Ethik- oder Lebenskundeunterricht.
Diese Lösung ist zugleich autoritär („Alle! Sofort! Überall!“) und gleichgültig („Weg mit dem Religionsunterricht! Weg mit der Religion aus den Schulen!“). Ihre faktische Undurchführbarkeit im deutschen Bildungsföderalismus macht die Forderung darüber hinaus wohlfeil. So macht man vielleicht Schlagzeilen, aber keine Politik.
Mit der anti- oder post-demokratischen Haltung, die er vorgibt zu bekämpfen, verbindet den Vorschlag außerdem seine erstaunliche Post-Faktizität. Wer den allgemeinen, verpflichtenden Ethikunterricht vorschlägt, hat sich das, was beim real-existierenden Ethikunterricht hinten bei raus kommt, nie zu Gemüte geführt.
Real-existierende Bildungsödnis
Zehn Jahre lang habe ich mit FSJler*innen gearbeitet, die zu 95 % keinen Religionsunterricht, sondern den Ethikunterricht besucht haben. Dass sie z.B. vom Islam häufig wenig (sehr wenig!) wissen, liegt an der bedauerlichen Qualität des Ethikunterrichts. Gelegentlich hatte ich das Gefühl, der Unterricht müsste über Schuljahre hinweg ausgefallen sein!
Es fehlt Grundwissen über alle Weltreligionen: Wer gilt als Jüdin oder Jude? Was feiern Muslime im Ramadan? Wer sind Schiiten und Sunniten? Wer war Abraham und was ist eigentlich Monotheismus? Wie beerdigen Muslime, Jüdinnen und Juden, Hindus und Christen ihre Toten? Was sagen die Weltreligionen zur Sterbehilfe, zur Organspende, zu Abtreibungen?
Die Beschäftigung mit Religionen im ordentlichen Schulunterricht ist für die Überzahl der Schüler*innen eine der wenigen Gelegenheiten mit Fachpersonal über solche und andere Fragen überhaupt einmal ins Gespräch zu kommen, die für die eigene Lebensgestaltung – eigenes religiöses Bekenntnis hin oder her – mehr Relevanz haben als Integralrechnung und Polynomdivision.
Der Religionsunterricht mag den urbanen Bildungseliten nicht woke genug sein, aber wenn man schon Muslim*innen und Jüdinnen und Juden im Alltag nicht zu Gesicht bekommt, dann ist es sicher praktisch, wenigstens im Unterricht etwas über deren und anderer Leute Glauben zu lernen. Das gilt selbstverständlich auch für das Christentum – also jene Religion, die Europa wie keine zweite geprägt hat und der noch heute weit über die Hälfte der Menschen in Deutschland angehört.
Guckt nach Ostdeutschland!
Ich spreche aus fast 20 Jahren Erfahrung im Bildungssystem: Keine andere Institution schafft das so verlässlich wie der (über-)konfessionelle Religionsunterricht. Nicht umsonst wählen nicht wenige konfessionsfreie Eltern den Religionsunterricht für ihre Kinder trotz eigener Distanz zur Institution Kirche.
Jenseits aller Bildungsvorlieben sollte eines heute deutlich vor Augen stehen: Wissen um Religionen gehört dringend dazu, wenn Schüler*innen sich ein zutreffendes Bild von einer Welt machen wollen, in der sich 85 % der Menschen zu einer Religionsgemeinschaft zählen. Und dieses Wissen wird nie wertfrei und unparteiisch vermittelt, auch nicht im Ethik-Unterricht.
Die Hoffnung, die mit dem Ethikunterricht für Alle (oder „Lebensschule“ oder „Philosophie“, man kann es nennen, wie man will) verbunden wird, nämlich: Alle lernen gemeinsam und vor allem ganz, ganz viel Toleranz, verpufft, wenn man sich die Realität des Ethikunterrichts in Ostdeutschland einmal anschaut. Hier besuchen schon jetzt, anders als in den alten Bundesländern, die meisten Schüler*innen den Ethikunterricht. Die westdeutsche Arroganz übersieht, dass es für die Erprobung eines anderen Bildungsmodells keiner groß angelegten Versuche mehr braucht: Wir haben das hier schon mal durchgespielt.
Der politischen Bildung der Schüler*innen wird durch den gemeinsamen Ethik-Unterricht nicht aufgeholfen. Vielleicht bedarf das gesammelte Sozialkunde-, Philosophie- und Geschichtswissen doch irgendwie der religiösen Grundlagen, ohne die recht viel dieses Stoffes nie das Licht der Welt erblickt hätte? Die Jugendwahlergebnisse im Osten jedenfalls deuten nicht darauf hin, dass durch den gemeinsamen Werteunterricht ohne Einfluss der Religionsgemeinschaften etwas für das friedliche und tolerante Zusammenleben geleistet würde.
Das Kind nicht mit dem Bade
Niemand wünscht sich Glaubenskämpfer*innen im Klassenzimmer, noch Koranschule oder Christenlehre im Schulgebäude. Man kann den konfessionellen Religionsunterricht, wie er in vielen Bundesländern durchgeführt wird, sehr wohl kritisieren. Lehrpläne, Lehrer*innen-Bildungsparadigmen, Auswahl der Lehrkräfte, mangelnde Inklusion im Unterricht, seltsame Schwerpunktsetzungen – da kann man gut anknüpfen.
Kritik ohne Kenntnis aber, wie sie sich heute tausendfach auf Twitter entlädt, ist verzichtbar. Was zählt, ist halt doch mehr als der eigene persönliche Eindruck vom Religionsunterricht, vor allem wenn er schon lange zurück liegt. Denn natürlich verändert sich der Religionsunterricht wie das ganze Soziotop Schule permanent.
Richtig peinlich wird es, wenn sich die Kritik im Ventilieren des eigenen Vorurteils erschöpft: Im konfessionellen Religionsunterricht ginge es ja nur ums Christenstum und die Lehrerin käme immer mit der Gitarre ums Eck. Dass sind Zerrbilder des Religionsunterrichts, die vielleicht der westdeutschen Bildungsrealität der 1980er-Jahre entstammen, mit dem aktuellen Religionsunterricht haben sie nur wenig zu tun, wie ein Blick in die Lehrpläne zeigt.
Wer sich ernsthaft mit der Realität des Religionsunterrichts befasst, wird feststellen, dass dessen Probleme in anderen Fächern genauso zu finden sind. Was viele Menschen zu Recht kritisieren, ist die Art und Weise, wie wir in Deutschland Schule organisieren. Aber Schulreform ist etwas anderes als das Hinzuerfinden neuer Schulfächer, die Probleme schaffen, statt sie zu beheben.