Revolutionäre Christ:innen – Die #LaTdH vom 23. August

Zwischen „cancel culture“ und Black Lives Matter mä­an­dert die Debatte um gesellschaftliche Gleichstellung. Außerdem: Sea-Watch 4, schöne Kirchen & Corona-Theologie.

Herzlich Willkommen zurück aus der „Links am Tag des Herrn“-Sommerpause! An den vergangenen drei Sonntagen haben wir unseren wöchentlichen Themen-Newsletter pausieren lassen. Seitdem hat sich einiges in der Welt der Kirchen und Religionsgemeischaften getan, trotz Ferienzeit und Sommerhitze. Wir steigen neu ein, wie gewohnt jeden Sonntag. Los geht’s!

Debatte

Nach der Sommerpause in einen wöchentlichen Rhythmus zu kommen, ist gar nicht leicht. Besonders, da mir – wie so vielen Menschen in der Corona-Zeit – ein wenig das Zeitgefühl abhanden gekommen ist. Aber vielleicht ist diese veränderte Perspektive ja auch eine Möglichkeit, Themen anders anzugehen.

Die deutsche Debatte rund um die „cancel culture“ zum Beispiel. Ist die nicht einfach ein Sommerloch-Füller? Stehen wir tatsächlich in der Gefahr von „Sprechverboten“, wo sich doch in vielen Medien des Landes ausgesprochen ausführlich gegen das „canceln“ von politisch missliebigen Künstler:innen und Meinungen ausgesprochen werden kann? Ist das nicht einfach nur ein Aufguss der ständigen „political correctnes“-Diskussionen, die vornehmlich in Feuilletons „bürgerlicher“ Zeitungen geführt wird?

„Wir haben die Wahl zwischen einem neofaschistischen Gangster und einem neoliberalen Desaster“ – Interview mit Cornel West (Republik)

Tatsächlich leben wir in einer Zeit, in der erneut um die Wahrnehmung von Perspektiven gestritten wird, die nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft im Westen entsprechen. Das gilt besonders für das Aufflammen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung nach dem Tod George Floyds.

Der Polizei-Mord und die folgenden Proteste haben – wieder einmal – auch viele Menschen, die von rassistischer Gewalt unberührt leben können, sensibilisiert. In den vergangenen Monaten erleben wir auch die Bereitschaft, eigene Privilegien zu durchdenken und in Frage zu stellen. Vielleicht ist die „cancel culture“-Diskussion nur eine Reaktion darauf?

Cornel West (@CornelWest) schildert im Interview mit Daniel Ryser (@dnlrysr) von der schweizerischen Republik seine Perspektive auf die USA, den US-Wahlkampf und Black Lives Matter. Das ist wie immer lesens- und nachdenkenswert, weil West sich nicht scheut, auch Ikonen wie Barack Obama zu kritisieren. (An Joe Biden findet er nur gut, dass er nicht Donald Trump ist.)

Ich spreche zu Ihnen als revolutionärer Christ. Als solcher bin ich Internationalist. Ich bin der Überzeugung, ein Leben in Zürich hat denselben Wert wie ein Leben im Irak, ein Leben in Buenos Aires, ein Leben in Nairobi, ein Leben in Chicago. Ich erlaube es dem Nationalismus nicht, mich blind zu machen für die Menschlichkeit anderer Leute. Dasselbe gilt in Bezug auf Klassen. Ich bin der Überzeugung, dass Rockefellers Kinder denselben Wert haben wie die Kinder armer weisser Kinder und die Kinder armer schwarzer Kinder.

Wests Perspektive kann für sich in Anspruch nehmen, radikal konsequent zu sein. Viele Menschen sehnen sich nach einer solchen denkerischen und praktischen Konsequenz, wie die Unterstützung für den Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders zeigte. Doch schließt diese Radikalität nicht auch Menschen aus, die eigentlich als Verbündete an der Seite von Schwarzen, LGBTQI+ und – ganz generell – Revolutionär:innen kämpfen könnten?

A Better Anti-Racism – Coleman Hughes (Persuasion, englisch)

Coleman Hughes schreibt im neuen US-Magazin Persuasion, das sich genau dieser Vermittlung verschrieben hat, über einen „besseren Antirassismus“, der die Gemeinsamkeit aller Menschen, nicht ihre Unterschiede betont. Er liegt damit ganz auf der Linie des von West kritisierten Barack Obama, der seine positive Vision nicht zuletzt auf Martin Luther King Jr. zurückführt.

Auf King beruft sich selbstverständlich auch West mit seiner Betonung von „schwarzer Menschlichkeit, […] schwarzer Schönheit, […] schwarzer Intelligenz und […] schwarzer Ehrsamkeit und schwarzen Anstands.“ Und ja, die Betonung von Einheit und Gemeinsamkeit steht in der Gefahr, die Unterschiedlichkeit von Lebenserfahrungen und Perspektiven wegzuintegrieren. Demgegenüber ist der weißen Mehrheitsgesellschaft die identitätsstiftende Rede von Schwarzen Aktivist:innen zuzumuten, auch und gerade weil sie selbst von ihr ausgeschlossen sind. Warum auch nicht?

Hughes weist allerdings, meiner Meinung nach zu Recht, darauf hin, dass wenn es um praktische Verbesserungen geht, die zahlreichen Erfolge auf dem Weg zu einer besseren Gesellschaft für alle Menschen, der dezidiert „liberale Antirassismus“ eine guten „track record“ habe. Und in der Tat krankt die aktuelle Black Lives Matter-Debatte, wie sie in den Medien und unter Intellektuellen in den USA und Europa geführt wird, an zwei Problemen, die jede „linke“ Bewegung hemmen:

Im revolutionären Akt wird man leicht blind für die bereits errungenen Erfolge und gerät darum auch schon mal in einen moralischen Overdrive und motivatorischen Zynismus.

Und die Verbindung zu den ganz alltäglichen Schwierigkeiten auch der schwarzen „Normal-Bevölkerung“ wird gekappt. Der ist es – so steht zu vermuten – wichtiger, dass ihre Kinder auf gute Schulen gehen können und Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten, als Fortschritte in kulturpolitische Auseinandersetzungen. Seit jeher stehen Revolutionäre vor der Herausforderung, dass die eigentlichen Subjekte ihrer Revolution nicht so wollen, wie sich das die Avantgarde der reinen Lehre vorstellt.

Zwei Predigten

Worin könnte nun ein dezidiert christlicher Beitrag zur Debatte bestehen? Sicher nicht darin, revolutionäres Christentum abzuwerten, erst Recht nicht im Sinne einer die Mehrheitsgesellschaft beruhigenden Inklusion aller Anliegen zu einer förmlichen (Gebets-)Bitte um „Frieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Vielmehr lohnt es sich, die Bekehrungsgeschichten des Neuen Testaments neu und ein bisschen anders zu lesen.

In ihnen bekehren sich vordergründig Menschen unterschiedlicher Herkunft, sexueller Orientierung und Gender-Identitäten zum Christus-Glauben – die große Gemeinschaft der Kirche entsteht. Weniger beachtet wird häufig, dass sich in den Bekehrungsgeschichten auch die „Bekehrenden“ verändern, selbst gewandelt werden. Durch jede Hinzufügung kommt nicht einfach eine weitere Perspektive hinzu, sondern ändert sich die Perspektive der Gemeinschaft. Die große Gemeinschaft der Kirche macht dann Unterschiede nicht mehr unsichtbar und zugleich deutlich, dass diese nicht das letzte Wort über unsere Leben sind.

Nadia Bolz-Weber (@Sarcasticluther) hat das vor längerer Zeit am Beispiel der Taufe des äthiopischen Kämmerers gepredigt (in englischer Sprache). Und in einer Predigt über die Bekehrung des Paulus habe ich die gleiche Figur genutzt (in deutscher Sprache).

Unsere Feinde, die Fremden, die Anderen, die Ärger bedeuten, das sind die Werkzeuge Gottes, die er nutzen will, um uns zu bekehren. Uns zu bekehren aus der Angst hinein in das Vertrauen, aus der Schuld hinein in die Vergebung.

nachgefasst

Sea-Watch 4: #United4Rescue

Seit vergangenem Wochenende ist die Sea-Watch 4, das Seenotrettungsschiff des Bündnisses #United4Rescue, auf dem Mittelmeer unterwegs, berichtet u.a. tagesschau.de. Zurzeit ist es das einzige Schiff, das in Seenot geratene Flüchtlinge auf dem Mittelmeer retten kann. Gestern nahm die Crew die ersten sieben Flüchtlinge auf, die von Libyen aus die Fahrt über das Meer unternahmen.

Nun also gilt’s: Die Sea-Watch 4-Crew wird weitere Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten und irgendwann in den kommenden Tagen oder Wochen einen europäischen Hafen anlaufen. Wird das Schiff dort festgesetzt wie andere Seenotrettungsschiffe auch? Und was kann das Bündnis #United4Rescue inkl. der EKD dann tun?

Einen Vorgeschmack gibt der EKD-Ratsvorsitzende, @landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, im Interview mit dem ZDF:

ZDFheute: Was passiert, wenn die Menschen, die von der Sea-Watch aufgenommen werden, in den Häfen Italiens oder Spaniens festgesetzt werden?

Bedford-Strohm: Überall in Europa gibt es Menschen, die sagen: Es darf nicht sein, dass Gerettete wochenlang keinen Hafen finden. Obwohl sich viele Städte bereit erklärt haben, die Geretteten aufzunehmen. Wir werden darauf hinweisen.

ZDFheute: Wie können Sie verhindern, dass diese Menschen in den griechischen Flüchtlingslagern, etwa in Moria, landen?

Bedford-Strohm: Auch diese Lager sind Europa nicht würdig. Deswegen muss beides passieren: Diese Lager, insbesondere in Moria, müssen aufgelöst werden und die Flüchtlinge an einen menschenwürdigen Platz gebracht werden. Und die Geretteten vom Mittelmeer, die ja viel weniger sind, müssen in die Städte verteilt werden.

Buntes

Leprosy of the soul? A brief history of boredom – Wijnand Van Tilburg (The Conversation, englisch)

Was hat es mit der Langweile auf sich? Ist sie in jedem Fall schädlich, wie es – in guter christlicher Tradition – die Existentialisten des 20. Jahrhunderts meinten? Oder ist die Langeweile Quell von Kreativität und Bedingung für die Entstehung neuer Ideen und Zugänge? Diese Fragen beleuchtet Wijnand Van Tilburg von der Universtität Essex in englischer Sprache.

Und was ist eigentlich mit der Langeweile als Protest gegen den Ansturm von Nachrichten und Begebenheiten? Langeweile als Produkt der Abschaltung aus Überlastungsgründen sozusagen.

Kirchen entdecken

Jay Hulme (@JayHulmePoet) nimmt seine Leser:innen, sonst an Gedichte für alle Altersklassen und das gelegentliche Essay gewöhnt, auf Twitter mit auf seine Entdeckungsreisen durch (englische) Kirchen. Das ist unterhaltsam, informativ und zeigt nicht zuletzt, welche Schätze sich doch in unseren so häufig als verzichtbar bezeichneten Kirchen-Landschaft verbergen. Zwei Beispiele:

Theologie

Ein kleines Reförmchen gestatten wir uns nach den #LaTdH-Sommerferien. Statt der Abteilung „Bibel“ wird hier ab sofort von „Theologie“ die Rede sein. Und zwar im ganz emphatischen Sinne als Rede von Gott. Damit wollen wir in Zukunft in den #LaTdH noch mehr Gottesdenker:innen aus unterschiedlichen Religionen zu Wort kommen lassen.

Das schwache Licht der Transzendenz – Knut Wenzel (Frankfurter Rundschau)

Erfrischend unabhängig von den vielen Wortmeldungen und Deutungsangeboten während der Corona-Krise, die aus Theologie und Kirche gemacht wurden, schreibt Knut Wenzel, Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Goethe-Universität Frankfurt, in der Frankfurter Rundschau darüber, was ihn (theologisch) in der Krise bewegt.

Das ist allemal lesenswert, auch wenn Wenzels Unabhängigkeit an Ignoranz gegenüber den Kolleg:innen borderlined, die nicht in Widerstandsakten erstarrt sind. Wenzels Gedanken sind demgegenüber richtig und schön – und dann?

Keiner Theorie, und sei sie noch so ausgefuchst, kann dieser Gott passgerecht eingefügt werden – wenn anders er nicht komplett verfehlt werden soll. Das hat Martin Luther durch den Gedanken vom Deus absconditus, dem verborgenen Gott, der Theologie mit scharfem Strich eingezeichnet (1525). In der Folge ist dies dunkel ausgemalt worden, bis zur Abgründigkeit Gottes. Diese als absolute Unverfügbarkeit Gottes aufzufassen, entspräche der vorhin genannten theologischen Diskretion besser, als aus ihr doch wieder das Drohbild eines pandemischen Vergeltungsgottes heraufzubeschwören. Auch in seiner Selbst-Offenbarung bleibt Gott Geheimnis (Karl Rahner, 1959) – wie schlussendlich jeder Mensch auch.

Ist die Kirche noch zu reformieren? – Interview mit Julia Knop (Salzburger Nachrichten)

Die Erfurter Theologieprofessorin Julia Knop, selbst beim „Synodalen Weg“ der röm.-kath. Kirche engagiert, spricht im Interview bei den Salzburger Nachrichten über Chancen und Widerstände gegen Reformen in der Kirche. Was ist das Ergebnis von Kirchenreform?

Es wäre eine Kirche, die denMenschendie Deutungshoheitüber ihr Lebenund ihrenGlaubenüberlässt und akzeptiert, dass Glaube etwas ganz Persönliches ist. Eine Kirche, in der sich Menschen aus eigenem Impuls zum Gebet und zum Nachdenken über den Glauben zusammenfinden. Eine Kirche, die ökumenischer ist und ernst nimmt, was das Konzil sagte: dass alle, die getauft sind, Kirche sind, und alle Ämter dem zugeordnet, nicht übergeordnet sind. Eine Kirche, die dem Leben der heutigen Menschen besser gerecht wird.

Die elf Leitsätze „Kirche auf gutem Grund“ negieren die evangelische Mentalität – Reiner Anselm (Sonntagsblatt)

Im evangelischen Sonntagsblatt, der Kirchenzeitung der bayerischen Landeskirche, schreibt Theologieprofessor Reiner Anselm, immerhin Vorsitzender der EKD-Kammer für öffentliche Verantwortung, recht kritisch über die vom „Zukunftsteam“ der EKD vorgeschlagenen elf Leitsätze.

Nichts kann Reformbestrebungen im Protestantismus mehr schaden als der Verdacht von Klerikalisierung und Hierarchisierung. Über die Köpfe bestimmen zu wollen, passt nicht zur evangelischen Mentalität. Daher ist es dringend an der Zeit, in einen offenen, vor allem in einen hörbereiten Dialog mit allen Ebenen einzutreten.

Eine andere Frage ist gleichwohl, wer in den Gliederungen und Niederungen der evangelischen Kirche darauf (noch) Lust hat. Im Gegensatz zu den synodenbegeisterten Katholik:innen ist doch landläufig eine solche Ernüchterung eingekehrt, dass man mit der Chance auf noch mehr Diskussionen wohl niemanden mehr hinter dem Ofen hervor lockt. Mit der „evangelischen Mentalität“ ist es vielleicht gar nicht so weit her, wie der Professor vermutet.

Ein guter Satz