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„Wir brauchen einen politischen Sabbat“

Ampel-Ausfall und die Rückkehr Donald Trumps als US-Präsident: Die Evangelische Kirche ist Akteurin in einer bewegten politischen Landschaft. Was ist jetzt wichtig?

Eule: Die Synode der EKD findet wenige Tage nach der erneuten Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und dem Zusammenbruch der Ampel-Koalition in Deutschland statt. Als Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union sind Sie die Botschafterin der Kirche bei der Politik. Welche Erwartungen und Befürchtungen haben Sie im Blick auf den kommenden Wahlkampf, auch auf den möglichen Regierungswechsel?

Gidion: Gidion: Wir sind ja tatsächlich noch mittendrin – gerade erst ist die Wahl in den USA in einer Weise ausgegangen, dass man sich große Sorgen darüber machen muss, wie sich die Themen und Lebensräume entwickeln, die uns am Herzen liegen. Multilateralismus, Frauenrechte, Minderheitenschutz, Menschenrechte – all das steht auf dem Spiel. Auch der Berliner Politikbetrieb muss sich neu sortieren. Für uns ist es wichtig zu wissen, wer bei den Themen, für die wir stehen, in den nächsten Wochen, aber auch in Zukunft unsere Partnerinnen und Partner sein werden.

Im Blick auf die nächsten Wochen deshalb, weil es ungeklärte Haushaltsfragen gibt, zum Beispiel für Demokratieförderung, für Migrationsberatung, für Projekte der Entwicklungszusammenarbeit. Normalerweise stehen zeitlich nach der Tagung der EKD-Synode in Berlin die Bereinigungssitzungen des Haushaltsausschusses an, in die wir uns stark einbringen. Das ist jetzt alles nicht möglich. Wir sind in guten Gesprächen mit den religionspolitischen Sprechenden der Fraktionen, mit den Fraktionsspitzen und Ministeriumsmitarbeitenden, aber wir stehen noch viel zu nah an den Ereignissen, als dass man sehen könnte, wie sich alles neu sortiert.

Eule: Es gibt jenseits konkreter Haushaltsfragen eine lange Liste von Projekten, die sich die Bundesregierung und der Bundestag eigentlich für diese Legislatur vorgenommen hatten: Suizidprävention, Regelung des assistierten Suizids, Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs, Staatsleistungen, Pflegereform. Das bleibt jetzt alles liegen. Welches Thema ist aus Ihrer Perspektive das Drängendste?

Gidion: Wenn die Themen Pflege und Rente nicht vernünftig bearbeitet werden, besteht die Gefahr für ein unglaublich starkes Unzufriedenheitspotential. Das liegt auch an unserer demografischen Lage – viele Menschen stehen vor dem Renteneintritt und für viele ist Pflege ein relevantes Thema. Die Krankenhausreform ist ein riesiges Problem, das sagen wir auch aus Perspektive der konfessionellen Krankenhäuser. Der assistierte Suizid ist bleibend nicht geregelt. Die einzigen, die davon profitieren, sind die kommerziellen Sterbehilfevereine. Wenn so viele Fragen des Gemeinwesens nicht stabil geklärt sind, verstärkt sich das Gefühl von Krise. Und das ist nicht gut.

Eule: Die Ampel stand für die Kirchen nicht immer auf Grün. Wie groß ist denn Ihre Enttäuschung über die Ampel-Koalition?

Gidion: Die Anspannung, unter der dieses Dreierbündnis stand, war von Anfang zu spüren. Ich bin ein Jahr nach Beginn der Koalition in mein derzeitiges Amt gekommen. In vielen Gesprächen mit den politisch Handelnden beobachten wir seitdem aus der Nähe, wie sich Inhalte und Narrative entwickeln. Ich bemühe mich, in diese Beobachtungen nicht sogleich meine Wertungen einzuzeichnen. Die Erzählung beispielsweise, die Ampel würde sich nicht für die Kirche interessieren, stimmt aus meiner Sicht nicht. Die Frage, welche:r Minister:in den Amtseid mit religiöser Beteuerung spricht oder ohne, sagt wenig darüber aus, wie diese Menschen politisch entscheiden. Das ist eine Form der Symbolpolitik. Ich habe immer wieder starke Gesprächsbereitschaft erlebt.

Zugleich spüren wir in den Ministerien und bei den Abgeordneten, gerade bei den jüngeren, dass die Säkularisierung voranschreitet. Die Menschen aus der Politik, die dankenswerterweise Mitglieder der Synode oder im Rat und in anderen kirchlichen Gremien sind, gehören zu denen, die die verfasste Kirche, so wie sie gewachsen ist, kennen und verstehen. Viele andere in der Politik haben dieses Verständnis nicht. Deshalb müssen wir das Subsidiaritätsprinzip und die Arbeitsteilung von Staat und Kirchen immer wieder neu erklären. Darauf verwende ich einen großen Teil meiner Zeit. Jede:r hat ein Gefühl oder eine Meinung zu Kirche, aber wie sie wirklich funktioniert, das muss man aus der Nähe erleben. Weil dieses persönliche Erleben immer weiter abnimmt, gibt es weniger Akteur:innen, die durchschauen, wie die Kooperation von Staat und Kirche funktioniert und auch weiterhin funktionieren kann.

Eule: Gerade beim Schwerpunktthema der diesjährigen Synodentagung „Flucht, Migration und Menschenrechte“ drängt sich der Eindruck auf, dass die Ampel-Regierung eine bessere Partnerin für die Kirche gewesen ist, als es eine von der Union angeführte Bundesregierung womöglich sein wird.

Gidion: Es wird sicher nicht einfacher werden. Aber das liegt nicht allein an der Regierungskonstellation, sondern auch an der gesamten gesellschaftlichen Lage. Auch die bisherige Bundesregierung hat, erschüttert durch Solingen und die Wahlerfolge populistischer Parteien, in letzter Zeit in der Migrationspolitik deutlich nachgeschärft. Das haben wir in Stellungnahmen kritisch kommentiert, auch wenn wir wissen, vor welchem politischen Hintergrund die Verschärfung erfolgt.

Wir erleben eine Sekurifizierung [von Englisch: security, Sicherheit, Anm. d. Red.] der Innenpolitik. Wenn Politik priorisiert nach Sicherheitsgesichtspunkten strukturiert wird, erscheinen auf einmal viele Freiheits- und Menschenrechtsbeschneidungen gerechtfertigt. Das ist ein altes Prinzip. Wer einen Ausnahmezustand ausruft, der kann auch Einschränkungen formulieren. Wir haben dazu aufgerufen, innezuhalten, und davor gewarnt, Geflüchtete zu kriminalisieren. Menschen dürfen nicht unter einen Generalverdacht gestellt werden, aber das wird rhetorisch in Kauf genommen.

Eule: Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt, dass eine überbordende Mehrheit der Menschen in und außerhalb der Kirchen von ihnen eine Anwaltschaft für Menschen auf der Flucht erwarten – in Wort und Tat.

Gidion: Und das tun wir auch.

Eule: In den politischen Debatten, auch in den Medien, drängt sich allerdings der Eindruck auf, die Kirchen stünden mit diesem Anliegen fast alleine da.

Gidion: Ja, den Eindruck kann man haben. Wenn ich mir unser Flüchtlingsschutzsymposium anschaue, das wir im kommenden Jahr zum 25. Mal durchführen werden, wird es wichtig sein, ein weites Spektrum von Politikerinnen und Politikern dabei zu haben. Im zurückliegenden Jahr war der höchstrangige CDU-Vertreter der Bürgermeister von Senftenberg. Wir wollen das Symposium als Diskursraum anbieten, in dem verschiedene Positionen zu Gehör kommen. Das ist jedenfalls mein Anspruch.

Ich komme deshalb auf das Symposium zu sprechen, weil bei dieser Veranstaltung ganz viele nicht-kirchliche Organisationen dabei sind: ProAsyl, Amnesty International, migrantische Supportorganisationen. Da sind wir Partnerin in der Zivilgesellschaft für viele Organisationen, die sich stark für das Thema einsetzen. Was uns von diesen zivilgesellschaftlichen Organisationen als Volkskirche unterscheidet, ist der Anspruch, das große Spektrum von Meinungen und Einschätzungen auch zusammenzuhalten.

Gidion: Es gibt bei der Flüchtlingshilfe Instrumente wie das Kirchenasyl oder die Seenotrettung, die bleibend Diskussionsgegenstand auch innerhalb der Evangelischen Kirche sind. Andere Aspekte sind mit konservativen politischen Überzeugungen sehr kompatibel: Dass Familien zusammen an einen Tisch gehören, dass Kinder besonderen Schutz genießen müssen. Auf der Synodentagung wurden Bilder aus dem Flüchtlingslager auf Kos (Griechenland) gezeigt. Wer sich da nicht in Grund und Boden schämt, muss schon sehr hartherzig sein.

Gidion: Ja, aber die Problematik der Migrationspolitik liegt natürlich darin, dass viele Menschen in ihren Kommunen auch Situationen erleben, in denen Integration nicht gelingt. Das anzusprechen, bedeutet nicht, rechtspopulistische Narrative zu bedienen. Genau deshalb brauchen wir ja die Migrationsberatung und die weitere Unterstützung von Inklusionsprojekten! Dass gerade auf diesen heiklen Arbeitsfeldern jetzt Kürzungen in Kauf genommen werden müssen, ist genau deshalb gefährlich. Es geht uns um ein gelingendes Gemeinwesen vor Ort.

Die wichtigste Herausforderung ist für mich, wie Geflüchtete und Migrant:innen schnell in den Arbeitsmarkt finden können. Das „Spurwechsel“-Gesetz der Ampel war da ein richtiger Ansatz. Zu einer verantwortlichen Migrationspolitik gehört sicher auch, dass es Konsequenzen für Straftäter gibt.

Eule: Warum gelingt es in unserer Gesellschaft nicht, auch das Positive zu würdigen. Wir starren auf unsere Ängste und Sorgen. Ist das eine Folge dessen, dass uns die christliche Hoffnung abhandenkommt?

Gidion: Ängste verkaufen sich gut. Dem Geschäft mit der Angst Konstruktivität und Hoffnung entgegenzusetzen, kostet Geld und fordert Anstand. Das Konstruktive ist immer etwas schwerfällig, es ist langsamer und aufwendig. Um eine schlechte Geschichte auszugleichen, braucht es sieben gute. Wir müssen uns mehr Zeit nehmen, uns solche Geschichten auch zu erzählen.

Eule: Auf der Tagung der EKD-Synode hat Kirchenpräsidentin Karen Thompson von der United Church of Christ aus den USA berichtet, auch von ihrem Erleben der US-Wahlen. Sie sprach von den Ängsten und Sorgen vor einer zweiten Amtszeit von Donald Trump als Präsident, aber auch von der großen Erschöpfung, oder besser noch: Auszehrung, die Menschen derzeit erleben.

Gidion: Wir brauchen eigentlich einen politischen Sabbat. Ich wünsche mir, dass wir innehalten und sagen können: Wir haben gearbeitet, wir haben gekämpft, manches ist nicht gelungen, anderes schon. So wie bei der Trennung einer Partnerschaft vielleicht. Die Nähe ist nicht mehr gut zwischen bisherigen Partnern, aber darum erklären wir nicht den bisherigen Weg für umsonst. Das wird auch der alten Bundesregierung nicht gerecht. Sie hat viel gewollt. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine kam hinzu, die Corona-Pandemie ist noch nicht wirklich verarbeitet, hinzu kommen Klimakrise und Migrationsproblematik. Das ist einfach viel. Ich möchte, ehrlich gesagt, eine neue Regierungskonstellation erst einmal sehen, die das spielend auf die Reihe kriegt. Das wird harte Arbeit bleiben.

Ich kritisiere nicht, dass die Ampel-Koalition ihre Zusammenarbeit beendet hat. Aber wir brauchen gerade jetzt Gesprächsrunden, in denen Menschen vertrauensvoll miteinander arbeiten können. Ich hoffe, dass jetzt gemeinsam überlegt wird: Welche Gesetze müssen in den nächsten Wochen noch beschlossen werden? Wie kann man sich sinnvoll auf die neue US-Regierung einstellen? Wie können wir einen Bundestagswahlkampf gestalten, in dem nicht noch mehr Porzellan kaputt geht? Wie passen Wahlkampf und Adventszeit zusammen? Ich würde mir sehr, sehr wünschen, dass wir verordnete Ruhezeiten hätten.

Eule: Als Bevollmächtigte des Rates der EKD sind sie auch Seelsorgerin für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und Mitarbeitenden im Berliner Politikbetrieb. Was setzen Sie der Rastlosigkeit der Welt entgegen?

Gidion: Wir laden ein. Zum gemeinsamen Nachdenken und zum Beten und Rasten. Zum Buß- und Bettag machen wir wieder einen Gottesdienst. Wir haben bei uns im Haus das Format „Heilsame Unterbrechung“. Im Moment ist das mein Lieblingswort, für das, was wir brauchen: Beten, singen, sich einsortieren in den Zeitenlauf. Als Christenmenschen haben wir eigentlich schon von unserer Religionsgeschichte her einen langen Atem. Wir sind schon durch schlimmere Zeiten gegangen als jetzt. Wir müssen uns die Zeit nehmen, uns in die Kraft dieser Stories der Bewährung zu stellen.


Vom 8. bis 13. November berichtet Eule-Redakteur Philipp Greifenstein wieder von der Tagung der EKD-Synode. Alle Eule-Beiträge zur EKD-Synode 2024 in Würzburg finden sich hier.


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(Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.)