Sechs Jahre geschenktes Leben
In Deutschland erklären sich wenige Menschen zu einer Organspende bereit. Juliane Gayk hat erlebt, was für ein Glück es bedeutet, wenn einem lieben Menschen neues Leben geschenkt wird.
Vor ein paar Tagen in der S-Bahn belausche ich unfreiwillig ein Gespräch. Zwei Frauen mittleren Alters unterhalten sich darüber, dass in der Zeitung steht, dass die Organspendezahlen einen Tiefstand erreicht haben. „Davon will ich nix wissen“, sagt die eine. „Da drehen die Ärzte aus Geldgier einem doch nur früher den Hahn ab, wenn man sonnen Lappen hat“, erwidert die andere.
In wenigen Wochen werde ich 34 Jahre alt. Dann bin ich älter als mein großer Bruder Jens. Denn er starb 2011 wenige Wochen vor seinem 34. Geburtstag. Aber gerade denke ich nicht an Tod und Trauer, sondern an Leben. An die sechs Jahre Leben, die Jens vor seinem Tod geschenkt bekommen hat. Sechs Jahre Leben die wir noch teilen konnten. Zwei Organspenden haben sein Leben gerettet. Und mir sechs Jahre mehr mit meinem Bruder geschenkt.
Ich sitze da also in der S-Bahn und ich möchte am liebsten aufstehen. Und laut schreien. Alle guten Argumente für Organspende auftischen. Vorurteile aus dem Weg räumen. Dafür werben sich eine eigene Meinung zu bilden und sich für ein unkorruptes System, das Menschen hilft, stark zumachen. Ich möchte, dass die Beiden sich zu den 12 000 schwerkranken Menschen, die in Deutschland auf eine Transplantation warten, Gesichter vorstellen. Vielleicht die ihrer Angehörigen. Ich möchte, dass sie wenigsten so viel Achtung haben, dass sie „Nein“ auf ihrem Organspendeausweis ankreuzen. Denn auch das hilft.
Ich schweige an diesem Morgen in der S-Bahn. Aber jetzt schreibe ich unsere Geschichte auf.
Es kann jeden treffen
„Ihr Sohn wird die Einschulung nicht erleben.“ Mit dieser aussichtslosen Diagnose erklären die Ärzte unseren Eltern 1978, dass ihr einjähriger Sohn schwer krank ist. Mukoviszidose, eine genetisch bedingte Stoffwechselkrankheit. Mit einer unglaublichen trotzigen Hoffnung machen unsere Eltern alle möglichen Therapien mit Jens: mehrmals täglich Inhalieren, Physiotherapie, riesige Tabletten, viele Krankenhausaufenthalte. Sie machen mit ihm Sport, damals gegen den Rat der Ärzte. Genau das Richtige, weiß man heute.
Bis mein Bruder Mitte Zwanzig ist verläuft sein Leben einigermaßen normal, so dass ich als kleine Schwester kaum etwas über seine Krankheit weiß. Er ist ein typischer Teenie, schlauer aber fauler Abiturient, geht zur Tanzschule, hat Freundinnen, lernt seine große Liebe kennen, zieht mit ihr aus und macht seine Ausbildung mit Bravour.
2005 kommt der Einbruch. Wir merken es erst schleichend, dass er Angst hat vor den Treppen, die zur Wohnung hochführen. Irgendwann schafft er sie nicht mehr. Von der Mukoviszidose sind Jens Lungen schwer geschädigt. Die Luftnot nimmt zu. Er magert ab. Sitzt im Rollstuhl, weil für keine Bewegung mehr Luft da ist. Er bekommt Sauerstoff durch eine Nasenbrille. Der Gang zur Toilette ist ein Kraftakt.
Irgendwann fällt das erste Mal das Wort Transplantation. Für uns alle erschreckend und neu. Aber die einzige Hoffnung. Die Ärzte erklären das Prozedere: Jens muss viele Untersuchungen machen. Wenn seine Werte entsprechend sind (das heißt schlecht genug und gleichzeitig gut genug für eine Transplantation) kommt er auf die Liste. Die Warteliste auf ein Transplantationsorgan ist lang.
Nicht nur Menschen, die von Geburt an krank sind wie mein Bruder, trifft es. Kleinste Kinder sind genauso auf eine Spende angewiesen wie jemand, der in seinen 50ern durch eine Infektion eine neue Leber braucht. Auf der „High urgend“ Liste stehen die ganz oben, deren Aussicht auf ein Weiterleben ohne Transplantation gering ist. Es kann jeden treffen. So wie Jens.
Dann ist es soweit: Jens ist „gelistet“. Unsere Telefone sind jetzt immer an, immer dabei. Denn er kann jeden Moment kommen, der „Call“. Der Anruf, der bedeutet: Es geht los! Es ist eine passende Organspende da! Jens wartet auf ihn in einer Klinik, denn er ist viel zu schwach, um zu Hause zu sein. Er muss auf jeden Fall gesund bleiben. Jede Erkältung steht einer Transplantation und damit dem Leben für ihn im Weg. In dieser Zeit heiraten er und seine Freundin standesamtlich. Uns allen bleibt die Luft weg.
Die erste Transplantation
Ich weiß nicht, wie lange Jens ohne die Transplantation noch gelebt hätte. Aber es war knapp. Über ein halbes Jahr wartet er, bis der erste „Call“ kommt. Ich lerne für eine Prüfung als das Handy klingelt. Mein Bruder klingt fröhlich und aufgeregt. Wir sollen in die Klinik kommen.
Eine Lungentransplantation ist eine der schwersten Operationen. Für alle Seiten. Bevor wir in die Klinik fahren, rollen Tränen. Dann schicken wir ein Stoßgebet los. Packen Proviant und die „Black Stories“- Rätselkarten ein. Ablenkung ist alles. In der Klinik finden wir Jens schon im OP Hemd vor. Das Ärzteteam ist schon auf dem Weg zur Organentnahme. Wenn alles gut ist, dann wird er bald für die Operation vorbereitet. Anspannung, Albernheiten und Rätselraten am Bett.
Dann die Nachricht: die OP findet nicht statt. Das Organ passt nicht. Stille. Enttäuschung. Wieder zurück ins Warten. Einige Male erleben wir solche „Fehl-Calls“. Wir lernen schmerzhaft, dass unglaublich viel zusammenpassen muss, damit es zu einer erfolgreichen Organtransplantation kommen kann. Blutgruppe, Alter, Größe, Gewicht, Gewebemerkmale – möglichst viel muss übereinstimmen.
Daher ist es gut, dass es ein gemeinsames Europäisches System gibt, den Eurotransplant-Verbund. Mithilfe von strengen Regeln wird so europaweit versucht zueinander passende Spender und Empfänger zu finden. Dass in Deutschland im Moment mehr Organe transplantiert als entnommen werden hat vielfältige Gründe. Zum einen die gesetzliche Regelung, dass man erst mit einer schriftlichen oder mündlichen Willenserklärung zum Organspender wird. Zum Beispiel durch einen Organspendeausweis. Hat man keine Entscheidung getroffen, werden im Todesfall die nächsten Angehörigen befragt. Diese sollen im Sinne des Verstorbenen entscheiden.
Viele Menschen finden Organspende grundsätzlich gut, aber einen Organspendeausweis haben immer noch wenige ausgefüllt, auch wenn die Krankenkasse regelmäßig informieren muss. Die wenigsten wissen auch, dass man auf dem Ausweis auch ein „Nein“ zur Spende ankreuzen kann. Oder bestimmte Organe oder Gewebe ausschließen kann. Eine klare Entscheidung zu Lebzeiten, egal wie, ist wichtig, denn viele Angehörige sind im Todesfall ihrer Liebsten überfordert mit der Entscheidung. Ich wäre es auch.
In den meisten anderen europäischen Ländern gilt eine andere Regelung als bei uns. Jede und jeder ist potentieller Organspender und muss zu Lebzeiten widersprechen, wenn er es nicht sein möchte. Mit einer solchen „Wiederspruchslösung“ würde auch ein anderer Grund für die geringen Spenderzahlen in Deutschland ausgehebelt werden: Menschen setzen sich meist nicht mit dem Tod auseinander, wenn sie es nicht müssen. Und dann ist es für eine Organspende oft schon zu spät.
Neues Leben & Vorurteile
Am 17. Oktober 2005 ist es so weit. Ich muss zugeben, dass ich mich an diese erste Transplantation nur durch Nebel hindurch erinnere. Ich höre das Handy. Sehe uns am Krankenbett angespannt scherzen. Und dann geht es los. Ich denke: Wie verabschiede ich mich denn jetzt? Und entscheide mich für „Bis später, du schaffst das!“. Jens winkt aus dem Schleusen-Aufzug als die Tür sich schließt.
Und dann weitere Erinnerungsfetzen: Stunden in der Sitzecke im Krankenhaus. Wir schweigen. Dösen. Warten. Irgendwann, mitten in der Nacht, kommt jemand in Grün und sagt, dass alles erstmal gut verlaufen ist. Ein Aufatmen. Familie und Freunde benachrichtigen. Weitere Erinnerungsfetzen von Tagen später. Nur in Schutzkleidung darf ich zu Jens. Erst ist er noch intubiert. Er hat große Schmerzen, denn für die OP wurde sein Sternum zersägt. Aber sobald er sich äußern kann macht er blöde Sprüche, wie dämlich die Duschhaube auf meinem Kopf aussähe. Alles ok, denke ich erleichtert. Die ersten Atemzüge mit der neuen Lunge, sagt er mir später, waren wie ein neues Leben. Es dauert lange Wochen mit kleinen Schritten und vielen Rückschlägen und harter Arbeit. Aber Jens kommt wieder auf die Beine.
Irgendwann darf er nach Hause in sein neues Leben, ohne die Mukoviszidose in der Lunge. Er muss sich an das Leben als Transplantierter gewöhnen, denn das Immunsystem wird durch Medikamente dauerhaft unterdrückt, damit das transplantierte Organ nicht abgestoßen wird. Das bedeutet, dass Jens schwere Medikamente punktgenau nehmen muss. Er muss alles meiden, wobei er sich anstecken kann.
Mit der Lebensfreude eines Menschen, der dem Tod von der Schippe gesprungen ist, geht mein Bruder in sein neues Leben. Wir feiern als er entlassen wird eine Geburtstagsparty für ihn. Er fängt wieder an zu arbeiten, ist erfolgreich im Job, liebt es Zeit mit seinen Freunden und Urlaube mit seiner Frau zu verbringen. Ist für jede verrückte Idee zu haben. Er lässt sich taufen. Und er engagiert sich bei Info-Veranstaltungen über Organspende.
Ich erinnere mich noch, wie ich Jens an so einem Info-Stand einmal besucht habe. Er war total begeistert, weil er merkte, dass viele Menschen durch Fehlinformationen von Organspende abgeschreckt waren und er ihnen im Gespräch einige Ängste durch Fakten nehmen konnte. Angst Nummer eins: Wenn ich Organspenderin bin, dann lassen die Ärzte mich eher sterben. Gerne gepaart mit Angst Nummer zwei: Und dann werde ich ausgeweidet wie ein Wildschwein.
Fakt Nummer 1: Die behandelnden Ärzte sind immer dem Wohl des Patienten verpflichtet und haben also immer das Ziel das Leben des Patienten zu retten. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Patient Organspender ist. Die Voraussetzungen für eine Organspende sind im Transplantationsgesetz streng geregelt: Es muss der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen (Hirntod) des möglichen Spenders nach der Richtlinie der Bundesärztekammer festgestellt sein. Diese Richtlinie besagt unter anderem dass mehrere Ärzte unabhängig von einander anhand von festgelegten Kriterien die Diagnose „Hirntod“ feststellen. „Hirntod“ bedeutet, dass das Gehirn als übergeordnetes Steuerorgan der elementaren Lebensvorgänge unwiderruflich ausgefallen und so der Tod des Menschen eingetreten ist. Es ist unumkehrbar. Der Organismus wird nur noch künstlich aufrecht erhalten.
Fakt Nummer 2: Das Transplantationsteam geht zu jedem Zeitpunkt pietätvoll mit dem Körper des Toten um. Der Leichnam wird durch eine Organspende nicht entstellt. Die Entnahme findet in einem normalen Operationssaal statt und die Ärzte verschließen die operativen Einschnitte nach der Entnahme wieder, um den Körper zur Beisetzung an die Angehörigen zu übergeben.
Schlimme Wahrheiten
Die Überlebensrate bei Lungentransplantierten liegt nach 5 Jahren bei 53 %. Jens Körper stößt nach zwei Jahren seine neue Lunge ab. 2007 heißt es wieder warten auf ein Spenderorgan. Jens hat Glück. Es gibt eine große Organknappheit und es ist nicht selbstverständlich, dass er noch einmal transplantiert wird. Aber er ist jung und man entscheidet sich dafür, ihn wieder auf die Warteliste „high urgend“ zu nehmen.
Mit Krankenhauszeiten kennen wir uns nun schon aus. Ich mache Jens Zimmer zum Party-Zimmer. Seine Frau ist immer, wenn sie kann, dort. Es gibt einen Bonsai mit Lichterkette. Wir grillen auf dem Balkon. Freunde veranstalten ein kleines Konzert. Jens schreibt einen Blog. Ich mache Ausflüge mit dem Rolli mit ihm. Oft zur Krankenhauskirche. Es ist verrückt, aber auch wenn es für uns alle (und für Jens sicher am meisten) eine sehr schwere Zeit ist, gibt es so viele glückliche Momente. So viel Nähe und Tiefe, so viel Unsinn. So viele liebe Menschen, die Anteil nehmen. Und das pure Erleben: Jeder Tag ist ein Geschenk!
Die zweite Transplantation
Der zweite „Call“ der eine neue Lunge für Jens bringt kommt am späten Abend. Ich mache gerade die Abrechnung im Café in dem ich jobbe. Mein Chef lässt mich sofort ziehen. Ich sehe noch heute das Intensivstationszimmer vor mir. Ich scherze, aber eigentlich will ich Jens nur festhalten und nicht gehen lassen. Die Angst ist zu groß – kann das wirklich nochmal gut gehen? Jens ist überzeugt, ja.
Wie es sich anfühlt mit so einer fremden Lunge, will ich später mal von ihm wissen. Komisch, sagt er, denn ich spüre sie ja irgendwie nicht. Und noch komischer ist, dass er von irgendwoher das Gerücht hört, dass die spendende Person wohl ein sehr junger Mensch gewesen sein muss. Viele Gedanken dazu kann Jens nicht zulassen, aber er hat die Möglichkeit sich anonym bei den Angehörigen zu bedanken, was ihm sehr viel bedeutet.
Das Transplantationsgesetz in Deutschland sieht es vor, dass beide, Spender und Empfänger, anonym bleiben. Zum Schutz von allen und zum Schutz vor Korruption. Es ist ein gutes Gesetz, finde ich. Die Transplantationsrichtlinien regeln das genaue Verfahren, wie dieses Gesetz umgesetzt wird. Und hier gab es in den letzten Jahren Skandale, die mit Recht viele Menschen entsetzt, abgeschreckt und das Thema Organspende beschmutzt haben.
Acht der vierundvierzig Transplantationszentren quer durch die Republik haben zwischen 2010 und 2013 zum Teil schwer gegen Transplantationsrichtlinien verstoßen, immer bei Kriterien für die Organvergabe. Zurecht ist das Vertrauen vieler Menschen dadurch noch immer schwer erschüttert. Einiges wurde seitdem dafür getan, das Verfahren sicherer und transparenter zu gestalten. Das Transplantationsgesetz ist mehrfach verändert worden. Neben erweiterter staatlicher Aufsicht des Transplantationswesens wurde ein neuer Straftatbestand für künftige Manipulationen geschaffen und es gibt es ein bundesweites Transplantationsregister.
Für mich ist die Sache mit unserem Europäischen Transplantationssystem so ein bisschen wie die Sache mit der Demokratie: Sie ist nicht perfekt und muss immer wieder neu belebt und geschützt werden, aber sie ist das beste System das wir haben. Denn nur so kann eine vertretbare Verteilung der Organe gewährleistet werden. Nur so kann auch Organhandel, Korruption und Organtourismus verhindert werden.
Beschenkt statt Happy End
Auch diese zweite OP geht gut. Wenige Stunden später können wir Jens besuchen. Wir hängen ihm Motivationszettel „Du schaffst es“ und „Wir sind stolz auf dich“ hin. „Ich liebe dich“ von seiner Frau. Er bewegt schon Finger und Augen. Thumbs up. Auch nach dieser zweiten Transplantation kämpft er sich zurück ins Leben. Später läuft Jens mit Lunge Nr. 3 einen 10 Kilometer-Lauf.
Er und seine Frau feiern ein rauschendes Hochzeitsfest. Als Hochzeitsreise machen sie eine Wohnwagentour, bei der sie nahezu alle ihre Lieben besuchen. Wir feiern vier unvergessliche Weihnachtsfeste. Ich erlebe Fußball-WM und Umzug mit ihm. Es sind sechs Jahre geschenktes Leben. Bis auch Lunge drei abgestoßen wird.
Am Ende gibt es kein Happy End. Am 29.04.2011 stirbt Jens, weil seine Lunge es nicht mehr schafft. An seiner Beerdigung wird deutlich, dass er vielen Menschen, Schwerkranken und Gesunden, viel Lebensmut geschenkt hat.
Ich vermisse meinen Bruder jeden Tag, ungelogen. Er fehlt an allen Ecken und Enden und Neubeginnen. Er hätte mich beim Lernen fürs Examen sicher gerne getrietzt. Er wäre ein toller Onkel für unseren Sohn gewesen. An seinem Geburtstag schmecken die Gummibärchen, die wir an seinem Grab essen, nicht annähernd so gut wie die auf den Geburtstagskuchen früher.
Nein, es gibt kein Happy End. Aber es gibt geschenkte Jahre. Gesammelte Erinnerungen, die für mich der beste Schatz im großen Vermissen sind. Geteiltes Leben und eine enge, bleibende Verbindung. Und die Lebensweisheit, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Und dass es echte Nächstenliebe gibt in einer Welt, in der jemand einem Unbekannten seine Lunge schenkt.