„Soll man zusehen, wie die zusammengeschossen werden?“

Ralf Haska war während der „Revolution der Würde“ 2014 evangelischer Pastor in Kiew. Er stellte sich zwischen die Sicherheitskräfte und die Demonstranten. Wie verändert der Krieg das Land und die Friedensethik der Kirche?

Herr Haska, Sie waren bis 2015 Pastor der evangelisch-lutherischen St. Katharinenkirche in Kiew. Seit Donnerstag letzter Woche hat Russland den Krieg gegen die Ukraine auf das ganze Land ausgeweitet. Was hören Sie aus ihrer ehemaligen Gemeinde?

Haska: Es war auch für mich ein großer Schock und ein riesiges Entsetzen, als am Donnerstag klar wurde, dass die russische Armee in die Ukraine eingefallen ist und den großen Angriff gestartet hat. Eigentlich unvorstellbar und unglaublich, was da passiert. Ich habe mit einigen Menschen aus meiner alten Gemeinde per Messenger und auch am Telefon gesprochen. Auch bei ihnen sind der Schrecken und die Sorgen groß. Ich habe mit älteren Menschen gesprochen, die in ihren Wohnungen sitzen und die wahrscheinlich keiner groß anruft außer ihren Familien.

Eule: Wir beobachten, dass viele Menschen aus der Ukraine fliehen, vor allem Frauen und Kinder, während die Männer wieder umdrehen, um zu kämpfen. Was kann man in dieser Situation überhaupt unternehmen?

Haska: Die Ukrainer widerstehen dem Angriff nun schon seit einer Woche. Sie kämpfen mit großem Mut und mit den Mitteln, die sie zur Verfügung haben. Es gibt in Kiew viele Freiwillige, die versuchen, die Stadt zu verteidigen. Ich weiß von einem Gemeindemitglied, der an der Vorbereitung von Molotow-Cocktails beteiligt ist.

Was wir von Deutschland aus tun können, ist leider wenig. Wir werden weiter unsere Friedensgebete halten. Ich denke, dies ist eine Zeit für Gebet und Solidarität. Das Gebet ist wichtig. Wir haben das damals 2014 bei der „Revolution der Würde“ erlebt, wie wichtig es war zu wissen, dass sich viele Menschen von überall in der Welt mit uns im Gebet verbunden haben.

Eule: Viele Menschen sagen: „Gebet allein reicht nicht“. Was können wir denn noch tun?

Haska: Ich denke, es ist auch wichtig, weiter wachsam zu sein, was Propaganda und Lügen angeht. Putin hat diesen Krieg über Jahre hinweg vorbereitet, nicht nur im eigenen Land, sondern in der ganzen Welt mit massivster Propaganda und boshaften Lügen. Da wo wir die Möglichkeit haben, sollten wir auch finanziell helfen. „Ukraine verstehen“ hat z.B. eine Liste mit Organisationen zusammengestellt, die man unterstützen kann. Ich habe mit unserer alten Gemeindeleiterin gesprochen, die mir davon erzählte, dass sie nun auch in der Gemeinde die Freiwilligen Kräfte unterstützen.

Eule: Sie haben gerade von der „Revolution der Würde“ gesprochen, von den Maidan-Protesten. Da waren Sie mittendrin. Damals war auch die Aufmerksamkeit in Deutschland für die Ukraine hoch. Seitdem aber ist dieser Krieg in den Hintergrund gerückt. Haben wir zu wenig hingeschaut?

Haska: Viele Themen haben sich in den Vordergrund geschoben und man sagt ja nicht umsonst, dass man sich an alles gewöhnen kann. Europa und auch Deutschland haben sich darin schön eingerichtet, dass es da eben einen „Ukraine-Konflikt“ gibt, wie man den Krieg lange Zeit beschönigend bezeichnet hat. Man hat sich nicht eingestanden, dass in der Ukraine bereits seit acht Jahren Krieg herrscht, dem schon 14 000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Wir haben uns dran gewöhnt und gemeint, dass sich Russland und die Ukraine irgendwann schon zusammensetzen werden. Wir haben ja ein Minsk-Abkommen! Dass es nie im Interesse Russlands lag, Frieden zu schaffen, ist eigentlich offensichtlich gewesen, aber das wollte man nicht wahrhaben.

Eule: Liegt das auch daran, dass sich die Kirche gerne in der Rolle der Vermittlerin sieht und eben nicht klar „auf Seiten“ einer Kriegspartei? Es gibt von Ihnen dieses ikonische Bild, wie sie sich zwischen die Maidan-Demonstranten und die Sicherheitskräfte gestellt haben. Ihre Gemeinde war damals ein Rückzugsort für Menschen auf beiden Seiten.

Haska: Damals waren wir in der Situation, dass die Konfliktparteien unmittelbar aufeinandertrafen. Wir hatten beide direkt vor der Tür! Da gab es die Möglichkeit, einen Ausgleich zu schaffen in der Kirche und um die Kirche herum.

Die Situation ist jetzt eine ganz andere: Ein großes Land mit Atom-Streitkräften meint, einem Land, das die Demokratie für sich entdeckt hat, sich den Weg nach Europa bahnen will, seinen Willen aufdrücken zu können mittels eines boshaften Krieges. Da muss die Kirche ehrlich sein und Ross und Reiter benennen! „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“, wir sollen und wir müssen auch Klartext reden.

Eule: Das fällt vielen Christ:innen in Deutschland schwer, auch Menschen, die sich stark in der Friedensbewegung engagieren.

Haska: Wir werden auch als evangelische Kirche in neue Diskussionen über unsere friedensethischen Positionen eintreten müssen. Das wird kommen und das muss kommen! Wir werden uns nicht auf solche eindimensionalen Aussagen zurückziehen können, wie sie die EKD-Ratsvorsitzende noch vor ein paar Wochen gemacht hat.

Eule: Annette Kurschus, die EKD-Ratsvorsitzende, unterstützte Mitte Februar die Bundesregierung in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Waffenlieferungen und sagte: „Waffen sind darauf ausgerichtet, Gewalt zu üben, dadurch nimmt die Gefahr eines Krieges zu“. Waffen könnten deshalb niemals ein Weg sein, um Frieden zu schaffen.

Haska: Man kann doch ein Volk nicht mit leeren Händen stehen lassen, das von einer riesigen Militärmacht überfallen wird! Soll man zusehen, wie die zusammengeschossen werden? Wie kann man da nur meinen, dass Waffen nicht helfen würden?

Wenn man sich das theologisch anschaut, hat eine solche Aussage auch überhaupt keinen Anhaltspunkt, es ist keine biblische Aussage. Du kannst für dich selbst die Backe hinhalten und auch noch die andere, aber wenn Du verantwortlich bist für andere, dann kannst Du nicht deren Backe hinhalten und meinen, damit bist Du auf der Linie von Jesus. Das ist nicht richtig.

Eule: Nun hat sich die Situation insofern geändert, als dass Deutschland ja Waffen liefert.

Haska: Ja, ich finde das richtig so. Ich kann nicht guten Gewissens dastehen und sagen: „Waffen haben noch nie Frieden gebracht“. Das stimmt schlicht nicht. Ich muss einem Land, das demokratisch ist, den Weg nach Europa geht und von einem Diktator angegriffen wird, die Möglichkeit geben sich zu verteidigen – und das funktioniert nicht allein mit 5000 Helmen, sondern auch mit Waffen.

Ich habe das schon 2014 gesagt und wurde dafür heftig kritisiert: „Niemand hört oder sagt es gern, aber unter bestimmten Umständen müssen Freiheit und Frieden mit Waffengewalt verteidigt werden.“ Genau das macht gerade die Ukraine. Sich dem zu verweigern, spielt nur dem Aggressor in die Hand.

Eule: Die Bundesregierung mag ihre Haltung verändert haben, in den Kirchen aber wird heftig darüber gestritten, ob Waffenlieferungen oder gar eine weitere Aufrüstung der richtige Weg sind.

Haska: Ich glaube, es braucht die großen Leuchttürme für den gewaltfreien Widerstand – Gandhi, Martin Luther King usw.. Es muss gemahnt werden, dass Frieden gehalten werden soll, dass die Waffen schweigen müssen. Aber unsere Welt ist noch keine erlöste Welt, sondern eine Welt, in der auch das Böse regiert. Manchmal bemächtigt es sich auch einzelner Menschen. Diesem Bösen muss auch widerstanden werden.

Eule: Die Ablehnung von Waffenexporten und eine pazifistische Haltung sind für die evangelische Friedensethik wichtige Eckpfeiler. Diese friedensethischen Positionen verdanken sich Forschungen und auch eigenen Erfahrungen. Der EKD-Friedensbeauftragte zum Beispiel, Landesbischof Friedrich Kramer (EKM), war in der DDR Bausoldat.

Haska: Ich war auch Bausoldat in der DDR. Ich habe vor vierzehn Tagen, als Kurschus und Kramer die Bundesregierung in ihrer Haltung unterstützten, keine Waffen liefern zu wollen, den beiden einen kritischen Brief geschrieben. Ich halte ihre Positionierung und vor allem ihre öffentliche Begründung für eindimensional.

Eule: Haben Sie denn eine Antwort erhalten?

Haska: Na ja, die Antwort kam aus dem Vorzimmer. Ein Hinweis auf die friedensethischen Dokumente, die ich ja auf ekd.de nachlesen könnte.

Eule: Die Beziehungen zwischen der bayerischen Landeskirche (ELKB) und der lutherischen Kirche in der Ukraine haben sich erst vor Kurzem wieder normalisiert. Zuvor wurde die Zusammenarbeit von der ELKB eingefroren. Hatte das allein mit der Person des damaligen Bischofs in der Ukraine zu tun?

Haska: Ja, die Konflikte lagen in der Person des ehemaligen Bischofs Serge Maschewski begründet, der versucht hat, die synodal verfasste Kirche zu einer Episkopalkirche umzubauen. Da waren auch Verleumdungen im Spiel und die Kirche hat sich darüber gespalten. 2015 hat sich darum die bayerische Landeskirche zurückgezogen und die Zusammenarbeit erst wieder aufgenommen, als demokratisch ein neuer Bischof gewählt wurde. Gott sei Dank, ist das so! Ich bin sehr froh, dass die Landeskirche die Kontakte hält und die Geschwister in der Ukraine weiterhin unterstützt.

Eule: Es gab in den vergangenen Tagen beeindruckende Stellungnahmen der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Ukraine. Welchen Einfluss haben sie im Land?

Haska: Ich habe den Eindruck, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Ukraine sehr eng zusammenstehen. Das war auch schon 2014 so. Es gibt eine großartige Einigkeit. Wenn ich mir das Statement von Metropolit Onufri anschaue, dem Oberhaupt der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, bin ich richtig glücklich und froh.

Eule: In Deutschland wissen ja die wenigsten, was die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) so macht, hier sprechen die großen Kirchen. In der Ukraine scheint der Allukrainische Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften (UCCRO) eine bedeutende Institution im Land zu sein.

Haska: Ja, was der UCCRO sagt, wird wahrgenommen. Der Rat ist kein fünftes Rad am Wagen, gerade für die Politik ist er ein wichtiger Ansprechpartner. Schon 2014 haben wir den Geist der Einigkeit gespürt, der da weht: Wir hatten in der St. Katharinen-Kirche am Präsidentenpalast ja ein geheimes Lazarett. Da stand am Vorabend seiner Reise in die USA, zum Gebetsfrühstück beim US-Präsidenten, auf einmal Swjatoslaw Schewtschuk vor der Tür, der Großerzbischof der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Er war gekommen, um sich das Lazarett anzuschauen und mit uns zu beten.


Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.


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