Straßenkünstler in Santiago de Chile, Foto: Jaime Troncoso (Flickr), Public Domain

Staat und kirchliche Positionen – Das neue Abtreibungsgesetz in Chile

Die Kirchen kritisieren die neue Abtreibungsgesetzgebung in Chile heftig. Was sagt das über das Verhältnis von Staat und Kirche aus? Und wie verhält sich die lutherische Kirche im Jahr des 500. Reformationsjubiläums?

Am 14. September 2017, ein halbes Jahr vor Ende der zweiten Regierungsperiode unter der Präsidentin Michelle Bachelet, wurde in Chile endlich das Gesetz zur Straffreiheit von Abtreibung in drei Fällen erlassen. Ab nun droht Frauen, helfenden Ärzten und anderen medizinischen Begleitern keine Strafe mehr, wenn sie in den Sonderfällen einer Vergewaltigung, der Lebensgefahr für die Mutter und wenn der Fetus außerhalb des Mutterleibes nicht überleben wird, eine Schwangerschaft vorzeitig beenden.

Der steinige Weg der Gesetzgebung

Im Falle der Vergewaltigung dürfen es nicht mehr als 12 Wochen seit Schwangerschaftsbeginn sein, bei Minderjährigen muss die Abtreibung bis zur 14. Woche geschehen. Das neue Gesetz sieht auch vor, dass Ärzte und medizinisches Personal, sogar eine ganze Institution, aus Gewissensgründen das Durchführen einer Abtreibung ablehnen können. Sie müssen dann aber die betroffene Frau an einen anderen Arzt oder ein anderes Krankenhaus weiterleiten.

Schon 1931 wurde in Chile Abtreibung aus therapeutischen Gründen erlaubt. 1989 wurde Abtreibung allerdings noch in der Militärdiktatur Augusto Pinochets gänzlich verboten und unter Strafe gestellt.

Dennoch war und ist Abtreibung eine gängige Praxis in Chile. Es ist natürlich schwierig, genauere Zahlen zu erfahren. Amnesty International beruft sich in einem Dokument auf Zahlen des Gesundheitsministeriums, laut dessen pro Jahr ungefähr 33.000 Abtreibungen in Chile durchgeführt wurden. Andere Berechnungen und Untersuchungen gehen von 60.000, bis zu 160.000 Abtreibungen pro Jahr aus.

Am 31. Januar 2015 sandte die Präsidentin Bachelet das Projekt zur Veränderung der Gesetzgebung über Abtreibung in das chilenische Parlament. Nach fünf Monaten, in denen Positionen und Argumente verschiedener ziviler Organisationen angehört wurden, stimmte die Gesundheitskommission des Abgeordnetenhauses für die Initiative des Gesetzes der Straffreiheit der Abtreibung in den drei Sonderfällen.

Präsidentin Michelle Bachelet, Foto: Ministerio de Bienes Nacionales (Flickr), CC BY 2.0

Nach 3 Jahren Debatte im Parlament wurde im Kongress, als auch im Senat für das Gesetz gestimmt. Dabei gab es einige Hindernisse: Das Abgeordnetenhaus hatte Änderungen des Senats abgelehnt. Die gemischte Kommission aus Abgeordneten und Senatoren nahm das Gesetz schließlich am 2. August 2017 an. Eine Gruppe Oppositioneller präsentierte Einwände, dass das Gesetz gegen die Verfassung verstoße. Das Verfassungsgericht erklärte das Gesetz allerdings am 21. August 2017 nach einer Untersuchung  für verfassungsgemäß.

Mehrheit der Bürger für die Gesetzesänderung

Die Regierung begründet das Gesetz auf folgende Weise: Frauen sollten in solchen extremen, komplexen Situationen das Recht auf Sicherheit und Schutz und freie Entscheidung haben. Der Staat kann den Frauen keine Entscheidung aufzwingen, sondern muss sie in solchen Lebensmomenten begleiten, mit Würde behandeln und unabhängig davon, welche Entscheidung sie treffen, unterstützen. Außerdem zeigen die Statistiken in Chile, dass das absolute Verbot und die Kriminalisierung die Praxis der Abtreibung nicht verringern und Frauen unter weitaus risikoreicheren Bedingungen Abtreibungen durchführen lassen.

Pro-Choice-Demo in Santiago de Chile, Foto: Global Panorama (Flickr), CC BY-SA 2.0

Von vielen Menschen wurde dieses Gesetz als demokratische Errungenschaft gefeiert. Jetzt  können die betroffenen Frauen in diesen drei Extremfällen frei darüber entscheiden, ob sie die Schwangerschaft weiterführen möchten oder nicht. Bei der Umsetzung dieser Entscheidungen können sie nun auf sicherem Wege medizinische Hilfe in Anspruch nehmen.

Laut der Umfrage Cadem, die Anfang 2017 durchgeführt wurde, sprachen sich 71% der Befragten für dieses neue Gesetz aus. In der ebenfalls 2017 durchgeführten Umfrage CEP waren es 49%, die sich für Abtreibung in den drei Sonderfällen aussprachen, 21% für freie Abtreibung und 27% der Befragten sprachen sich gänzlich gegen Abtreibung aus.

Es gab aber auch Gruppen, die sich gegen dieses Gesetz ausgesprochen hatten, vor allem von kirchlicher Seite.

Proteste der Kirche

Jedes Jahr lädt die katholische Kirche anlässlich der Nationalfeiertage im September zu einem Gebet für das Land ein, das hier „Te Deum“ genannt wird. Daran nehmen Vertreter verschiedener Kirchen und von Seiten des Staates und der Regierung teil, unter anderem auch die Präsidentin. Seit einigen Jahren laden auch verschiedene evangelische Frei- und Pfingstkirchen zu einem eigenen evangelischen Te Deum ein.

Dieses Jahr fand es am  10. September statt. Schon bei ihrer Ankunft wurde die Präsidentin von Abtreibungsgegnern beschimpft. Unter anderem wurde sie „Mörderin“ und „Schande der Nation“ genannt. Die Predigt hielt Eduardo Duran, ein evangelischer Pfarrer und derzeitiger Kandidat einer rechtskonservativen Partei für einen Parlamentssitz bei den diesjährigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen.

Er kritisierte die neue Gesetzgebung und auch andere Gesetzesvorhaben, die im Zusammenhang mit Wert- und Moralvorstellungen stehen (Gendergerechtigkeit, Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe) scharf. Duran meinte, sie würden nur eine kleine Minderheit vertreten und nicht „unsere“ christlichen Werte repräsentieren. Außerdem kündigte er an, dass die evangelische Bevölkerung dagegen im Wahlverhalten und als Beteiligte im politischen Geschehen vorgehen werde. Auch in den Gebeten und Ansprachen wurde die Regierung auf Grund von Entscheidungen bezüglich ethischer Themen kritisiert.

Santuario Inmaculada Concepción, Santiago de Chile, Foto: Leandro Neumann Ciuffo (Flickr), CC BY 2.0

Die Regierung beanstandete vor allem die Art und Weise, wie die Kritik vorgetragen wurde und dass die Veranstaltung indirekt als Wahlkampagne genutzt wurde. Einige Präsidentschaftskandidaten waren anwesend und Sebastian Piñera, ehemaliger Präsident, und derzeit stärkster Kandidat des rechtskonservativen Blocks, für den auch der Prediger Duran um einen Parlamentssitz wirbt, hatte tosenden Beifall erhalten.

Der Rat der evangelischen Kirchen kündigte an, dass es eine Distanzierung von der derzeitigen Regierung geben wird. Es könne nicht erwartet werden, dass man mit Gesetzgebungen einverstanden ist, die gegen die eigenen Prinzipien verstoßen.

Am 18. September wurde das ökumenische Te Deum in der katholischen Kathedrale gehalten. Der Ton des Erzbischofs von Santiago, Kardinal Ricardo Ezatti war durchaus gemäßigter. Er stellte die Position der katholischen Kirche dar, welche für den Erhalt des Lebens in allen möglichen Weisen ringt. Die neue Gesetzgebung wird respektiert und dient als Motivation, sich umso mehr für die Begleitung von Frauen in solch kritischen Situationen einzusetzen.

Kirche und Staat

Die polemische Reaktion im evangelischen Te Deum hat in Chile erneut die Diskussion über das Verhältnis von Staat und Kirche und die Aufgabe und Rechte der Kirchen in Bezug auf das Handeln der Regierungen aufgeworfen.

Die Verfassung von 1925 hält fest, dass allen Einwohnern die Freiheit des Gewissens und des Glaubens und der Ausübung der Religion garantiert ist, insofern sie nicht gegen die Moral und die öffentliche Ordnung verstoßen. Dabei wird auch den Religionen im Rahmen der Gesetze und Ordnungen garantiert, ihre eigenen Institutionen aufzubauen.

In der Verfassung von 1980 wird Chile als „demokratische Republik“ definiert. Von diesen Formulierungen her gesehen, ist Chile, wenn auch nicht explizit ausgedrückt, ein laizistischer Staat, der sich nicht an irgendeine spezifische Religion bindet, sondern allen Religionen Freiheit und Gleichberechtigung garantieren sollte. Interessant sind dazu Äußerungen die Michelle Bachelet 2013 als Präsidentschaftskandidatin machte: Der Staat garantiert den Kirchen die Freiheit, ihre Spiritualität und Religion ausüben zu können. Und er kann niemanden zwingen etwas gegen sein Gewissen zu tun.

Doch bei Veranstaltungen wie dem Te Deum und den massiven Protesten in Reaktion auf Gesetzgebungen, die ethische Themenfelder anschneiden, zeigt sich, dass das Denken der verschiedenen Kirchen noch starken Einfluss auf die chilenische Gesellschaft hat und dass der Staat diesen viel Raum schenkt.

Straßenkünstler in Santiago de Chile, Foto: Jaime Troncoso (Flickr), Public Domain

Die große Aufgabe ist es, bei den Gesetzgebungen Moralvorstellungen bestimmter christlicher Gruppen mit denen anderer, von nichtreligiösen Werteauffassungen geprägten, zu vermitteln.

Die Kirchen haben sich immer wieder zu hinterfragen, auf welche Weise und bei welchen Anlässen und Themen sie ihre Wertvorstellungen äußern und verteidigen sollten, wie weit sie dabei gehen können, ohne dabei die Positionen von Andersdenkenden zu beschneiden und auf welchen Glaubensfundamenten sie beruhen.

Bemerkt sei dabei, dass das Verhalten der Vertreter evangelischer Kirchen auf dem evangelischen Te Deum durchaus nicht alle protestantischen Kirchen in Chile repräsentiert. Die Methodistische Kirche Chiles schrieb der Präsidentin einen Brief, in welchem sie klarstellte, dass sie die Art und Weise, wie auch die im Te Deum gemachten Äußerungen nicht teile und sich vom religiösen Fanatismus distanziere.

Lutherische Stimmen

Ein weiteres Beispiel ist der Brief, den ein Kollege aus der lutherischen Gemeinde von Valparaíso und Viña del Mar an die Tageszeitung La Tercera verfasst hatte. Pfarrer Rodolfo Olivera entschuldigte sich im Text dafür, dass die Chilenen durch das evangelische Te Deum ein schlechtes Bild von der Kirche erhalten hatten. Ihm sei es peinlich, dass die Werteagenda das Einzige wäre, was man von Pfarrern hört, die doch eigentlich von der Liebe Gottes predigen sollten.

Mein Kollege fragt (ich übersetze einen Großteil des Textes fast wortwörtlich):

„Verpflichtet der Staat denn zur Abtreibung? Nein. Verpflichtet der Staat homosexuelle Ehen zu trauen? Nein. Warum mühen sie sich ab, die Chilenen daran zu hindern errungene Freiheiten zu genießen, anstatt ihre Gläubigen zu bilden, damit sie das Richtige aus Sicht ihrer eigenen Glaubensfreiheit tun? Welche Aussagen über die Trennung zwischen Staat und Kirche in der Reformation haben die Kirchen nicht verstanden?“

Rodolfo Olivera fordert auf:

„Wenn ihr gegen die Obrigkeit protestieren wollt, dann tut es für etwas, was sich lohnt: gegen die Korruption, die Armut, für die Sorge um alte Menschen und Kinder, Rechte für die Immigranten, Menschen die ausgenutzt und ausgegrenzt werden. Lasst uns dafür kämpfen, dass Menschen mehr Rechte und Würde erhalten, anstatt die Freiheit derer einzuschränken, die sie brauchen. Dafür wolltet ihr Religionsfreiheit? Die Väter der Reformation und wir nutzen sie, um über Vergebung und Aufnahme Gottes zu predigen, nicht um zu diskriminieren und im Namen eines Gottes zu hassen, der (eigentlich) nur Liebe kennt.“

Mit diesen Worten trifft mein Kollege, meiner Meinung nach, die Position und Situation der lutherischen Kirchen in dieser Diskussion gut auf den Punkt. Kern der lutherischen Theologie ist der Glaube an einen barmherzigen Gott und die Freiheit des Gewissens in der gelebten Beziehung mit Gott.

Wir wollen eine Kirche sein, die das Leben und die Liebe Gottes predigt und versucht, die Menschen in schwierigen Situationen zu verstehen und zu begleiten. Dabei sind wir vorsichtig mit moralischen Urteilen und wollen verschiedene Positionen und Lösungsansätze miteinander ins Gespräch bringen. Im Vordergrund steht die Sorge um das Wohl aller und das Verständnis für den anderen, durch welche die Liebe Gottes greifbar wird.

Darum sprechen wir uns nicht für freie Abtreibung aus, aber es gibt Vertreter der lutherischen Kirchen, so wie mein Kollege, einige andere und ich, die die Straffreiheit bei Abtreibung in diesen drei Extremfällen für akzeptabel halten. Denn eine Kriminalisierung in solchen Fällen missachtet das Bestreben, dem anderen mit Verständnis und Liebe zu begegnen und sich für sein Wohlergehen einzusetzen. Außerdem greift sie massiv in seine Gewissensfreiheit an.


Für den interessierten spanischsprachigen Leser weitere Informationen und Quellen: