Taktisch währt am längsten
Es hilft ja nichts: Warum er bei der Bundestagswahl taktisch wählt, erklärt unser Redakteur Philipp Greifenstein.
Nichts leichter als das: Von langfristigen Überzeugungen habe ich genug und in der Tat habe ich bisher noch bei jeder Wahl nach ihnen gewählt und eben nicht taktisch, weil ich – so glaube ich – damit auch keinen Schaden angerichtet habe.
Bei dieser Bundestagswahl verhält sich das anders, und ich überlege ernsthaft, ob ich nicht tatsächlich taktisch wählen sollte, um Schaden abzuwenden – soweit das mit einer Stimme möglich ist. Es geht also auch um mein Gewissen, mit meiner Stimme kein Schindluder getrieben zu haben.
Was will ich und wen wähle ich deswegen?
Erst gestern Abend wieder so ein Tweet: Da schreibt einer, seine Erststimme gehöre den Grünen, seine Zweitstimme den Piraten. Ich respektiere seine freie Entscheidung. Nichts läge mir ferner, als sie ihm abzusprechen. Falsch ist sie trotzdem.
Der junge Mann möchte grüne und piratige Politik unterstützen. Es gibt deutlich Schlimmeres. Nur hat er nicht so ganz geblickt, wie das mit unserem Wahlsystem funktioniert. Wenn er nicht gerade in Kreuzberg wohnt, ist seine Erststimme (Wahlkreiskandidat) für die Grünen zwar gültig aber hochwahrscheinlich ohne Konsequenz.
Wenn es ihm um Umweltpolitik geht oder er sich um was auch immer sorgt, wofür die Grünen so stehen, warum sucht er sich nicht die Kandidatin einer der Parteien aus, die tatsächlich um das Direktmandat in seinem Wahlkreis kämpfen, die am ehesten seinen Überzeugungen entspricht? Oder wählt die Grünen mit seiner Zweitstimme? Direktmandate werden ausgeglichen, fehlende Zweitstimmen gleicht niemand aus.
Fröhlicher Pragmatismus
So ein taktisches Verhältnis zur repräsentativen Demokratie täte gut. Dann würden am Ende – wie es sich der junge Mann und ich gleichermaßen wünschen – progressivere Stimmen im Bundestag an Gewicht zunehmen. Denn ich vermute mal, dass derlei un-pragmatische Überlegungen vor allem auf der gesellschaftlichen Linken zu finden sind.
Dafür müsste uns nur einmal egal sein, welche Parteifarbe diese Überzeugungen tragen. Das ist im eigentlichen Sinne nicht einmal taktisch, sondern pragmatisch. Ich gebe meine langfristigen Überzeugungen ja gerade nicht auf, sondern folge ihnen, indem ich diejenige wähle, die sie am wahrscheinlichsten in Politik umsetzen kann.
Es gibt in (fast) jeder Partei Menschen, von denen ich mich gerne vertreten lassen würde. Das sieht man immer mal wieder bei den seltenen Abstimmungen, die tatsächlich von allen Mitgliedern des Hauses nach besten Wissen und Gewissen entschieden werden.
Den eigenen Ärger über eine Partei immerzu an jedem ihrer Kandidaten auszuleben, ist doch irgendwie kleinlich. Was die Leute gegen die CDU, die Grünen und vor allem die SPD und Die Linke haben, ist doch in den seltensten Fällen durch eigene Erfahrung und gut abgerundetes Wissen gedeckt. Auch fürs Wahlvolk gilt, dass nach besten Gewissen und Wissen gewählt werden sollte, auch wenn das so nicht im Grundgesetz steht.
Ankreuzen, Hand abhacken
In meinem Wahlkreis konkurrieren die CDU, Die Linke und die AfD um das Direktmandat. Will ich verhindern, dass die AfD – wie bei den Landtagswahlen letztes Jahr – Direktmandate abräumt, bringt es mir nüscht, Grüne oder Piraten oder auch SPD zu wählen. Wenn es mir ernst damit ist, ein AfD-Direktmandat zu verhindern, dann muss ich CDU oder Die Linke wählen – auch wenn ich mir anschließend die Hand abhacken wöllte.
Etwas entspannter sieht es bei den Zweitstimmen aus. Jede Partei die 1 % die 0,5 %* aller Stimmen bekommt, rutscht in die Parteienfinanzierung. Es kann also durchaus Sinn ergeben, eine sehr kleine Partei zu wählen, auch wenn sie wirklich keine Chance hat, in den Bundestag einzuziehen.
Am Beispiel des jungen Mannes: Rutscht die Piratenpartei durch viele gutmeinende Wähler in die Parteienfinanzierung ist der Ofen für die Kaperer noch immer nicht ganz aus. Vielleicht gibt es ja lokal und regional gar ein Comeback?
Allerdings wird unser junger Mitbürger im neugewählten Bundestag keine Repräsentanz seiner Wahlstimmen finden. Die Piraten ziehen nicht ein und wenn die Grünen einziehen – auch das liegt bisher immer noch in der Fehlertoleranz der Umfragen und die Grünen haben schon manchen bitteren Wahlabend erlebt -, durch seine Stimme ganz sicher nicht.
Einen Unterschied machen
Langfristige Überzeugungen sind wichtig für eine Demokratie. Sie helfen, Kurs zu halten, wenn die See mal stürmisch wird. Und deshalb bin ich nicht nur dafür, dass jeder mit seiner Stimme tun kann, was ihm beliebt, sondern ebenfalls dafür, dass er auch nach der Wahl für seine Entscheidung gerade steht.
Ich für meinen Teil werde meine Zweitstimme wie bisher der SPD geben. Aus langfristiger Überzeugung und Pragmatismus zugleich. Was ich mit meiner Erststimme anstelle, das weiß ich noch nicht. Ich weiß aber, dass ich am Abend des 24. September nicht dasitzen und mich fragen möchte, ob meine Stimme nicht tatsächlich einen Unterschied hätte machen können.
* Danke für die Korrektur an unseren Leser @Marthori, der den kleinen, aber wichtigen Fehler mit Eulenaugen erspäht hat.