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True Crime Religion

In der Netflix-Dokumentation „Keep Sweet. Pray and Obey.“ wird der Missbrauch in einer Sekte mit den Mitteln des True Crime-Genres erzählt. Kann das gut gehen?

Hinweis: In diesem Text geht es um sexuelle und sexualisierte Gewalt und verschiedene Formen des Missbrauchs in religiösen Gemeinschaften.


Als Jugendlicher war ich Fan der US-Erfolgsserie „CSI: Crime Scene Investigations“. „CSI“ und seine zahlreichen Ableger verschafften dem US-Sender CBS und in Deutschland VOX, RTL und RTL:Crime über viele Jahre hervorragende Quoten. Besonderes Stilmittel der Serie waren animierte Kamerafahrten, die Kugeln durch Luft und Fleisch folgten, mikroskopische Beweisstücke identifizierten, Verletzungen und tödliche Wunden erkundeten.

Direkt im Anschluss an „CSI“ gingen dann die „Medical Detectives“ auf Sendung, die versprachen, „Geheimnisse der Gerichtsmedizin“ aufzudecken. Erzählt wurden die echten Kriminalgeschichten in diesem True Crime-Format mittels der Stimme von Hubertus Bengsch, der auch die deutsche Synchronstimme des „CSI“-Hauptdarstellers William Petersen war: Fiktion und Dokumentation bildeten ein schlagkräftiges Unterhaltungs-Duo.

Das True Crime-Genre (engl. „echte Kriminalität“) beherrscht im Krimi-verrückten Deutschland seit längerer Zeit die Quoten-Charts. Zu den erfolgreichsten Podcasts des Landes gehört „ZEIT Verbrechen“ (inkl. Zeitschriften-Spin-off), auf den Streaming-Plattformen und in den Mediatheken gehören Krimi-Dokus zu den meistgeklickten Inhalten. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die tausendfachen fiktiven Morde im ländlichen Raum und schaurig-schönen Krimiabende im deutschen Fernsehen der Ergänzung durch echte Verbrechen bedürfen. Das alles in einem der sichersten Länder des Planeten.

Verbrechen mit den Mitteln des fiktionalen Erzählens zu erklären, ist keineswegs neu. Seit 30 Jahren bedienen sich Geschichtsdokus nachgestellter Szenen. Die in den 1990er- und 2000er-Jahren weit verbreitete Kritik der „Guido Knopp“-Dokus könnte man heute umstandslos auf das True Crime-Genre umlegen. Inwieweit dient das Storytelling dem Erkenntnisgewinn – und ab wann nur noch der Unterhaltung?

Die Netflix-Doku „Keep Sweet. Pray and Obey“ („Sei lieb – Bete und gehorche“) wird von US-amerikanischen Rezensent:innen als „chilling“ beschrieben. Schauerlich anzuschauen ist die vierteilige Dokumentation aber nur dem Inhalt nach, in der Form werden höchste ästhetische Ansprüche befriedigt. In der Doku kommen Familienvideos, Fotos, Betroffenen- und Zeugeninterviews sowie nachgestellte Szenen zum Einsatz.

Himmlische Sitzungen und Sekundärkriminalität

„Keep Sweet. Pray and Obey“ erzählt die jüngere Geschichte der Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints (FLDS) und ihrer „Propheten“ Rulon Jeffs und Warren Jeffs. Warren Jeffs hatte die Führung 2002 von seinem Vater „übernommen“ und in den Folgejahren der Sekte eine strikte Radikalisierung verordnet, nach zahlreichen Prozessen verbüßt er inzwischen eine lebenslängliche Freiheitsstrafe (plus 20 Jahre) wegen sexuellen Missbrauchs zweier Mädchen. Die 15 und 12 Jahre alten Mädchen hatte er „geheiratet“ und im Rahmen sog. „heavenly sessions“ („himmlischer Sitzungen“) im Beisein weiterer seiner Ehefrauen vergewaltigt. Seine Verurteilung fußt auf Audioaufnahmen und Protokollen, die in der FLDS minutiös geführt werden.

Die FLDS ist eine Abspaltung von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen), die bis heute die Vielehe (Polygamie) praktiziert. Die intern als plural marriage und plurality bezeichnete Überzeugung sieht vor, dass ein Mann mindestens drei Frauen heiraten muss, um sich die ewige Erlösung zu sichern. Dabei werden bereits minderjährige Mädchen mit deutlich älteren Männern verheiratet. Über die Eheschließung entscheidet der „Prophet“, der als geistlicher und politischer Führer der Gemeinschaft fungiert. Aussteiger:innen berichten, Warren Jeffs habe selbst 87 Ehefrauen, wovon 24 zum Zeitpunkt der „Eheschließung“ minderjährig gewesen sein sollen.

Es gäbe, so schildert es eine FLDS-Aussteigerin ein general understanding (grundsätzliches Einverständnis) darüber, dass zum Zwecke der Akkumulation weiterer Ehefrauen im Tausch die eigenen Töchter günstig und jung verheiratet werden müssten – am besten in die Familie des Sektenführers. Ein aus der Gemeinschaft ausgestoßener Halbbruder des aktuellen Sektenführers Warren Jeffs‘ stellt trocken fest: „Die meisten Männer in der FLDS sehen Frauen als Vieh, als Besitz.“

Die Polygamie aber sei gar nicht das eigentliche Problem, klärt der Anwalt Roger Hoole in einer der Schlüsselszenen der ersten Folge auf. Diese würde von Mainstream-Mormonen wie ihm zwar als „Verlegenheit“ wahrgenommen, üblicherweise unternähmen die Behörden aber nichts gegen die zahlreichen Splittergruppen innerhalb der Mormonen-Bewegung, die sie bis heute praktizieren, da man Familien nicht auseinanderreißen wolle. „Das Problem ist die Sekundärkriminalität (secondary crimes), die sich in einer geschlossenen religiösen Gemeinschaft ereignet, die von Männern kontrolliert wird.“

Frauen und Mädchen müssen sich in der FLDS verhüllen und im „Prärie-Stil“ kleiden. Foto: Netflix

FLDS: Zahllose Verbrechen

„Keep Sweet. Pray and Obey.“ entwickelt über vier Folgen hinweg eine fesselnde Geschichte: Zu Beginn lernen wir die Familie Wall kennen, deren Töchter im weiteren Verlauf zentrale Rollen spielen werden. Durch ihre Augen, vermittels zahlreicher privater Videoaufnahmen, sehen wir das Leben in der FLDS unter dem „Propheten“ Rulon Jeffs. Anschließend werden Machtübernahme und -Konsolidierung durch dessen Sohn Warren geschildert, bevor sich vor allem die beiden letzten Episoden der Miniserie mit dessen Verbrechen, Flucht und Verurteilung befassen. Gerahmt wird die Handlung durch die Erzählungen mehrerer Aussteiger:innen und Überlebenden der Sekte.

Dabei kommt naturgemäß längst nicht alles zur Sprache, was über das Leben in der FLDS und Warren Jeffs Verbrechen inzwischen bekannt ist. Mindestens ein Fall sexuellen Missbrauchs innerhalb der als grundsympathisch vorgestellten Familie Wall, nämlich zwischen Halbgeschwistern, wird ausgelassen. Andere Vorgänge werden nur am Rande erwähnt, wie die Verstoßung von überzähligen männlichen Jugendlichen aus der Gemeinschaft oder Warren Jeffs frühe sexuelle Übergriffe gegenüber seinen Halbschwestern und Schülerinnen der von ihm geleiteten Sekten-Schule „Alta Academy“.

Die zahllosen Verstoßungen von Mitgliedern durch den Sektenführer, aus denen reassignments („Neuzuordnungen“) von Frauen und Kindern resultieren, bleiben in der Dokuserie ebenso ein Rätsel wie die wirtschaftliche Macht der FLDS, die sich zu einem nicht unerheblichen Teil moderner Sklavenarbeit verdankt. Schließlich bleibt auch die Rolle der vielfach korrumpierten Sicherheitsbehörden unzureichend ausgeleuchtet. Man würde auch gerne mehr über die Gemeinschaft der Ausgestoßenen erfahren, die sich offenbar in unmittelbarer Nähe angesiedelt hat.

„Keep Sweet“-Regisseurin Rachel Dretzin könnte sich daher gut auch eine zweite Staffel der Doku-Reihe vorstellen. Ihre Miniserie ist gleichwohl nicht der einzige Versuch, den Geschehnissen in der FLDS mit filmerischen Mitteln nachzugehen. Binnen weniger Monate sind bei den US-Sendern Discovery+ („Keep Sweet“ von Don Argott, Trailer) und Peacock/NBC („Preaching Evil“, vier Episoden, Trailer) weitere Dokumentationen über die FLDS erschienen. „Preaching Evil“ erzählt die Geschichte gar durch die Linse der „Lieblingsfrau“ und Protokollantin (scribe) von Warren Jeffs, die in der Dokumentation zum ersten Mal öffentlich auftritt. Ingesamt haben sich in den vergangenen Jahren mindestens acht Dokumentar- bzw. True Crime-Produktionen am Stoff versucht. Was können diese Filme leisten, außer die Sehnsucht nach Schauergeschichten zu stillen?

FLDS-„Propheten“ Rulon Jeffs (links) und Warren Jeffs. Foto: Netflix

„Turn yourself in“: Toxische Religion

„Keep Sweet. Pray and Obey“ verzweckt die Verbrechen innerhalb der FLDS und damit auch das Leid der Betroffenen, um die Zuschauer:innen zu unterhalten. Dieses jeder True Crime-Produktion inhärente Moment ist aufgrund der Monstrosität der geschilderten Verbrechen bei „Keep Sweet. Pray and Obey“ besonders augenfällig. Doch können wir durch True Crime-Formate auch etwas über die Mechanismen hinter dem Missbrauch in religiösen Kontexten lernen, das sich in Missbrauchsstudien nur unzureichend vermittelt?

Viele Dutzend dieser Studien sind inzwischen in den USA, Australien, Irland, Frankreich und auch Deutschland erschienen. Sie sind, wie zuletzt im Bistum Münster, viele hundert Seiten lang und fokussieren häufig auf juristische Verantwortlichkeiten und die Täterbiographien. Demgegenüber erzählt „Keep Sweet. Pray and Obey“ seinem weltweiten Streaming-Publikum zusätzlich zur Kriminalgeschichte auch das Leben in der religiösen Gemeinschaft – und die Betroffenenperspektiven.

Vielsagend ist zum Beispiel die Formulierung, die innerhalb der FLDS verwendet wird, wenn sich junge Frauen oder Mädchen für eine Ehe zur Verfügung stellen – oder von ihren Vätern angeboten werden: „Turn yourself in“ (engl. „sich freiwillig stellen“) ist sonst als Begriff aus der Polizeiarbeit bekannt. In der Formulierung ist das Ausgeliefertsein an den Propheten und den eigenen Vater ebenso präsent wie die religiöse Dimension der Selbstverleugnung oder Demut. Keep Sweet.

Schockierend sind die Erzählungen der jungen Frauen und Mädchen von den ersten sexuellen Kontakten mit ihren „Ehemännern“. Bis dahin hatten einige von ihnen keine Ahnung, dass man nicht vom Küssen allein schwanger wird. Mit dem Keuschheitskult der FLDS korrespondiert die Leichtigkeit, mit der sich Täter wie Jeffs die Naivität und Scham ihrer Opfer zunutze machen.

Das alles ist nicht denkbar ohne die religiös legitimierte patriarchale und diktatorische, durch keine demokratische oder synodale Gewaltenteilung gehemmte Macht des Sektenführers und seiner männlichen Gefolgschaft. Der Dokuserie gelingt es, das Verhängnis aus Mittäterschaft und eigener Betroffenheit zu schildern, in das Väter, Mütter, Geschwister und Ko-Ehefrauen geraten: Wer ist in diesem totalitären System außer den Kindern überhaupt unschuldig?

„Keep Sweet. Pray and Obey“ führt die theologischen, soziologischen und psychologischen Mechanismen hinter dem Missbrauch in religiösen Gemeinschaften vor Augen. Der Missbrauch von Macht, Arbeitskraft, Glauben und Sexualität und die sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Frauen sind in der FLDS besonders heftig, aber religiöse Verbrämung von Macht, patriarchale Strukturen, Keuschheitskult (purity culture), diktatorische Führungsstile und verhängnisvolle Abhängigkeiten liegen Missbrauchsverbrechen in allen Kontexten zugrunde.

Haben die Millionen von „CSI“-Fans etwas über die echte Arbeit von Kriminaltechniker:innen gelernt? „Keep Sweet. Pray and Obey“ könnte durchaus einen Beitrag dazu leisten, dass mehr Menschen als bisher sich mit den Mechanismen des Missbrauchs beschäftigen, der auch in anderen Religionsgemeinschaften und Kirchen anzutreffen ist. Dazu muss man als Zuschauer:in jedoch durch die Skurrilität und Obskurität des FLDS-Settings und die gefällige Inszenierung hindurchschauen und sich bewusst dazu entscheiden, nicht einfach nur „gut unterhalten“ zu werden.

Secta-Podcast: FLDS – Polygamie für die Ewigkeit

In einer Folge seines Secta-Podcasts (@sectapodcast) arbeitet der evangelische Theologe Fabian Maysenhölder (@f_mayse) die Geschichte der FLDS von ihrer Gründung an auf. Ihr findet den Podcast auf Spotify, Deezer und auf der Secta-Website.


Keep Sweet. Pray and Obey. / Sei lieb – Bete und gehorche
von Rachel Dretzin
Netflix 2022
Trailer