„Eine Rückkehr wird immer unwahrscheinlicher“
Gibt es eine Chance auf Frieden für die Ukraine? Wie steht es im vierten Kriegsjahr um das Land, die Orthodoxie und die ukrainische Diaspora in Deutschland?
Das vierte Kriegsweihnachten steht der Ukraine und Ukrainer:innen in Deutschland bevor, die vor dem Angriffskrieg Russlands geflohen sind. Wie bereits im Dezember 2022, 2023 und 2024 ist Ostkirchen- und Osteuropa-Expertin Regina Elsner von der Universität Münster im Ukraine-Update des „Eule-Podcast“ zu Gast. Im Folgenden eine (stark) gekürzte Fassung des Gesprächs:
Eule: Frau Elsner, in diesen Tagen geht es in den Nachrichten um einen neuen Friedensplan für die Ukraine der US-amerikanischen Unterhändler. Ist das ein Plan, der zum Frieden führen kann?
Regina Elsner: Ich bin sehr skeptisch, ob es angemessen ist, die Vorschläge der USA als Friedensplan zu bezeichnen. Dieser Plan wurde vor allem von der russischen beziehungsweise amerikanischen Seite erdacht. Es wird über die Ukraine geredet, es wird aber nicht mit der Ukraine geredet. Die Ukraine würde von diesen Plänen aktuell gar nicht profitieren, sondern Russland und die USA. Das alles sieht für mich nicht danach aus, dass es hier wirklich um Frieden für die Ukraine geht. Es geht den USA, das sagt ja Donald Trump auch sehr deutlich, darum, dass aufgehört wird zu kämpfen. Aber wir wissen sehr gut, dass allein ein Schweigen der Waffen eben noch kein Frieden ist.
Eule: Haben Sie Verständnis für diejenigen Menschen, die sagen, eigentlich wurde in den letzten Jahren und im Jahr 2025 viel zu wenig verhandelt, um zu einem Waffenstillstand zu kommen, der ja einem Friedensschluss vorausgehen muss?
Elsner: Darüber kann man natürlich sehr lange philosophieren. Wir brauchen ein Verständnis dafür, dass eine Waffenruhe, wie sie sich Russland vorstellt, keine Waffenruhe wäre, in der auch wirklich die Waffen schweigen. In unseren manchmal sehr aufgeheizten Diskussionen sehen wir viel zu wenig, dass die Ukraine schon seit mehreren Monaten sehr klar sagt: Wir sind bereit dazu, aufzuhören zu kämpfen, wenn die russische Seite aufhört zu schießen.
Dieser Krieg könnte sofort beendet werden, wenn Russland ihn beenden wollen würde. Doch parallel zu allen Waffenstillstandsverhandlungen wird von Russland umso schärfer geschossen. Wir beobachten in den vergangenen Monaten, dass gerade während der Phasen des Verhandelns die Zahl der russischen Drohnenangriffe, der Terror auf die zivile Infrastruktur, enorm ansteigt.
Eule: Spielt die Religion, spielen die Kirchen im Jahr 2025 im Ukraine-Krieg überhaupt noch eine Rolle?
Elsner: Im Kriegsgebiet spielen sie sowohl auf russischer und als auch auf ukrainischer Seite weiterhin eine große Rolle. Die russisch-orthodoxe Kirche ist nach wie vor ein wichtiger Akteur für die Mobilisierung der russischen Bevölkerung, für die Legitimation des Krieges und die Propaganda. Patriarch Kyrill, aber auch die Kriegspriester, die russischen Militärgeistlichen, spielen eine große Rolle dabei, die Menschen irgendwie bei der Stange zu halten. Den Kirchen in Deutschland, die nach wie vor diese Kirche als Kirche anerkennen, kann es daher nicht egal sein, was da passiert.
Auch in der Ukraine hat sich die religiöse Lage noch einmal zugespitzt: Im August 2024 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, die in Gemeinschaft mit dem Moskauer Patriarchat stand, sehr stark unter Druck setzt. Der Konflikt zwischen den orthodoxen Kirchen in der Ukraine ist auch ein Einfallstor für russische Propaganda.
Eule: Sie hatten die Vorgänge ja bereits zeitnah kritisiert. Eine andere Frage ist, wie die Religionen insgesamt in der Ukraine agieren. Es gibt in der Ukraine einen Rat aller Religionen, in dem auch jüdische und muslimische Glaubensgemeinschaften Mitglied sind. Dieser Religionsrat stand bisher an der Seite der Regierung, wenn es um die Fortsetzung des Verteidigungskrieges ging. Gibt es auch Religionsgemeinschaften im Land, die sagen, es wird jetzt Zeit, Konzessionen gegenüber Russland zu machen?
Eule: Für den Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften ist die Unterstützung der Verteidigung weiterhin die offizielle und auch eine sehr offensiv vertretene Position. Dieser Rat sieht sich als ein ganz wichtiges diplomatisches Instrument der Ukraine. Die Religionsvertreter sind sehr häufig international unterwegs, vor allem auch in den USA. Sie verstehen, dass sie gerade in den evangelikalen Gruppen dort potenziell starke Partner haben. Man versucht, diese von der ukrainischen Position zu überzeugen, um dadurch Einfluss auf die Trump-Regierung zu gewinnen. Ich glaube, auch nicht ganz unerfolgreich.
Aber es gibt inzwischen auch kleinere Religionsgemeinschaften in der Ukraine, die in der Frage der Kriegsführung kritischer gegenüber ihrer eigenen Regierung sind. Dabei geht es allerdings nicht um die Frage, ob die Ukraine Kompromisse mit Russland eingehen sollte. Davon sind alle sehr weit entfernt. Wir sehen aber, dass die Ukraine eher restriktiv mit der Wehrpflicht umgeht und dies besonders kleinere Religionsgemeinschaften betrifft, die grundsätzlich gegen den Dienst an der Waffe positioniert sind. Es werden zunehmend Wehrdienstverweigerer inhaftiert, vor allem von den Zeugen Jehovas, aber auch aus baptistischen Gemeinden und der pentekostalen Bewegung. Diese Position wird im Religionsrat nicht repräsentiert und taucht auch kaum in der ukrainischen Öffentlichkeit auf. Internationale Organisation wie Forum 18 kritisieren diese Entwicklung aber deutlich, die ja die Gewissens- und Religionsfreiheit betrifft.
Eule: Täuscht der Eindruck, dass nach dem Tod von Papst Franziskus mit Leo XIV. der Ukraine-Krieg aus dem Fokus des Vatikans gerückt ist?
Elsner: Mein Eindruck ist, dass die ursprünglichen vatikanischen Initiativen von der Realität eingeholt wurden. Direkt mit seinem Amtsantritt hatte der neue Papst eine Initiative gestartet: Wir erinnern uns vielleicht an die Bilder, wie Selensky mit Donald Trump im Petersdom saß. Leo hat auch den Vatikan als neutralen Verhandlungsort angeboten. Er ist dann von den Russen zurechtgewiesen worden, dass der Vatikan keine Option für sie ist.
Ich finde, dass man sich danach auch nicht weiter daran abkämpft, ist vernünftig. Für die russische Seite und auch für die orthodoxen Kirchen hat die katholische Kirche längst nicht die Autorität, die sie in anderen Kontexten oder Weltregionen hat. In der Sache der verschleppten ukrainischen Kinder ist der Vatikan allerdings weiterhin aktiv. In den letzten Monaten hat sich hier auch etwas bewegt, interessanter Weise auf Initiative der USA hin.
Eule: Wenn wir über verschleppte Kinder sprechen, reden wir über Kinder, die aus den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten kommen und die in russische Familien gegeben oder in Heime verbracht wurden. Manche von den Kindern sind inzwischen aufgrund von diplomatischen Initiativen zurückgekehrt. Wie ist der aktuelle Stand?
Elsner: Die ukrainische Regierung spricht von ca. 20.000 Kindern, darunter ca. 8.000-10.000 namentlich identifizierbare Kinder. Russland spricht gar von 700.000 ukrainischen Kindern, die man in Russland „aufgenommen“ habe. Zunehmend stellt sich die Frage, ob man diese Kinder überhaupt noch alle wiederfinden kann. Wir stehen jetzt im vierten Jahr, in dem Kinder verschiedenen Alters in Heimen untergebracht sind mit einer relativ starken Gehirnwäsche, was ihre eigentliche Heimat und ihre richtigen Familien angeht. Sie haben teilweise andere Namen bekommen. Das ist sehr, sehr dramatisch und deshalb gibt es auch einen Zeitdruck, sich um diese Frage zu kümmern.
In diesem Jahr hat sich bemerkenswerter Weise Melania Trump für die Kinder eingesetzt. Sie hat Putin einen herzerweichenden Brief geschrieben, dass er sich bitte um das Wohl der Kinder kümmern soll. Sie hat wohlgemerkt nicht explizit von entführten oder deportierten Kinder geschrieben. Zuletzt gab es immer wieder kleine Gruppen von Kindern, die zurückkehren durften.
Eule: Die ukrainische Diaspora ist nach der syrischen die größte in Deutschland. Es gibt gelegentlich auch Rückkehrer, aber es gibt viele Familien, deren Kinder hier in Deutschland ihre Schul-, Ausbildungs- und Studienzeit erleben. Die ukrainische Diaspora ist Teil unseres Landes geworden und bleibt es auch?
Elsner: Ja, das passiert so ein bisschen unter dem Radar, habe ich den Eindruck. Gerade Familien mit Kindern hatten bereits seit 2022 ein großes Interesse daran, sich gut zu integrieren. Und das haben sie größtenteils sehr gut gemeistert. Die Kinder gehen in die Schulen, die älteren Kinder fangen an zu studieren, die können inzwischen alle fließend Deutsch. Die Ukrainer:innen sind gut in den Arbeitsmarkt integriert.
Eine Rückkehr, glaube ich, wird immer unwahrscheinlicher für einen großen Teil dieser Menschen. Auch gab es zwischenzeitlich immer noch mal neue, kleinere Wellen, als die Ausreisebeschränkungen für junge Männer gelockert wurden zum Beispiel. Da gab es natürlich sofort einen Peak an der Stelle, dass mehr junge Männer ausgereist sind, die dem Wehrdienst entgehen wollten.
Eule: Wie geht es weiter mit der Orthodoxie? In den USA und Westeuropa beobachten wir, dass sie für eine Gruppe vor allem von jungen Männern durchaus anziehend ist. Ich nehme an, wegen der traditionellen Liturgie und weil klar ist, dass man dort nicht von einer Pastor:in darauf hingewiesen wird, wie wichtig eine Spende für #United4Rescue sei.
Elsner: Ich halte diese Suche nach einfachen Antworten für ein Phänomen unserer modernen oder post-modernen Welt, in der es auch große Verunsicherungen gibt. Die Orthodoxie ist geradezu prädestiniert dazu, zum Beispiel vereindeutigend zu erklären, wie Männer und Frauen zu leben haben. Im Gottesdienst gibt es keine neuen Lieder oder Gebete, die sich irgendjemand ausdenkt, sondern das ist alles – angeblich – 2000 Jahre alt. Daran kann man sich festhalten.
Die Orthodoxie insgesamt nehme ich aktuell jedoch als sehr zerstritten wahr. Dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus wird vorgeworfen, längst „katholisch-grün-versifft“ zu sein. In der russisch-orthodoxen Kirche wird er im Grunde als Häretiker gesehen, weil er viel zu liberal denkt, weil er Menschenrechte gut findet, weil er sich mit dem Papst lieber trifft als mit seinem Moskauer Bruder Kyrill. In dem Teil der Orthodoxie, der zu Moskau hält, sieht man sich als Kämpfer gegen den Antichristen, als Katechon, der die Welt vor dem Untergang bewahrt. Von einer geeinten Orthodoxie können wir schon lange nicht mehr sprechen, weil diese beiden Richtungen sich unversöhnlich gegenüberstehen. Sie finden auch keinen Weg und kein Forum mehr, über diese Differenzen zu sprechen – auch wenn man das natürlich nach außen hin nicht so gerne sagt.
Eule: Diese Teilung sieht man ja auch beim Termin des Weihnachtsfestes. Das Ökumenische Patriarchat feiert wie die Westkirche am 24./25. Dezember, die russisch-orthodoxe Kirche weiterhin nach dem julianischen Kalender. Was können Christ:innen in diesem Advent im Blick auf ihre ostkirchlichen Geschwister tun?
Elsner: Der beste Weg ist, wirklich den Kontakt zu den ukrainischen Menschen bei uns im Land zu suchen. Wenn man Solidarität zeigen möchte, wenn man verstehen möchte, was bei diesen Menschen passiert, wie sie denken, wie sie den Krieg und auch unsere politischen Debatten über Frieden und Sicherheit sehen, müssen wir nicht in die Ukraine reisen. Wir können hier mit Ukrainer:innen sprechen und leben – vielleicht gerade auch zu Weihnachten, das ein Fest ist, an dem die Menschen froh sind, wenn sie ihre Erfahrungen, ihre Traditionen teilen können.
Im aktuellen Ukraine-Update des „Eule-Podcast“ erklärt Regina Elsner, wie es um die Religionsfreiheit in der Ukraine und in Russland steht, welche Probleme die orthodoxen Kirchen gegenwärtig haben und wie Friedensperspektiven für die Ukrainer:innen aussehen können. Regina Elsner war im „Eule-Podcast“ bereits direkt zu Kriegsbeginn am 25. Februar 2022, im Dezember 2022, Dezember 2023 und Dezember 2024 zu Gast.
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Das Interview führte Eule-Redakteur Philipp Greifenstein.
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