Barrikade in Poltava, Foto: Margarita Marushevska (Unsplash)

Ukraine: Wie leben die Menschen während des Krieges?

Wie sieht die Lebensrealität der Ukrainer:innen aus? Die Kyjiwer Autorin Maria Karapata beschreibt Alltag, Probleme und Hoffnungen der Menschen in der Ukraine.

Wahrscheinlich hat sich kaum jemand vorgestellt, dass so ein grausamer Krieg im 21. Jahrhundert in Europa ausbrechen könnte, wie er sich seit dem 24. Februar in der Ukraine entfaltet. Dabei muss man aber verstehen: Der Krieg in der Ukraine hat tatsächlich schon noch im März 2014 angefangen, als Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert hat und später die regulären russischen Truppen die östliche Grenze der Ukraine überschritten haben. Dafür nutzten die Weltmedien verschiedene Begriffe, wie „antiterroristische Operation“, Ukraine-Konflikt oder Ukraine-Krise. Seit dem 24. Februar besteht kein Zweifel daran, dass es tatsächlich um eine russische Invasion in die Ukraine geht.

Etwa 9,3 Millionen Menschen haben von Februar bis August 2022 die Ukraine verlassen, und 7,4 Millionen sind zurückgekehrt, so der staatliche Grenzdienst. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine beträgt die Zahl der Binnenflüchtlinge in der Ukraine nach den offiziellen Angaben vom Ministerium für Sozialpolitik etwa 4,6 Millionen, inoffiziell könnten die Zahlen noch höher sein. Die Lebensrealität der Ukrainer und Ukrainerinnen unterscheidet sich je nach Gebieten stark, aber es gibt keinen einzigen Menschen in der Ukraine, der vom Krieg nicht betroffen ist.

Unterschiedliches Leben in einem Land

Mykolajiw, Cherson, Charkiw, Saporischschja, Dnipro, Donezk, Luhansk – das sind die Gebiete, die entweder ganz nah an der Frontlinie liegen oder teilweise von russischen Truppen besetzt sind. Die Menschen in diesen Regionen erleben täglich Raketenangriffe. Zerstörungen von Unternehmen, Industrie- oder Infrastrukturobjekten gehören zum Alltag, leider ebenso wie die menschlichen Verluste.

Beispielsweise bleibt Mykolajiw, der südliche Vorposten der Ukraine, seit April ohne Trinkwasser. Die Stadt lebt vom gelieferten Wasser aus Odesa oder speziellen Verteilungspunkten, an denen man Wasser bekommen kann. Im nordöstlichen Bezirk Saltivka in Charkiw kann man kaum ein nicht zerstörtes Gebäude finden, während viele Charkiwer aus anderen Stadtteilen trotzdem darauf verzichten, ihr Zuhause zu verlassen.

Die Städte, die von der Frontlinie weiter entfernt sind, leiden nicht so stark und nicht so oft unter den Luftangriffen. Seit Oktober gibt es aber massive russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine. Derzeit kommt es in vielen Gebieten zu geplanten oder ungeplanten Strom- und Wasserausfällen, die bis zu zwölf Stunden dauern können.

Seit Bestehen des Kriegsrechts, das seit dem 24. Februar landesweit gilt, muss man noch weitere zahlreiche Beschränkungen berücksichtigen. Beispielsweise gilt eine Ausgangssperre am Abend und in der Nacht, zumeist von 23-24 Uhr bis 5-6 Uhr. Will man sich in dieser Zeit draußen aufhalten, muss man eine spezielle Bescheinigung dabei haben. Universitäten und Schulen laufen jetzt im gemischten Ausbildungssystem, bei dem man sowohl online als auch offline studieren und lernen kann. Falls die Kinder und Studierenden die Ausbildungseinrichtung vor Ort besuchen, muss die Schule bzw. die Universität einen Luftschutzbunker haben. Während der Luftalarmes schließen alle Geschäfte zu, die U-Bahn-Stationen dienen als Schutzbunker.

Über das Leben in den russisch besetzten Gebieten können wir nur Vermutungen anstellen oder die Geschichten jener Menschen erzählen, denen es gelang, aus diesen Territorien zu fliehen. Die ganze Welt war von der Grausamkeit und totalen Unmenschlichkeit erschüttert, die sichtbar wurden, als die russischen Truppen das Gebiet um Kyjiw verlassen hatten. Genauso wie in Butscha oder Irpin wurden die Meschen gefoltert, vergewaltigt oder getötet. In den befreiten Städten wie Isjum, im Charkiw-Gebiet und Lyman, im Donezk-Gebiet wurden Massengräbern gefunden. Das sind die wirklichen Spuren, die die russische Welt hinterlässt.

Herausforderungen im Ausland

Die Ukrainer und Ukrainerinnen, die ausgereist sind, haben dafür unterschiedliche Gründe. Einige sind buchstäblich in Hausschuhen und Sporthosen aus dem Haus rausgelaufen, einfach so in den Bus reingesprungen und weggefahren. Andere haben existenzielle Angst, was in Anbetracht der täglichen Luftalarme und Rakettenangriffe leicht zu erklären ist. Andere Menschen sind überhaupt ohne Zuhause geblieben und versuchen, ihren Kindern das normale Leben zu ermöglichen.

Einerseits sind die Ukrainer im Ausland keiner Lebensgefahr ausgesetzt, andererseits müssen sie unterschiedliche Herausforderungen meistern, vom Erlernen einer Fremdsprache bis zu Heimweh und Abwesenheit der Geliebten daheim. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es uns im Ausland psychologisch schlechter geht. Jede Nachricht aus der Heimat wird akut wahrgenommen, aber kann nicht objektiv eingeordnet werden. Man ist jedes Mal genervt und gestresst, wenn Familienmitglieder in der Ukraine nicht erreichbar sind.

Surrealistisches Leben

Der Alltag von Ukrainern und Ukrainerinnen ist sehr unterschiedlich. Einige sitzen rund um die Uhr in den Kellern, andere gehen zur Arbeit ins Büro. In einigen Gebieten ist man gezwungen, Kinder in die russische Schule einzuschreiben. In anderen baut man Modulstädte für die Binnenflüchtlinge auf. Wieder anderswo wacht man von den Explosionen auf.

In den Sozialen Netzwerken kann man die ganze Palette unseres jetzigen Lebens beobachten: Die zerstörten Häuser nach dem nächtlichen Raketenangriff, den schönen Herbst im Park, Kontonummern für Spenden, Generatoren für die ukrainischen Soldaten, eine Geburtstagsfeier, Zahlen der nach Russland deportierten Kinder, Memes über den Krieg. So eine surreale Realität herrscht jetzt in der Ukraine.

Wir leben weiter, bringen Kinder zur Welt, arbeiten, verlieben uns. Jede und jeder trägt zu unserem Sieg bei. Diejenigen, die sich nicht tatsächlich in der Kampfzone befinden, sind an den wirtschaftlichen, kulturellen, diplomatischen, freiwilligen Fronten tätig. Die ukrainischen Streitkräfte erobern die ukrainischen Territorien zurück, einige Menschen kehren nach Hause zurück. Aber jeder von uns versteht, dass wir für den kleinsten Schritt zu unserem Sieg einen enormen menschlichen Preis zahlen.

Trotz der vielen Beschränkungen, die man berücksichtigen muss, gibt es auch Menschen in der Ukraine, die relativ friedlich leben können. Aber das ganze Land ist ein Kriegsgebiet, da jeder Verletzte oder Getötete als persönlicher Verlust wahrgenommen wird.

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