Unter Heiden (18): Kohlistan
In einer neuen Ausgabe der Kolumne Unter Heiden geht es um den gerade verstorbenen Helmut Kohl und seine Bedeutung für Ostdeutschland. Eine persönliche Erkundung.
Am letzten Freitag ist Helmut Kohl verstorben. Ich saß in der Straßenbahn und fuhr durch meine Heimatstadt Dresden, als meine Twitter-Timeline sich mit Nachrichten vom Tode des Altkanzlers füllte. Auf der Rückfahrt in der Nacht laß ich dann Kristina Schröders Nachruf auf Kohl bei ZEITonline. Ich musste daran denken, dass auch in meinem Jugendzimmer einmal ein Wahlplakat Kohls stand.
1998 kann das unmöglich gewesen sein. Da war ich zehn, kam gerade aufs Gymnasium und interessierte mich noch nicht für Politik. Also 2002. In jenem Sommer gab es in Dresden die Jahrhundertflut, der Irak-Krieg und Schröders Ablehnung desselben waren Wahlkampfthema. Ich war vierzehn und Stoiber holte sich den erst drei Jahre zuvor in Ungnade gefallenen Altkanzler als Wahlkampfhilfe in den Osten.
Kohl, die Lichtgestalt
Wie unbeliebt muss Stoiber im Osten eigentlich gewesen sein, dass man glaubte, den durch die CDU-Spendenaffäre derart in Misskredit gebrachten und von Angela Merkel eben noch abgesägten Kohl herbeirufen zu müssen? Und warum eigentlich war der eine so gründlich unten durch unter Heiden, der andere trotz allem Lichtgestalt? Beide Wessis, beide dialektal herausgefordert, beide mit einem bemerkenswerten Ego gesegnet?
Ich weiß gar nicht, warum genau ich mir das Wahlplakat eigentlich abmontiert hatte. Es war auch nicht das einzige Wahlplakat in meinem Zimmer. Auf dem Schrank stand das unverschämt gut fotographierte Joschka-Porträt, mit dem die Grünen ihren Wahlkampf bestritten. Das mit den Händen im Gesicht. Hätte ich wählen dürfen, CDU und den Stoiber bestimmt nicht. Grün vielleicht schon, der Vierzehnjährige in mir findet Joschka noch heute gut. So ist das halt mit pubertären Charakteren. Ich bin also um das Grünwählen dank der Gnade der späten Geburt herumgekommen.
Kohl, der starke Mann
Dem Tode Kohls schlossen sich Nachrufe voll Dankbarkeit und Respekt an. Bürgerinnen und Bürger schreiben in Kondolenzbücher, was ihnen Kohl bedeutet hat. Lese ich den ehrerbietigen Nachruf auf WELTonline, rumort es in mir. Als ob Kohl alleine die Einheit, ja jede Geschichte, zu verdanken sei.
In der Erinnerung an Kohl versteckt sich doch im Kern die Überzeugung, Geschichte werde von starken Männern gemacht. Auch so eine pubertäre Haltung. Klar braucht es diejenigen, die Zeitenläufe nicht untätig an sich vorüber ziehen lassen, die beherzt Möglichkeiten ergreifen, die nicht alle sehen. Und so einer war Kohl? Zumindest ’89.
Dafür kann man dankbar sein. Doch die Einheit verdankt sich nicht dem Willen und Wirken einer Person. Keine Einheit, ohne dass da ein Teil des deutschen Volkes, der im Osten, „rübermachen“ wollte, d.h. schlicht und einfacher als jede Reform-Utopie es ermöglichte, bei der BRD dabei sein. Kohl hat auf den Wunsch der Mehrheit der Bürger der DDR reagiert.
Er hat diese Mehrheit schon zum Maßstab seines politischen Handelns erklärt, als andere sie noch nicht sahen oder sie nicht wahr haben wollten. In einigen Nachrufen ergibt sich das Bild, als ob der Machtpolitiker Kohl mit der Einheit eine Ausnahme von seiner normalen Politik machte. Das ist Unfug. Auch mit der Einheitspolitik blieb er dem verpflichtet, was er für die Meinung des einfachen Mannes hielt.
Jasper von Altenbockum von der F.A.Z., der Kohl noch im Tode meint vor den Intellektuellen des Landes in Schutz nehmen zu müssen, hat Recht, wenn er schreibt: „Alle anderen Kanzler haben nicht viel anders regiert, nur eben (noch) nicht so lange.“ Mit Kohl war keine Revolution zu machen. Das beruhigte Ost- wie Westdeutsche gleichermaßen. Erstere vertrauten sich ihm an, weil er ihnen „blühende Landschaften“ versprach. Letztere vertrauten ihm die Mittel für den „Aufbau Ost“ an, ruhigen Gewissens, dass sich für sie nichts ändern würde.
Der ewige Kanzler
Alle Kanzler haben nicht viel anders regiert. Das heißt auch, es hätte jemand anderes Kanzler der Bundesrepublik sein können. Ein altes vulkanisches Sprichwort lautet: „Nur Nixon konnte nach China gehen“. Und meint, dass es zu Zeiten einen ehemaligen Feind braucht, der schlussendlich Frieden schließt.
In dieser Logik kann nur Boris Johnson den Brexit stoppen, Trump das Weltklima retten, eine CDU-Regierung die Ehe für alle einführen. Doch steckt in diesem Widerspruch eine Wahrheit, nämlich die, dass es den glaubwürdigen Konvertiten braucht, der die Kraft hat, die Seinen dahin mitzunehmen, wohin sie (noch) nicht wollen.
Unter diesem Gesichtspunkt sind die sechzehnjahre Kanzlerschaft Kohls enttäuschend. Er mag der politischen Klasse seines Heimatlandes ’89 vorausgeschritten sein, die Menschen aber waren schon immer da. ’89 bei der Einheit und auch später beim Euro. Kohl hat das Aussitzen weder erfunden, noch perfektioniert, er hat regiert. Regiert, wie in einer Demokratie machterhaltend regiert werden muss: am Willen des Volkes entlang. Merkmale solchen Vorgehens sind Opportunismus und abwartende Vorsicht, nicht Prinzipientreue und Pioniergeist.
Die lange Regierungszeit kann man bewundern, wenn man sie für sich selbst genommen beeindruckend findet. Wer nicht ganz so auf Quantität, sondern mehr auf Qualität steht, der wird bei Kohl nicht fündig werden. Zum Schluss hat ihn auch sein Gespür für den „Volkswillen“ verlassen. Seine Partei und politische Freunde hat er mit in den Abgrund gerissen. Stil sieht anders aus.
Einigkeit und Recht und Freiheit
Die Einheit wäre auch ohne Kohl gekommen. Dass sie so und nicht anders gekommen ist, dafür kann Kohl danken, wer dazu Anlass sieht. Und Recht und Freiheit? Kohl für Beides zu danken scheint mir der Geschichte Hohn zu sprechen.
Das Recht haben sich die Bürger der DDR selbst gegen den Überwachungsstaat erstritten. Die Wachsamen unter ihnen haben die Bedeutung der Aufarbeitung verstanden und dafür gesorgt, dass Unrecht nicht verschwiegen wird, diesmal nicht. Helmut Kohl war kein Aufarbeiter, nicht des systemischen und auch nicht des persönlichen Unrechts der DDR. Sein Verhältnis zur noch jungen Gauck-Behörde war schwierig, freundlich formuliert. Was DDR-Geschichte angeht, neigte Kohl zum Denken in Schwarz und Weiß und zum Schlussstrich, den Sieger nun einmal zu ziehen haben.
Auch die Freiheit haben sich die Ossis selbst erstritten. Zuerst die Freiheit der Herzen, die sich die damals Wenigen noch lange erhalten haben. Dann die Freiheit von der Mauer. Viele sind mit dieser Freiheit nicht klar gekommen und dafür ebenso verantwortlich, wie all diejenigen, die etwas aus ihr zu machen verstanden. Die einen können weder Kohl noch irgendjemanden sonst für ihre Misere verantwortlich machen, die anderen müssen ihm darob keine Dankbarkeitsadressen entbieten.
Die Freiheit haben auch die Muttis und Vatis erstritten, die nach der Wende weiter zur Arbeit gingen, zur x-ten Fortbildung, auf Montage in den Westen oder aufrechten Haupts aufs Amt. Die Freiheit haben sich die Jungen erworben, die hier im Osten oder „drüben“ ihr Glück schmiedeten.
Blühende Landschaften
„Dem Ossi“ ist Kohl nicht zuerst als Birne erinnerlich, wie sie jetzt immer wieder emphatisch beschworen wird, sondern als Kanzler der Einheit und als Urheber des Spruchs von den blühenden Landschaften. Hier bitte ohne Anführungszeichen. Niemand hat diesen Satz ironisch verstehen wollen. Man kann die Ossis naiv zollen, aber sie haben diesem Mann und seinem Versprechen getraut.
Angela Merkel sagte anlässlich einer Trauerstunde für Kohl in ihrer Fraktion, dass dieses Versprechen gehalten worden wäre, Widersprüchen und Spott zum Trotz. Ich will hier gar nicht auf Jammer-Ossi machen, sondern vielmehr auf Mecker-Ossi. Denn es ging nie, oder hätte nie um Fußgängerzonen, Häuserfassaden, Leuchtturmprojekte gehen sollen.
Ja, dim Osten sieht es schnieke aus. Besser als vielerorts im Westen. Ich nehme jetzt mal willkürlich Mainz als Beispiel, weil ich da erst, na ja, vor zwei Jahren war. Mainz sieht an vielen Ecken scheiße aus. Es gibt da Einkaufsstraßen, die haben das letzte Mal in den 70er-Jahren so etwas wie eine Grundsanierung erlebt. Die Straßen sind in erbärmlichem Zustand. Die Unigebäude versprühen schon rein bautechnisch den Geist von ’68.
Und dabei handelt es sich bei Mainz um eine Landeshauptstadt von 200.000 Einwohnern. Wie mag es erst in den viel kleineren Städten aussehen? Ich weiß es, weil ich als Ossi ab und zu im Westen bin. Häufiger jedenfalls, als es andersherum viele Wessis bisher nach Berlin und vielleicht noch Leipzig oder Dresden geschafft haben.
Die Innenstädte mittelgroßer Städte in Westdeutschland verströmen den Duft von Vernachlässigung. Sie geben Zeugnis davon, dass viele Städte hoch verschuldet sind und am falschen Ende des großen Geldstroms hocken. Und die vielen Ausländer erst!
Ja, ich erspare mir diesen blöden Satz nicht. Er wird ja von euch Wessis immerzu gesagt, wenn ihr in den Osten und in unsere Städte kommt, in denen man nach Menschen, die keine Bio-Deutschen sind, fahnden muss, außer man möchte gerne Gemüse kaufen oder Döner essen. Ich spüre eure Erleichterung: Endlich keine Kopftuchträgerinnen mehr! So muss Deutschland sein!
Das bessere Deutschland
Ja, der Osten ist schnieke. Aber der äußerlich abgewrackte Westen hat eine Zukunft, die es hier nicht gibt. Was nützen die sanierten Fassaden, wenn hinter ihnen nur ab und zu ein Ömchen hockt? Was nützen die aufgehübschten Fußgängerzonen, wenn die einzige Lebensäußerung das Rattern der Rollatoren ist?
Nüscht.
Diese Karte zeigt die Projektion von möglichen Jung- und Erstwählern bei der kommenden Bundestagswahl. Sie zeigt: Es gibt im Osten sehr wenige junge Menschen. Es gibt hier generell weniger Menschen, schon klar. Und es gibt Ausnahmen: Leipzig und Halle sind dunkel eingefärbt. Jena und Erfurt, auch Dresden und Rostock heben sich ab. Klar, da gibt es Arbeit und Unis.
Aber sonst? Dort wo jetzt kaum mehr ein junger Mensch wohnt, da zieht auch keiner mehr hin. Im Gegenteil, die paar jungen Leute werden, so sie denn können, auch weggehen. Niemand sollte ihnen daraus einen Strick drehen. Der demographische Wandel schlägt voll auf die demokratische Entwicklung durch. Man darf schon fragen, was schief gelaufen ist, dass es in der Fläche nirgendwo in Ostdeutschland Arbeit und Perspektive für junge Menschen gibt.
Alternativlosigkeit
Soll das alles geschichtliche Prädestination sein? Hätte man sich nach der Schließung der Kombinate und VEBs nicht mehr einfallen lassen können als die Erschließung von Gewerbegebieten? An beiden haben Leute hervorragend verdient. Immer mit dem Argument der Alternativlosigkeit vor der Brust, haben im Osten viele Glückritter ihr Geschäft gemacht. Und die Profis aus Politik und Wirtschaft der BRD haben sie gewähren lassen oder noch tatkräftig unterstützt.
Es geht dabei nicht nur um den Mittelständler, der sich ein Filetstück von der Treuhand hat zuschustern lassen. Diejenigen, die heute noch an Bord sind – eine Minderheit! – stehen zum Osten und ihren Leuten. Es geht auch um Konzerne, die sich jede Ansiedlung, jedes „Bekenntnis zum Standort“, jede neue Fertigungshalle mit Subventionen vergolden lassen. Auch hier wieder die Rede von der Alternativlosigkeit, anders ließe sich im internationalen Wettbewerb halt nicht bestehen. Wirklich?
Sehen so blühende Landschaften aus? Doch nur, wenn man sich von der Blüte bezirzen lässt und darüber verdrängt, dass die Pflanze von der Wurzel her vertrocknet. In der Fläche fehlt Arbeit. Deshalb fehlen die Menschen, die hier in Zukunft leben werden. Es fehlen die Jungen, die Fähigen, die Mutigen und die Migranten.
Der Osten stirbt aus. Bleiben werden ein paar Großstädte, die schönsten des geeinten Vaterlandes. Dazwischen viel Börde, viel Grün, viel Nichts. Ich weigere mich, so zu tun, als ob die Entwicklung des Ostens zwangsläufig so laufen musste. Nein, viel ist auch so gekommen, weil die Ossis es nicht besser wussten und weil sie schlecht beraten wurden. Wer sonst, als der Kanzler, der bis 1998 regierte, sollte dafür auch verantwortlich sein?
Die wilden 90er sind vorbei. Viele Probleme, die damals grassierten und beschwiegen wurden, gibt es noch heute, auch wenn sie sich verändert haben. Auf diese Probleme der Zivilgesellschaft haben die Regierenden damals keine Antwort gefunden. Ja, es mangelte schon an einem angemessenen Wort zu Pogromen wie in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda, zur Massenarbeitslosigkeit, zum Alkoholismus. Ein Wort der Einsicht und Erkenntnis, es fehlt bis heute.
Ich käme heute nicht mehr auf die Idee, mir ein Kohlplakat in die Wohnung zu holen. Vielen hier im Osten liegt bei der Betrachtung der Nachrufe, Ehrerbietungen und Danksagungen ein stetes „Aber!“ auf der Zunge. Es wird selten geäußert, so sind wir halt. Aber schaut mal genau hin, ob da wirklich ein geeintes Land eines seiner Helden gedenkt oder ob nicht auch die Trauer um den „Kanzler der Einheit“ eine recht einseitige Geschichte ist.
Die Kolumne Unter Heiden schreibt Philipp seit 2013. Die bisherigen Ausgaben findet ihr weiterhin bei theologiestudierende.de oder auf Philipps Blog.