Kolumne Unter Heiden

Unter Heiden (25): Strukturwandel der Nichtöffentlichkeit

Was alle betrifft, muss alle angehen. Wie steht es um die Zivilgesellschaft im ländlichen Raum, nicht nur im Osten? Wie lebt es sich unter Heiden ohne Öffentlichkeit?

Ein ehemaliger Pfarrer und Bürgermeister liest aus seinem neuen Buch und berichtet von den Bedrohungen, denen er und seine Familie sich ausgesetzt sehen, seitdem er sich für Flüchtlinge einsetzt. Gemeinsam mit seiner Frau hat er den Preis der Lutherstädte „Das unerschrockene Wort“ erhalten. Zehn Menschen hören zu, darunter Ehrenamtliche von „Sangerhausen bleibt bunt“, die Migrationsbeauftragte des Landkreises, die einladende Bürgermeisterin und ich.

Ein Bundestagsabgeordneter steht nach dem Gottesdienst in einer offenen Gesprächsrunde Rede und Antwort, von den Gottesdienstbesuchern bleiben trotz Sekt und Kuchen nur etwas mehr als ein Dutzend dabei.

Zum Gottesdienst mit dem Ratsvorsitzenden der EKD kommen etwas mehr Gottesdienstbesucher*innen als üblich, etwa 80 Personen. Bei Kaffee und Kuchen lässt sich ein bisschen smalltalken. Die Sorge, Leute müssten vielleicht stehen, ist völlig unbegründet.

Zu einer Diskussionsveranstaltung zum Thema Digitalisierung kommt niemand. Zwei Stadträte und ein Stadtratskandidat der gastgebenden Partei sitzen mit den Podiumsteilnehmern und zwei Lokalreportern in fast vertraulicher Runde zusammen. Das Gespräch ist angeregt, aber wen interessiert das schon?


Zu allen Veranstaltungen hier in Lutherstadt Eisleben wurde öffentlich eingeladen. Die Mitteldeutsche Zeitung informiert im Regionalteil über Ort, Zeit und Inhalt der Veranstaltung. Verteiler werden angeschmissen: Je nach Veranstaltung erhalten über 600 Personen ein persönliches Mailing. Flyer werden gedruckt und verteilt. Persönliche Einladungen per Brief verschickt. Und auch die Sozialen Medien, allen voran Facebook werden genutzt. Das hier ist nicht das Lummerland.

In Lutherstadt Eisleben wohnen über 20.000 Menschen. Und es ist nicht so, dass es nichts zu besprechen gäbe. Die Region ist mit hoher Arbeitslosigkeit geschlagen. Junge Menschen wandern in die Städte ab, weil es zu wenig gut bezahlte Arbeit gibt. Gerade in den kleinen Ortschaften rund um die Lutherstadt macht sich das Gefühl des Abgehängtseins breit.

Wenn die Welt zu Gast ist, wie zum Reformationsjubiläum oder in Person von Politiker*innen, Kirchenfürst*innen oder anderer Promis, bleibt der Eisleber zuhause. Einzige Ausnahme: Margot Käßmann. Als die 2016 zum Regionalkirchentag im Zentrum Taufe sprach, war die Hütte voll. Leute mussten stehen.

Überhaupt, der Regionalkirchentag! 2016 habe ich noch die Stirn gerunzelt. Ist das nicht ein bissi viel Aufwand für so wenig Ertrag? Auf dem Marktplatz präsentierten sich alle möglichen Vereine und Initiativen, auf der großen Bühne traten am Freitagabend „Lift“ auf – und einige Eisleber sind sogar gekommen. Die Ostrock-Band, Margot Käßmann, das Feuerwerk. Es wurde einiges geboten. Klar, die anderen Bibelarbeiten waren leer. Aber immerhin.

2019 schaue ich auf drei Jahre Lutherstadt Eisleben in der Nichtöffentlichkeit zurück. Der sommerliche Regionalkirchentag 2016 sticht heraus, lässt man einmal „die Wiese“ beiseite – das größte Volksfest Mitteldeutschlands, das jeden Herbst hier stattfindet.

Einmal feste drücken für den Notruf an die Volkspolizei, Foto: Philipp Greifenstein

Zur Demokratie gehört Öffentlichkeit. Ohne diesen frischen Luftzug bleibt Politik im Hinterzimmer, undurchsichtig. Schlecht verkauft obendrein. Was machen die da eigentlich? Was alle betrifft, muss von allen entschieden werden. Das ist doch zumindest als Einladung zu verstehen. Und als Verpflichtung an gesellschaftliche Akteure wie Parteien und auch die Kirche, ihre Angelegenheiten im Angesicht der Öffentlichkeit zu betreiben. Was aber, wenn die Öffentlichkeit ihr Antlitz verbirgt, die Einladung ausgeschlagen wird?

Das hier ist nicht der Normalfall, darf es einfach nicht sein. Anderswo, im glorreichen Westen, aber auch in Städten mit mehr Bürgertum im Osten schaut es anders aus, ich weiß. Aber das hier ist auch deutsche Realität. Und sie greift um sich.

Wer kümmert sich um die res publica? Wer interessiert sich für mehr als das, was vor Augen steht? Wer ist Citoyen dieser (Stadt-)Gesellschaft? Vielleicht sind es ja die Mandatsträger*innen in Kreis- und Stadtrat, in den Ortschaftsräten? Über 100 sind das. 100 von 20000, das ist es vielleicht an Potential. Prozentual geht das ja noch. Kann es sein, dass alle am Gemeinwohl interessierten Leute schon gebunden sind? Dass die Zahl der Mandatsträger*innen die der Interessierten übersteigt?


Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk spreche ich diese Situation an. Es geht nicht vorrangig darum, deshalb kann man es leicht überhören. Ich spreche davon, dass hier alte Schulfreundeskreise, der Kirchenchor, vielleicht noch ein Schulförderverein das höchste der Gefühle der Vergemeinschaftung sind. Wo vertreten Menschen als Gruppe ihre Interessen?

Ich spreche auch davon, dass sich die Kirche überspannt, wenn sie das Forum dieser Gesellschaft sein will. Im Mansfelder Land sind knapp unter 10 % der Menschen Mitglied der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Das ist ein größeres Stück vom Kuchen, als es andere Vereine sich abzuschneiden vermögen. Aber über die realexistierende Aktivität dieser 10 % wird lieber nicht gesprochen.

Ich meine nicht den Gottesdienstbesuch, der hier gerade so leidlich ist wie anderswo auch in den evangelischen Kirchen. Ich spreche vom Organisationsgrad und der Kampagnenfähigkeit der evangelischen Ehrenamtskirche. Werden hier Gemeinden zusammengelegt, gibt es nicht einmal einen zünftigen Streit. Dafür waren Evangelen mal bekannt. Gemeindeleitung durch Ehrenamtliche bedarf des Bürgersinns.

Oder: Auch die Stadtgemeinde braucht den Bürgersinn der Christen. Sonst? Was ist eigentlich mit „Suchet der Stadt Bestes“ in Zeiten von Land-Demagogie und Abwanderung? Muss der Privatisierung des öffentlichen Lebens überhaupt gewehrt werden? Hat Kirche mit ihrem Auftrag, das Evangelium in alle Welt auszutragen, hier nicht ein berechtigtes Eigeninteresse, das zum Engagement für die res publica verpflichtet?

Doch nicht allein die Kirche: Was ist mit der Regionalzeitung, den Sportclubs, den Schuldirektor*innen, den wenigen Unternehmer*innen, den kommunalen und halb-kommunalen Betrieben, die hier die größten Arbeitgeber sind? Ist Politik wirklich nur Adressat von Beschwerden oder Partner bei der nächsten Wirtschaftsförderungsrunde?

Ohne Öffentlichkeit keine Mission. Aber eben auch keine Auflage mehr, keine Neukunden, keine Anwerbung qualifizierter Arbeitnehmer*innen, kein Stich gegen die Abwanderung. Was alle angeht, muss von allen entschieden werden. Wie weiter mit kommunalem Eigentum? Was erwarten wir von unseren freien und kommunalen Unternehmen? Machen wir hier dicht?

Vielleicht muss man die Nichtöffentlichkeit überhaupt erst einmal bejahen, um einen Umgang mit ihr zu finden. Das mit dem großen Forum klappt nicht, Podien werden nicht besucht. Das schließt aber andere Formate nicht aus. Mikroöffentlichkeiten wie Stammtische, persönliche Einladungen, spontane Interessengemeinschaften – vielleicht geht es ja so? Im Land der Vereine aber ist das schon arm. Und wer sorgt dafür, dass da nicht einfach nur wieder geklüngelt wird?


Sich mit der Nichtöffentlichkeit abzufinden fällt schwer, weil sie bis ins Private reicht. Kein Problem für die Eingesessenen, die sich am Grill im Garten des noch abzuzahlenden Eigenheims mit alten Schulfreunden treffen. Dort gibt es auch ein Klettergerüst und eine Schaukel für die Kleinen. Was machen die Neulinge, die von weiter her oder diejenigen wenigen, die die Kontingenz hierher verweht hat?

Was haben wir vor drei Jahren getan, als wir hierher ins Mansfelder Land nach Lutherstadt Eisleben kamen? Es ist ja nicht so, dass wir nicht gewarnt worden wären. Der Mansfelder ist berühmt für seine Unzugänglichkeit. Es gibt Grantler, die sind darauf so stolz wie der Berliner auf seine sprichwörtliche Schnauze. Dort wie hier gilt: Man kann sich nicht alles stolzreden. Unverschämtheit bleibt Unverschämtheit, und Desinteresse bleibt Desinteresse.

Als Reservoir für Sozialkontakte fällt die Kirchgemeinde hier wie viele im Land für junge Leute aus. Seit wir ein Kind im Kindergarten haben, haben sich wenigstens sporadisch Kontakte ergeben. Doch Beruf und Eigenheim rufen / warten. Schön, dass ein paar Ältere aus der Gemeinde zuweilen interessiert nachfragen. Eine Einladung zum Kaffee, zum abendlichen Wein, zur irgendwas? Keine einzige.

Ich will darüber nicht fänsen. Die Vikarin ist mit den zahlreichen Kursen gut ausgelastet gewesen. Wo sie qua Dienst mit dabei war, z.B. bei der Orga des Stadtteilfestes, hat man sie nicht vom Hof gejagt. Wenn Vikar*innen höchstens einmal drei Wochen am Stück in der Gemeinde sind, kann man sich den Anspruch Gemeindevikariat getrost stecken. Das Elternjahr hat unsere Zeit hier verlängert. Als junge Eltern sind wir aber auch nicht rausgesprungen. Sind wir hier jemals angekommen?

Was haben wir falsch gemacht? Was ist den Umständen geschuldet gewesen? Gehört das Desinteresse der Anderen zu diesen Umständen? Ist hier irgendjemandem ein Vorwurf zu machen, weil er sich nicht schert?

Von den Kolleg*innen der Vikarin und aus meiner Twitterblase höre ich Ähnliches. Und es geht noch wesentlich bedrückender, weshalb wir als Kleinfamilie beim Jammern Zurückhaltung walten lassen sollten. Wenn eine*r alleine auf dem Land hockt, weit weg von der Familie und von Freunden, im Stich gelassen von Kolleg*innen und denjenigen, die zu Beginn des Dienstes noch bekannten: „Schön, so jemand Junges wie Sie hier bei uns zu haben“. Einsamkeit im Kirchendienst, das ist ein Thema.

Wird hier eine Pfarrstelle ausgeschrieben, geht es zu wie in der Wirtschaft. Man kann schon froh sein, wenn sich überhaupt jemand bewirbt. Kann es nicht auch sein, dass es an diesen „weichen“ Faktoren liegt? Besonders wenn bei Kirchens das Gehalt nicht – wie überall sonst – im Vergleich zu anderen Gegenden abfällt.

Eine Schule in der Nähe, ein Kindergarten, ein Bahnhof und Autobahnanschluss, Straßen die zu Kaufhallen führen, ein vernüftiger Internetanschluss, eine heizbare Wohnung – das sind nicht mehr die weichen Zusätze zum harten Broterwerb. Das sind Notwendigkeiten. Wie es auch lebensnotwendig ist, nicht immer allein am Abendbrottisch sitzen zu müssen, weil nobody cares.


Die Öffentlichkeit erscheint vielen verzichtbar, das Private erfordert schon genügend Kraft neben Arbeit und Pendelei. Alles verständlich. Die immerwährende Agora ist auch anstrengend. Als Idealbild einer demokratischen Gesellschaft ist sie auch penetrant. Kein Mensch kann sich um alles scheren. Nicht alles muss politisch sein, wenn das bedeutet sich generationenübergreifend zu streiten. Immerhin steht der Neubau ja auf dem Acker hinterm Elternhaus.

Sind nicht gerade diejenigen eine Belastung, die sich um alles scheren, besonders darum, was andere Leute machen? Jene, die sich für alles zuständig empfinden – die Schlafzimmer und Beichtstühle, die Herkunft der Migranten und das Herumlungern der Jugendlichen am Kaufland? Vom Citoyen ist es nur eine kleine Wegstrecke bis zum Blockwart.

Doch wenn sich alle raushalten, dann haben genau die Leute mit Blockwart-Mentalität das Sagen. Die gehen nämlich nicht einfach Heim, weil sich sonst niemand ereifert. Dann könnte man fast denken, das Geifern und Schimpfen wäre der Normalzustand. Ab wann ist die res publica nicht mehr nur eine Möglichkeit, sondern eine Pflicht?