Foto: Logan Weaver (Unsplash)

Was bedeutet der „Ruhestand“ der Babyboomer für die Kirche?

Mit der Pensionierung der Babyboomer:innen entstehen in den Kirchen Personallücken, die der Nachwuchs nicht stopfen kann. Es ist Zeit, die Ruheständler:innen als Ressource zu entdecken und wertzuschätzen.

Kaum ist man pensioniert oder „im Ruhestand“, erlebt man beispielsweise dies: Eine Mail an die dienstliche Adresse, die man freundlicherweise noch weiterverwenden darf, man sei „immer wieder … auf der Suche nach Gottesdiensthaltenden in der N.N.-Kirche. Nun hat N.N. (die Regionalbischöfin) vorgeschlagen, auch Sie zu fragen und ich würde gerne wissen, ob Sie sich das vorstellen könnten?“ Mein Vorstellungsvermögen als Ruheständler ist noch recht gut erhalten und ich antworte erst einmal nicht. Sondern denke nach.

Seit einigen Jahren höre ich warnende Stimmen, mit dem Ruhestand der sog. BabyboomerInnen entstünde eine empfindliche Personallücke, die nicht einfach durch die noch verbliebenen Aktiven gestopft werden könne. Eine aufmerksame Beobachtung, die bislang nach meiner Wahrnehmung ohne Folgen geblieben ist. Jedenfalls ohne Folgen für uns mehr oder minder frisch Pensionierte. Da gibt es die einen, die behaupten, die PensionärInnen wollten sowieso (erstmal?) nichts mehr mit Kirche zu tun haben. Und da gibt es die anderen, die fürchten, dass sich RuheständlerInnen aufdrängen mit den klassischen Angeboten von Gemeindekreisen, Vorträgen, anderen pastoralen Aufgaben und womöglich mit eigenen Ideen: „Die können nicht loslassen, die wirst du nicht mehr los!“

Das sind Vorurteile gegenüber sehr viel früheren Generationen von RuheständlerInnen. Für die meisten meiner Generation gelten ganz andere Merkmale. Wir sind durchaus mit innovativer Arbeit in Kirche und Diakonie vertraut. Wir verfügen über Erfahrungen aus der Boom-Zeit von Kirche wie aus der Zeit des Verlusts von (eingebildeter) Bedeutung. Wir haben Erfahrungen mit der diakonischen „Wesensäußerung“ der Kirche aus Zeiten der Expansion von sozialer Arbeit, der kommerziellen Konkurrenz und der Professionalisierung von Beratung und Hilfe. Wenn es gut gelaufen ist, haben wir eine klare Haltung zu kirchlich verbundener Diakonie und zugleich zur Kirche als gesellschaftlicher Kraft.

Wir kennen zu Genüge den Spagat von Routine und Erneuerung. Wir kennen ein hohes Maß von Enttäuschung und damit verbunden die Bedeutung von professioneller Resilienz. Und wir haben eine diffuse und zugleich wirksame Verbundenheit mit Arbeitsfeldern von Kirche und Diakonie, was aber nicht dasselbe ist wie Identifikation mit „Gemeinde“ oder dem „Apparat Kirche“. Und vor allem gehen nicht nur langgediente Frauen und Männer in den Ruhestand, sondern auch teuer bezahlte Kompetenzen und Erfahrungen (mit bezahlt meine ich die Aus- und Fortbildungen, die in Menschen „investiert“ wurden).

Ist die Entpflichtung alternativlos?

Kann ich mir also vorstellen, mal Gottesdienst in der N.N.-Kirche zu halten? Ja, das auch. Viel mehr treibt mich jedoch das Nebeneinander von Personalnot und alternativloser Entpflichtung derjenigen um, die die Pensionsgrenze erreichen. Aus meiner Arbeit in der Diakonie kenne ich zahllose gelungene Beispiele von Angeboten an verrentete Mitarbeitende. In der Beratung unterstützen Erfahrene ihre ehemaligen KollegInnen durch geringfügige Beschäftigung, Verwaltungsmitarbeitende übernehmen Urlaubs- und Krankheitsvertretungen, Pflegeteams lassen sich gern durch RentnerInnen verstärken. Für jede Mitarbeit gibt es einen arbeitsrechtlichen und tariflichen Rahmen. Mitarbeit wird vergütet.

Bei PfarrerInnen ist es – immer noch – anders: Man wird ausgesteuert aus den kirchlich-internen Informationskanälen, zu internen Arbeits- und Informationsplattformen hat man keinen Zugang mehr. Bis vor einiger Zeit wurde den frisch Pensionierten in unserer Landeskirche die dienstliche Mailadresse abgeschaltet. Man ist verabschiedet und damit „draußen“. Ein Alumni-Wesen, eine Ehemaligen-Arbeit gibt es nicht.

Das hat positive Seiten: Ich werde in „Ruhe“ gelassen. Ich kann mit meiner Zeit machen, was ich will und wozu ich Lust habe. Und ich bekomme die erwähnte unspezifische und zugleich erwartbare Anfrage: So was wie Gottesdienst wird er noch können und wir könnten es brauchen. Und selbstverständlich gibt es keine arbeits-/beamtenrechtlich oder tariflich ausgestatteten Angebote. Der wohlverdiente Ruhestand bedeutet bei Pfarrpersonen, dass ich genug (wohl-)verdient habe und man nun erwartet, dass ich meine (Ruhestands-)Zeit unentgeltlich zur Verfügung stelle. Und gerade das Ehrenamt wird nicht angefragt, denn das könnte in einem steuerlich geregelten Rahmen mit einer Pauschale ausgestattet werden.

Ist meine Beobachtung falsch, dass sich „meine Kirche“ der Ressource ihrer RentnerInnen und PensionärInnen nicht bewusst ist? Es gibt vereinzelte Maßnahmen in mancher Landeskirche. Sehr zaghaft, bedenkenträgerisch. Dabei ist die Lage in den Kirchenkreisen durchaus prekär. Manche DekanIn hat die RuheständlerInnen schon alle eingebunden, um wenigstens das Tagesgeschäft zu bewältigen: „Ohne RuheständlerInnen ging es nicht.“ Das sind allerdings aufwändige Notoperationen ohne Struktur und Rahmung. Es gibt kein Konzept, es gibt keine koordinierte oder zumindest konzertierte Aktion.

Wir brauchen ein neues Konzept von „Ruhestand“

Es braucht mehr als eine mehr oder minder zufällige persönliche Ansprache einzelner, um die PensionärInnen, die sich gern an der Entlastung von KollegInnen und der Weiterentwicklung von Kirche aktiv und vor allem in Grenzen beteiligen, zu interessieren. Dabei kann es nicht um reines Vertretungsmanagement und die Aufrechterhaltung des Regelbetriebs gehen. Und es darf auch nicht allein die oben beschriebene ständige Suche nach Füllen der Gottesdienstpläne sein.

Vom Ehrenamtsmanagement weiß man, dass die Werbung fürs Engagement spezifisch, konkret, einladend und den Interessen der Gesuchten entsprechend formuliert sein muss. Warum soll ich mich mit meiner Zeit und meinen Kompetenzen einbringen? Das kann eine Landeskirche schon auf dem Weg zur Pension beschreiben und in ein klares Angebot fassen. Allerdings muss dann auch die Frage der „Ausstattung“ (oder Monetarisierung) geklärt werden. Ich bin gespannt, wie der „verdiente“ Ruhestand dann verstanden wird.

Es ist ein unbestreitbarer Fakt, dass viele Baby-Boomer-PensionärInnen mit persönlichen Abzügen leben. Ich habe beim Berufseinstieg fünf Jahre in Stellenteilung arbeiten müssen. Das war nicht freiwillig. Ebenso wenig haben die im Angestelltenverhältnis arbeitenden KollegInnen freiwillig auf die nicht erfolgten Tariferhöhungen verzichtet (was ein ganz eigener Skandal ist).

Es bleiben offene Fragen: Wie kommt es, dass es kein Konzept der Unterstützung der aktiven KollegInnen durch erfahrene PensionärInnen gibt? Wer wird in einem zu entwickelnden Konzept eigentlich Unterstützung anfragen? Einzelanfragen von PfarrerInnen? Gebündelt über Dekanatsbüro- oder über die Kooperationsräume? Wie ergeht es Regionen, die für RentnerInnen / PensionärInnen als Wohnsitz unattraktiv sind? Wie können die Aktiven um die Kompetenzen der Ruheständler wissen? Welche Art der Vereinbarungen wird es geben? Wie sind der rechtliche Rahmen und die Vergütung/Erstattung („Monetarisierung“) geregelt?

Ladet uns ein!

Um es am Ende deutlich zu sagen: Ich bin froh, entpflichtet zu sein. Ich bin nicht gelangweilt. Ich brauche keine Beschäftigung, die meiner aktiven Phase gleicht. Und ich kann sehr wohl loslassen. Was ich aber nicht kann: Wegschauen, wenn professionelle Ressourcen ungenutzt bleiben. Wenn Kompetenzen als selbstverständlich unentgeltlich verfügbar vorausgesetzt werden. Wenn „wohlverdienter“ Ruhestand bedeutet: Der könnte ruhig mal was machen.

Ich weiß, dass viele werdende und schon im „Ruhestand“ angekommene Babyboomer bereit sind mitzudenken. Es gibt allerdings ein Zeitfenster von nur wenigen Jahren, in dem diese Gruppe von Ehemaligen noch ansprechbar ist. Wer auch immer uns dazu einlädt – sei es der berufsständische Verein, die Pfarrvertretung, die Personalverwaltung oder andere Akteure -, wird erleben, dass wir eine ganz eigene Bindung an Kirche, ihre Arbeitsformen und deren Entwicklung haben. Und dass wir Ideen, Energie und durchaus aus Engagement mit Eigensinn mitbringen können.


Wir wollen diesen Artikel von Jens Haupt gerne als Auslöser einer breiten Debatte über das Thema und das Miteinander verschiedener Generationen in der Kirche verstanden wissen und freuen uns auf Deine Gedanken und Diskussionsbeiträge hier in der Kommentarspalte oder per Email. (Die Eule-Redaktion)


Unterstütze uns!

Die Eule bietet Nachrichten und Meinungen zu Kirche, Politik und Kultur, immer mit einem kritischen Blick aufgeschrieben für eine neue Generation. Der unabhängige Journalismus und die Stimmenvielfalt der Eule werden von unseren Abonnent:innen ermöglicht. Mit einem Eule-Abo unterstützst Du die Arbeit der Redaktion, die faire Entlohnung unserer Autor:innen und die Weiterentwicklung der Eule.

Jetzt informieren und Eule-Abo abschließen!