Foto: quijonido (Flickr), CC BY 2.0

Wie haltet ihr es mit dem Kreuz?

Ist der „Aufbruch aus Evangelikalien“ auch ein Weg, der vom Kreuz als Ort von Buße und Umkehr weg führt? Kann das Kreuz von Post-Evangelikalen weiter als Zeichen für die Liebe eines gerechten Gottes verstanden werden?

Lieber Christoph,

du hast in deinen beiden Kolumnenartikeln deutlich gemacht, dass die Liebe als absoluter Fixpunkt post-evangelikaler Theologie neu ins Zentrum gerückt wird. Evangelikale Theologie dreht sich viel mehr um das Kreuz als z.B. um Inkarnation und Auferstehung. Bleibt das Kreuz bei euch „gut-evangelikal“ der Ort von Buße und Sühne oder wird es stärker „liberal“ als Symbol für die Möglichkeit erlösten Lebens in Freiheit vor Gott gedeutet? Wie halten es die Post-Evangelikalen mit dem Kreuz?

Fröhliche Grüße!


Hallo liebe Eule!

Diese Frage hat mich überraschend herausgefordert. Vielleicht liegt es daran, dass man sich selbst diese Frage schon länger nicht mehr gestellt hat? Vielleicht ist der Weg, den man auf der „Flucht aus Evangelikalien“ geht, ja gerade ein solcher Weg auch weg vom Kreuz?

Vielleicht ist es genau das, was man eigentlich versucht hinter sich zu lassen, diesen Gedanken nämlich: Dass es da einen Gott gibt, der getrennt von dir ist. Der das Leben in dieser Welt eigentlich verurteilt, der auch Dich zuletzt verurteilt. Der dir sagt: „Du bist selber schuld! Du bist schuld am Leid dieser Welt. Du bist es, der versagt und mit deinem Versagen will ich nichts zu tun haben, denn ich bin perfekt! Mit mir wäre das alles anders.“ Mit dieser Vorstellung von einem „heiligen“, unfehlbaren Gott, der so perfekt ist, dass er unsere Fehlbarkeit als Menschen nicht ertragen kann, sind viele Post-Evangelikale, zumindest im Unbewussten, oftmals noch aufgewachsen.

Ist Gott ein Narzisst?

Praktisch ist eine solche Topik in den meisten auch evangelikalen Strömungen heute bereits deutlich weich gezeichnet. Doch auch eine „Grace Theologie“, also ein Gottesbild mit ganz viel Compassion und Barmherzigkeit versüßt, hält im Kern noch an dieser Grundperspektive fest. Gott ist so perfekt, dass er dir seine Hand eigentlich vors Gesicht halten müsste und erst mit dir redet, wenn du auch brav deine Sünden gebeichtet und Jesus in dein Herz gelassen hast.

Denn nur dies ist „der Weg, die Wahrheit und das Leben“, nur dies überbrückt den Graben der Sünde, der sich zwischen Mensch und Gott auftut. Und wenn du in deinem Leben nicht die Chance hast dich zu diesem Jesus zu bekennen, dann hast du halt Pech gehabt!

Heute verpacken wir das oft netter, aber mal ganz ehrlich, oftmals scheint dieser doch irgendwie narzistische, etwas selbstgerecht wirkende Gott immer noch durch. Der ganze Zucker, die schönen Worte um Vergebung und Erlösung, mit denen wir die frohe Botschaft heute schmackhaft verpacken, täuschen doch oftmals nur darüber hinweg, dass es da doch eigentlich diesen Gott gibt, der weiter deinen Strafzettel führt und nur aus reiner Güte und bei ehrlicher Reue vom drohenden Strafgericht über die gefallene Welt ablässt.

But love wins…

Ich glaube hier kommen wir dem Kern dessen, warum sich immer mehr Christen von einem evangelikalen Glauben und so vielleicht auch vom Kreuz abwenden, sehr nahe. Sie werfen für sich nämlich die Frage auf: Was soll das bitte für ein Gott sein, der von uns, aufgrund seiner „Heiligkeit“, angebetet werden will, der aber seinerseits Menschen nur aufgrund ihrer Sexualität doof finden kann oder Milliarden Seelen bereits aus seinem „Reich“ ausschließt, nur weil sie vielleicht das Pech hatten, auf der falschen Seite des Planeten geboren worden zu sein und von Jesus so vielleicht nie ernsthaft etwas hätten hören können?

Was ist an diesem Gott denn gut? Was ist daran gerecht? Wo findet sich da die Liebe, von der doch so viel gesprochen wird unter Christen? Das sind letztlich genau die Fragen mit denen sich auch Rob Bell in seinem Buch „Love wins“ auseinandersetzt. Fragen die nicht neu sind, aber die sich jede Generation auf ihrer Reise im Glauben wird stellen müssen – zumindest dann, wenn sie mit der Topik um Sündenvergebung und Sühnetod zumindest teilweise noch aufgewachsen ist.

Die Sache mit der Liebe

Das Problem mit der Liebe ist ja folgendes: Liebe muss eigentlich immer konsequent sein, sonst verliert sie ihre Bedeutung. Liebe muss sich beweisen im Konflikt. Sie ist erst da, erst erkennbar, wenn sie tatsächlich geprüft wird. Liebe kennt kein „aber“, sondern sie nimmt vorbehaltlos an, da sie sich im Kern aus der Fähigkeit zur Vergebung definiert, aus der Fähigkeit aus sich selbst Bedeutung zu schaffen.

Ihre Essenz ist der „gute Wille“, der Wille dem Guten immer ein Chance zu geben. So sucht Liebe Gerechtigkeit nicht in einer utilitaristischen Strafe, noch in der Erziehung oder gar der Genugtuung, sondern immer im Modus der Vergebung, der Annahme und der Chance auf einen Neubeginn. Liebe beweist sich so gerade im Moment des Zerbruchs, in der Distanz, in der Unterschiedlichkeit, die sie überwinden will, wo sie gegenseitige Annahme und Vergebung anstrebt.

Wenn ich mich in post-evangelikalen Kreisen so umschaue, ist mir sehr augenscheinlich, dass sich gerade hier viele Menschen zusammenfinden, die ein ausgesprochen starkes Gerechtigkeitsempfinden haben. Die sehr feinfühlig sind für Kriterien der Unterscheidung, für Prozesse des Ausschlusses und der Abgrenzung. Menschen, die eher integrativ denken, die Unterschiedlichkeit annehmen und stehen lassen können. Die nicht werten, sondern jedem Menschen seinen eigenen Weg zu einem reichen, erfüllten Leben zugestehen wollen.

So kommt es nicht von ungefähr, dass gerade der Umgang der Kirche mit Homosexualität ein besonderes Reizthema für viele post-evangelikale Christen darstellt. Das gerade hier die Trennung zur evangelikalen Welt vollzogen, sich gerade hier auch parteiisch verhalten und engagiert wird. Das ist durchaus als symptomatisch für die generelle Stoßrichtung der Bewegung zu lesen.

Will ich einen Gott denken, der weniger lieben kann als ich?

Für meinen persönlichen Weg war diese Frage sehr entscheidend. Kann es wirklich sein, dass ich mehr lieben kann als Gott? Will ich tatsächlich einen Gott denken, einem Gott folgen, der weniger liebevoll mit anderen Menschen ist, als ich selbst dies vermag? Ist das für mich tatsächlich erstrebenswert, ist das gewinnbringend für mich und für uns als Gesellschaft? Und ist dies wirklich das, was mein Herz anstrebt, wenn es nach Gott sucht, wenn es glauben will?

Ich möchte mir nicht anmaßen für alle Christen zu sprechen, die für sich mit den Begriffen „post-evangelikal“ oder „progressiv“ etwas anfangen können, noch möchte ich allen sich als evangelikal verstehenden Christen pauschal Lieblosigkeit oder auch die Nähe zu einer Satisfaktionslehre unterstellen.

Ich glaube aber, dass für viele genau dies die Fragen sind, die sie auf ihrem Glaubensweg weiter treiben, und oftmals eben auch hinaus aus den evangelikalen Bewegungen. Das sind die Kernfragen, die sie nicht loslassen, die es zu klären gilt, um irgendwie an Gott und am Glauben dran bleiben zu können.

Wenn das Kreuz zur Last, nicht zur Erlösung wird

Für viele Christen, die aus evangelikalen Gefilden kommen, kann die Auseinandersetzung mit dem Kreuz daher zu Konflikten führen. Das Kreuz als den Ort zu sehen, der eigentlich mehr die Trennung von Gott und Mensch durch Sünde thematisiert und primär von der Schlechtheit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen spricht, das steckt bei vielen Christen oftmals doch sehr stark in den Genen.

Oft wird eine „Flucht aus Evangelikalien“ so auch zu einer „Flucht vor dem Kreuz“. Auch ich habe das Kreuz in meiner Auseinandersetzung mit dem Glauben zeitweise komplett ausgeklammert und mich deutlich stärker auf die Narrative um Inkarnation und Auferstehung konzentriert. Das Kreuz war mir zeitweise auch zu schwer zu tragen und partiell auch wenig verständlich.

Wenn man Liebe konsequent denkt, dann kann es auch bei einem Gott, der für die Liebe stehen soll, ein „aber“ nämlich eigentlich nicht geben. Dann kann dieser Gott nicht liebevoll und heilig und gerecht gleichermaßen sein. Dann muss auch dieser Gott sich für einen Modus entscheiden.

Denn im Modus der Liebe, stellt man die eigene Person eben hinter jene Liebe zurück. Das ist das Wesen der Liebe. Mit der Liebe bringt man sich selbst als Opfer, mit der Liebe hält man die zweite Wange hin, ohne Klage, aus Entscheidung, aus Überzeugung. Will man Gott als Liebe denken, dann kann das Kreuz nicht der Ort sein, wo Gerechtigkeit durch Sühne entsteht, sondern es muss der Ort sein, wo Gott sich um der Liebe Willen selbst zurückstellt. Wo er sagt: „Hier bin ich für dich. Hier bin ich am Kreuz. Erniedrigt, ohnmächtig und einer von euch. Hier gebe ich was ich kann, um dir zu zeigen wie wertvoll du bist.“

Liebe will nicht urteilen, sondern den anderen annehmen

Ich mag nicht für alle „Post-Evangelikale“ sprechen, aber ja: Will ich mich mit dem Kreuz versöhnen, kann dies nicht ein Ort von Sühne sein, nicht der Ort, der trennt zwischen Sündern und Gerechten, sondern es muss der Ort werden, wo Gott sich unserer Realität, unserem irdischen Leid konsequent zugewendet hat.

Wo Gott den Unterschied macht und genau da hineingeht, wo es wirklich wehtut. In den Zerbruch, in das Getrenntsein, in die Ohnmacht, auch in unsere Versehrtheit, Unperfektheit und Unversöhnlichkeit. Mit dem Kreuz zeigt Gott uns, dass er uns und unsere Realität sieht und ernst nimmt. Und ja, diesen Move kann man letztlich nur ganzheitlich verstehen: Mit der Menschwerdung Gottes als Ausgangspunkt und mit dem Wunder der Auferstehung, die aus der Ohnmacht Gottes heraus, aus diesem Ausgeliefertsein im Modus der Liebe, erst etwas Neues schafft.

Hierin finden wir letztlich die Hoffnung, auch in unserer eigenen Versehrtheit die Freiheit zu haben dem Guten auch im Schlechten zu folgen. Hier können wir uns selbst vergeben, lernen uns selbst anzunehmen, müssen uns nicht aufgeben und gewinnen so auch die Fähigkeit, unseren Nächsten anzunehmen und barmherziger mit ihm zu sein.

Mit dem Kreuz zeigt sich, dass die Gerechtigkeit, die aus der Liebe entspringt, nicht eine der Sühne sein kann, nicht eine der Abgrenzung, sondern nur eine der Vergebung, eine der Versöhnung. Das meinen Post-Evangelikale, wenn sie die Liebe in den Mittelpunkt stellen. Liebe will nicht urteilen, sondern annehmen. Das ist ihr Wesen. Wenn man Gott als Liebe denkt, ist das die Hoffnung die das Kreuz uns geben kann. Und auch das Vorbild auf das wir trauen und dem wir folgen wollen.

Ich glaube, dass dieser Aspekt vom Großteil der Menschen, mit denen ich christliche Community gemeinsam lebe, geteilt wird und durchaus auch als ein Wesensmerkmal einer post-evangelikalen Szene gedeutet werden kann. An der Liebe kommt nichts vorbei. An der Liebe muss sich alles messen lassen. Ich glaub da sind sich alle einig.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und auf ein nächstes Mal!