Wie soll ich dich empfangen?
Groß ist die Sehnsucht nach Vereindeutigung in der Corona-Krise. Während des Advents werden wir die Widersprüchlichkeiten der Corona-Bekämpfung aushalten müssen.
Mit den Entscheidungen der Ministerpräsidentenkonferenz zur Corona-Bekämpfung ist dieser Tage kaum jemand zufrieden. Den einen, unter ihnen die Kanzlerin, gehen die Maßnahmen nicht weit genug. Andere tragen ihren Protest gegen jedes Regierungshandeln weiterhin lautstark auf die Straße. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich irgendwo zwischen den Extremen in einer Situation der Ratlosigkeit wieder.
Das ist nur allzu natürlich in einer Situation, in der alle Akteur:innen um den bestmöglichen Weg vorwärts ringen. Das Bedürfnis der Leute, zu wissen, woran man ist, ist nur allzu verständlich. Man erinnere sich zurück an das Frühjahr, als insbesondere Familien die mittwöchlichen Wasserstandsmeldungen aus der damals noch geschlossener agierenden Runde der Ministerpräsident:innen bei der Kanzlerin nach Informationen zu Schulen und Kindergärten scannten. Über Wochen gab es damals nur wenig Neues und nichts Erbauliches, das den Familien irgendwie Erleichterung verschafft hätte. Heute wie damals ist es vor allem die Ungewissheit darüber, wie weiter verfahren werden soll, die an den Nerven zerrt.
Eine Gesellschaft im Streit
Doch gibt es im Vergleich zum Frühjahr einen massiven Fortschritt, der gleichwohl paradoxer Weise dem Corona-Verdruss Vorschub leistet: Die Gesellschaft streitet. Nicht nur sind Kinder und Schüler:innen in das Blickfeld der Politik gerückt – damit ist das hoch emotional besetzte Feld der Familien- und Bildungspolitik zum dauernden Gesprächsgegenstand geworden -, sondern alle möglichen gesellschaftlichen Akteur:innen beteiligen sich an der Debatte. Natürlich trägt ein:e jede:r vor allem das eigenen Anliegen ein. Wir erleben die Diskussion um die „Systemrelevanz“ unter veränderten Vorzeichen erneut.
Es gab ja in der Tat einen Paradigmenwechsel bei der Corona-Bekämpfung. Allerdings nicht erst bei Ausrufung des „Lockdown light“, sondern bereits im Frühsommer, als mit den ersten Öffnungen auch Abstand von einer radikalen Eindämmung des Virus‘ genommen wurde. Seitdem geht es nur noch um die Moderation des Pandemie-Geschehens. Anders als der aufgeheizten Debatte zu entnehmen ist, geht es dabei keineswegs um die Rettung des familiären Weihnachtsfestes, sondern um zwei sehr handgreifliche Ziele:
Zunächst die Entlastung des Gesundheitssystems, der Intensivstationen zuerst, dann aber auch der Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser insgesamt, die allesamt unter Personal- und Fachkräftemangel leiden und deren Versorgung mit Schutzmaterialien keineswegs so sicher ist, als dass man sich als um die eigene Befindlichkeit besorgte:r Bürger:in darum nicht scheren müsste. Den zweiten Schwerpunkt bildet die Sorge um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Schulen und Kindergärten sind auch – vielleicht sogar vor allem – deshalb geöffnet, weil die Eltern der Kinder ihrer Erwerbstätigkeit nachkommen sollen.
Versäumnisse der Vergangenheit
Die Krisenfolgen werden mit beispiellosen Hilfspaketen bekämpft. Nach und nach bekommt jede:r sein Scherflein von den Regierungen nachgetragen. Selbst Wirtschaftsmodelle von gestern, wie Inlandsflüge und Zeitungen aus Papier, erhalten unverhältnismäßig hohe Unterstützung. Insbesondere das sozialdemokratische Finanzministerium bekämpft die Krise mit reichlich Bimbes. Es ist, als hätte sich Olaf Scholz das Bibelwort zu Herzen genommen, nachdem man sich mit dem ungerechten Mammon Freunde machen soll.
Dass in der Krise manche Ungerechtigkeit zementiert wird, liegt nicht am mangelnden Bemühen der Akteur:innen in der Krise, sondern an den Versäumnissen der Bundesregierungen der vergangenen Jahre. Gäbe es schon eine nationale Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels, wäre über das Sponsoring der Lufthansa anders verhandelt worden. Gäbe es eine Digitalstrategie, könnten nicht allein viel mehr Schüler:innen bequem von Zuhause aus lernen, sondern man müsste auch den darbenden Großverlagen kein Finanzgeschenk von über 200 Millionen Euro darbieten.
Hätte irgendeine der „Großen Koalitionen“ sich in den vergangenen Jahren zu einer Pflegereform durchgerungen, würden Pflegeheime und Krankenhäuser nicht schon im Normalbetrieb an der Grenze der Belastbarkeit operieren. Wären die Leistungen für Familien und Kinder in den vergangenen Jahren nicht nur erhöht worden – so viel hat die SPD durchgesetzt -, sondern in einer neuen Kindergrundsicherung gebündelt, müssten wir nicht hilflos gerade auf jene Kinder aus wirtschaftlich schwachen Familien starren, die unter Schließungen von Kindergärten und Schulen am meisten leiden.
Während dieses Pestjahres fühlt sich die große Mehrheit der Bevölkerung in den Händen der Kanzlerin sicher. Ihre persönlichen Beliebtheitswerte und die Umfrageergebnisse ihrer Partei legen davon beredtes Zeugnis ab. Doch es sind die Versäumnisse und die Fehler der CDU/CSU und ihrer Kanzlerin in den vergangenen Jahren, die uns nun auf die Füße fallen. Auf jedem der erwähnten Politikfelder versagen die Unionsparteien, darüber kann der gutgemeinte Krisenaktionismus nicht hinwegtäuschen.
Der Wunsch nach Vereindeutigung
Den Paradigmenwechsel von der Eindämmung hin zur Moderation hätten die verantwortlichen Politiker:innen klarer formulieren müssen. Allerdings wurde er auch nicht „von oben“ angeordnet, sondern hat sich aus der Abstimmung der unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Akteur:innen ergeben.
Die Pandemie und ihre Bekämpfung produzieren nicht allein Zielkonflikte, sondern vor allem Widersprüchlichkeiten bei der Umsetzung. Dafür tragen vor allem die Landesregierungen Verantwortung. Die Verfassungsordnung sieht nun einmal die Länder in der Pflicht, auch wenn man sich – besonders augenfällig am Beispiel der Bildungspolitik – fragen kann, ob sie überhaupt in der Lage sind, das in sie grundgesetzlich gesetzte Vorschussvertrauen überhaupt zu rechtfertigen.
Doch jede:r von uns lebt ja nur in einem der Bundesländer. Von daher würde sich die tatsächliche Anpassungsleistung, die von der Bevölkerung gefordert wird, eigentlich verringern, würde man nicht ständig Zeug:in des öffentlich ausgetragenen Zwists zwischen Bundesregierung, Kanzlerin und Landesregierungen. Die Demokratie braucht Ruhe und Besonnenheit, die nur Verschwiegenheit und Diskretion bieten. Gleichzeitig minütlich über den Stand der Verhandlungen informiert zu sein und machtlos in der Zuschauer:innen-Rolle verharren zu müssen, kann nur überfordern.
Ein gewichtiger Teil der allgegenwärtig zu fassenden Sehnsucht nach Vereindeutigung ist der Wunsch nach klarer Führung. Es ist das große Glück der Deutschen, dass ihnen ihre Verfassung und die von ihnen gewählten demokratischen Politiker:innen genau diese nicht gönnen. Stattdessen bleibt es der Einzelnen vorbehalten, die Dosis an Informationen und Diskussionen, die man sich zumuten will, selbst zu bestimmen.
Ohne Eigenverantwortung geht es nicht
Das Gleiche gilt für die Umsetzung der Sicherheitsvorkehrungen. Die große Mehrheit der Bevölkerung will sich an diese halten und zieht in beeindruckender Ruhe und Beständigkeit an einem Strang. Bei Tageslicht – das insbesondere den Twitter:innen anempfohlen sei – betrachtet, hat sich an den Kernvorgaben seit März nur sehr wenig geändert. Es geht nach wie vor darum, unnötige Kontakte zu vermeiden, nötige Kontakte einzuschränken, Abstand zu halten, sich und andere durch das Tragen von Mund-Nasen-Schutzmasken zu schützen, gesteigerte Hygiene zu üben und verdammt noch mal die Ruhe zu bewahren.
Ob zu Weihnachten fünf Personen aus zwei Haushalten oder zehn Personen aus drei oder wie viele Gäste auch immer zugelassen sind, ist dafür unerheblich. Wir müssen dem Geist der verabredeten Maßnahmen mehr folgen als ihrem Wortlaut, wollen wir unnötigen Stress vermeiden. Es ist wichtig festzuhalten, dass von Familien, die Großeltern über die Feiertage dazu holen, wohl eher keine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht. Vor allem nicht, wenn sich die Erwachsenen in diesem Szenario verantwortlich verhalten (z.B. durch prophylaktische Quarantäne).
Es geht nicht ohne Eigenverantwortung, zu der das Beugen und Anpassen der Regelungen naturgemäß hinzugehört. Es geht nicht an, als Bürger:in in einer Demokratie „nach oben“ zu gucken und sich allein am Wortlaut von Verordnungen zu orientieren. Genauso wenig ist es besonders pfiffig, in den Verordnungen stets nur nach Lücken zu suchen, um das eigene Handeln – das vor dem inneren Gerichtshof längst als unverantwortlich erkannt wurde – zu rechtfertigen.
Niemanden ist damit gedient, wenn die Staatsgewalt die ärgerlichen „Corona-Proteste“ niederknüppelt oder von der Straße spült. Wollen wir in einem Land leben, in denen Polizei oder – Gott verhüte – die Armee die öffentliche Plätze dominiert? Die Rechtsradikalen, die die Demonstrationen inzwischen anfeuern und organisieren, darf man nicht ignorieren, aber es gehört auch zur bürgerlichen Freiheit, sich von der Minderheit der Schwurbler und ihren politischen Nutznießern nicht treiben zu lassen. Hier stehen insbesondere die Medien in der Verantwortung, bei der Berichterstattung über die Pandemie und ihre Folgen Maß und Mitte nicht zu verlieren.
Die Pandemie fordert Opfer
Diese Pandemie fordert Tote und bringt jeden Tag neue Opfer hervor, die für den Rest ihres Lebens mit gesundheitlichen Folgeschäden zu kämpfen haben werden. Ihren Schicksalen muss unsere Aufmerksamkeit zuerst gelten. Menschen mit Vorerkrankungen, alte Menschen in Pflegeheimen und ihre Familien sind vom Virus besonders bedroht. Sie zu schützen kann nicht allein ihnen überlassen bleiben, sondern ist unser aller Verantwortung. Sodann leiden Familien, Kinder, Obdachlose, Flüchtlinge, arme Menschen besonders unter den Auswirkungen auch der Krisenbekämpfung. Ihre Last zu mindern muss Vorrang haben.
Das sind keine Neuigkeiten, aber eben auch keine Selbstverständlichkeiten. Natürlich stehen die je eigenen Beschwernisse und Bedürfnisse für jede:n von uns im Vordergrund. Das ist richtig, erinnert es uns doch daran, dass niemand einfach in einer Gruppenzugehörigkeit aufgeht. Sowohl die Sorge um die Schwachen als auch das Individuum als Ausgangspunkt jeder Politik sind Grundsätze der sozialen Demokratie, die in der Krise zwar herausgefordert ist, aber ihre Stärke gegenüber anderen Gesellschafts- und Staatsmodellen jeden Tag aufs Neue unter Beweis stellt. Sie zu verteidigen und zu verbessern, ist unser aller Auftrag.
In diesem besonderen Advent ist es an denjenigen gelegen, die in sich Mut und Kraft genug auftreiben können, den Widrigkeiten und Widersprüchen der Zeit entgegenzutreten und sie auszuhalten – ein Stück weit auch für diejenigen mit, die weniger ressourcenreich durchs Leben kommen müssen. Dabei helfen ganz sicher positive Zukunftsbilder, egal wo man sie beliebt zu finden.
Das schreib dir in dein Herze
Die Arbeit an Impfstoffen gegen das Virus schreitet zügig voran, schon bald werden wir die Verletzlichsten unter uns mit einer Impfung schützen können. Das wird die Pandemie nicht auf einen Schwupps beenden, aber unseren Umgang mit ihr abermals radikal verändern. Inzwischen müssen auch weniger Erkrankte sterben, weil sich die Behandlungsmethoden verbessert haben. Und es gibt, dank der persönlichen Sicherheitsvorkehrungen, eine große Menge milder Krankheitsverläufe, selbst wenn eine Ansteckung nicht vermieden werden konnte.
In einer erstaunlich hohen Taktzahl gibt es in der Krise auch Fortschrittsmeldungen. Wir sind dem Virus nicht schutzlos ausgeliefert, weltweit stellen viele Menschen ihre außerordentlichen Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit. Doch ist die Pandemie ganz sicher auch deshalb für viele Menschen so herausfordernd, weil sie uns die Grenzen der eigenen Wirksamkeit vor Augen führt.
„Ihr dürft euch nicht bemühen noch sorgen Tag und Nacht, wie ihr ihn wollet ziehen mit eures Armes Macht,“ dichtete Paul Gerhardt in schmerzvoller Zeit. In diesem Advent hat sein Lied „Wie soll ich dich empfangen“ einen neuen Klang. Nicht nur, weil sich Christ:innen überall auf der Welt fragen, wie sie denn nun Weihnachten feiern werden können. Dass wir Weihnachten feiern werden, steht allerdings nicht in Frage. Der Advent ist ein Geschenk, das die Frommen den Säkularen machen können. Der Advent ist eine Zeit des Wartens auf erhoffte Rettung, eine Einladung gemeinsam auszuharren:
Das schreib dir in dein Herze,
du hochbetrübtes Heer,
bei denen Gram und Schmerze
sich häuft je mehr und mehr;
seid unverzagt, ihr habet
die Hilfe vor der Tür;
der eure Herzen labet
und tröstet, steht allhier.