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„Wir brauchen Menschen mit Haltung“

Wie sollten Betroffene mit Bedrohungen umgehen und wie reagieren wir als Gesellschaft? Fragen an den Kriminologen und Polizeiwissenschaftler Martin Thüne.

Eule: Unsere Recherchen bei Landeskriminalämtern haben ergeben, dass nur sehr wenige Fälle von Bedrohungen gegenüber Religionsbediensteten statistisch erfasst sind. Wovon reden wir eigentlich beim Thema „Bedrohung“ aus Sicht der Sicherheitsbehörden?

Martin Thüne: Polizei und Justiz denken primär in strafrechtlichen Kategorien. „Bedrohung“ setzt bestimmte Tatbestandsmerkmale voraus: In der Regel geht es darum, dass schwere Straftaten, sog. Verbrechen, angedroht werden. Aber landläufig ist es eben so, dass Menschen sich schon sehr viel früher bedroht fühlen können, durch Äußerungen, die möglicherweise auch ein bisschen uneindeutig oder offen sein können, aber die eine bestimmte Botschaft transportieren.

Das heißt in Konsequenz: Was die Polizei erfasst, sind erstens nur die Taten, die ihr bekannt werden. Das ist ohnehin immer nur ein Ausschnitt der tatsächlichen Kriminalität. Bei Bedrohung wahrscheinlich ein sehr kleiner. Und zweitens wird nur das statistisch erfasst, was unter die strafrechtlichen Kategorien fällt. Die Bandbreite dessen, was wir als Bedrohung empfinden, ist also viel größer als das, was die Polizeistatistik abbildet. Es gibt darüber hinaus auch noch andere Tatbestände neben der Bedrohung, die ebenfalls einen bedrohlichen Charakter haben können, die Nötigung zum Beispiel.

Eule: Für Außenstehende kann es schwierig sein, überhaupt einzuschätzen: Ist das jetzt strafrechtlich relevant?

Thüne: Das zu entscheiden, ist auch nicht die Aufgabe der Betroffenen. Wenn man das Gefühl hat, etwas könnte strafrechtlich relevant sein, kann man sich immer an die Behörden wenden. Man muss sich auch nicht genieren, dass man irgendwie dumm aussieht, wenn sich etwas als nicht strafrechtlich relevant herausstellt.

Eule: Wie sieht denn der ideale Umgang mit Drohungen wie „Du Nazischwein, dich legen wir um!“ aus, die im Briefkasten oder Emailpostfach landen?

Thüne: So etwas sollte man anzeigen. Wir sehen eine Tendenz, dass solche Anzeigen sogar abnehmen, weil wir einen gewissen Gewöhnungseffekt feststellen. Oder auch, weil der Eindruck entsteht, die Sicherheitsbehörden hätten nur begrenzte Verfolgungsmöglichkeiten oder kämen solchen Anzeigen nur eingeschränkt nach. Zu einem Teil mögen diese Überlegungen sogar berechtigt sein, das Problem ist jedoch: Wenn solche Vorfälle nicht angezeigt werden, sind sie auch nicht im Fokus der staatlichen Institutionen. Polizei und Staatsanwaltschaften richten sich aber – operativ wie strukturell – wesentlich an den offiziellen Statistiken aus. Im ungünstigen Fall kann so eine falsche Lageeinschätzung entstehen, mit allen negativen Folgeerscheinungen.

Allerdings muss man auch so ehrlich sein und dazu sagen, dass mit mehr Anzeigen nicht automatisch eine riesige Erfolgsquote verbunden sein wird. Drohungen per Post oder in Sozialen Netzwerken sind häufig anonym – dem ist schwer beizukommen. Da sind den Ermittlungsmöglichkeiten einfach Grenzen gesetzt. Aber es geht nicht nur um den Ermittlungserfolg, sondern erst einmal darum, ein vernünftiges Lagebild zu erhalten. Das wäre dann die Grundlage, um kriminalpolitische Konsequenzen zu ziehen. Höhere Fallzahlen erzeugen auch höheren Handlungsdruck.

Eule: Was sollte man denn in einer konkreten Bedrohungssituation unterlassen?

Thüne: Man sollte sich vor Verharmlosungen hüten. Man kann nie wissen, ob nicht jemand einer Bedrohung auch Taten folgen lassen wird. Also bitte nicht verschweigen und mit sich selbst ausmachen! Man kann in diesen Fällen das Gespräch mit spezialisierten Beratungsdiensten, den Sicherheitsbehörden oder auch Dienstvorgesetzten suchen und gemeinsam überlegen, wie man im konkreten Fall am geeignetsten agiert. Das betrifft manchmal auch die Frage, inwieweit man die Bedrohung öffentlich macht oder ob man zu einem bestimmten Thema, welches den Konflikt ausgelöst hat, unmittelbar weiter Stellung nimmt.

Grundsätzlich würde ich immer sagen: Wir brauchen Menschen mit Haltung. Wir brauchen Menschen, die für Dinge einstehen, auch und gerade wenn es aus bestimmten Ecken Gegenwind gibt. Gleichwohl ist es nicht in jedem Fall anzuraten, sich einer bestimmten Drucksituation weiter auszusetzen, wenn eine konkrete Gefahr besteht. Das muss man im Einzelfall verantwortungsvoll entscheiden und dazu braucht es regelmäßig eine professionelle Beratung.

Eule: Die Diskussion verengt sich häufig auf die Forderung nach noch schärferen Gesetzen oder wird zu einer Internetdebatte. Was kann denn konkret vor Ort getan werden?

Thüne: Da es sich um ein komplexes gesellschaftliches Phänomen handelt, gibt es nicht die eine Maßnahme, die hier die Lösung bringen wird. Es ist wichtig, dass die Polizei so aufgestellt ist, dass sie überhaupt Kapazitäten hat, solchen Anzeigen nachzugehen. Auch zu prüfen, ob eventuell Schutzmaßnahmen eingeleitet werden müssen. Anhand von Lagebildern werden regional die Personalzuschnitte abgestimmt. Das heißt, wenn in einer Region besonders viele Vorfälle angezeigt werden, könnte das zu mehr Personal führen, das auch präventiv handeln kann.

Eule: Wie könnte eine solche Prävention ausschauen?

Thüne: Die eine Superpräventionsmaßnahme zu erfinden, das wäre nobelpreisverdächtig. Dass Entscheidungsträger in Politik, Gesellschaft und auch Kirche sich öffentlich positionieren und für eine friedliche Gesellschaft eintreten, ist wichtig. Demokraten müssen gemeinsam klar machen, dass bestimmte Umgangsformen nicht akzeptabel sind.

Vor Ort ist es wichtig, dass Netzwerke geknüpft werden, damit niemand allein steht. Mit Blick auf Religionsvertreter ist da ja zunächst einmal die Gemeinde. Deshalb sollten Bedrohungen dort auch bekannt gemacht werden. Wichtig ist zudem das Gespräch mit Bürgermeistern und Polizeidienststellen, nicht nur im Ernstfall, sondern dauerhaft und regelmäßig. So lassen sich unter anderem mögliche Lageveränderungen besser feststellen. Nicht zuletzt bietet ein solches Netzwerk Rückhalt, wenn es tatsächlich zu Bedrohungen oder Angriffen kommt.

Eule: Es herrscht der Eindruck vor, das Problem hätte sich in den vergangenen Jahren verschlimmert. Sind Beleidigungen, Nötigungen und Bedrohungen wirklich auf dem Vormarsch? Oder nehmen wir das heute aufgrund der stärkeren Vernetzung nur so wahr?

Thüne: Ich glaube, dass diese Wahrnehmung eine ganz große Rolle spielt und sie uns manchmal auch täuscht, was die objektive Lage angeht. Grundsätzlich würde ich meinen, dass wir auch ein bisschen Druck aus der Debatte nehmen sollten und uns die Zahlen einmal ganz nüchtern anschauen. In ganz vielen Kriminalitätsbereichen, gerade auch was Gewalt und Übergriffe angeht, haben wir seit vielen, vielen Jahren einen Rückgang. Es ist nicht so, dass alles immer schlechter wird. Der mediale Eindruck trügt, dass es in unserer Gesellschaft in Gänze „gefährlicher“ würde. Das geben die Zahlen nicht her.

Was wir allerdings sehr wohl seit einigen Jahren sehen können, ist eine Radikalisierung insbesondere im Bereich der extremen Rechten. Das endet nicht beim NSU, sondern hat sich verstetigt. Es gibt tagtäglich Übergriffe, sowohl online als auch im sogenannten „real life“, von denen die breite Öffentlichkeit kaum oder gar nicht Notiz nimmt. Das ist fatal, weil sich die Betroffenen nach einer entsprechenden Tat alleingelassen fühlen und sich ihr Leid dadurch verstärkt.

Am anderen Ende der Skala stehen rechtsterroristische Anschläge mit Toten und Schwerverletzten, die zunächst eine große Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die dann aber nach relativ kurzer Zeit ebenfalls wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden. Wer erinnert sich – von Expert*innen oder thematisch besonders engagierten Bürger*innen einmal abgesehen – schon noch an die Anschläge am Münchner OEZ, an die Fahrzeugattacken in Bottrop und Essen, an das Messer-Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin und viele, viele weitere Taten?

Wenn man den Blick noch einmal auf die Frage zurücklenkt, ob es mit der Kriminalität nun immer schlimmer wird oder eben doch nicht, sollte man sich Folgendes immer vor Augen führen: Die amtlichen Statistiken können zwar ein Anhaltspunkt sein, sie liefern aber kein korrektes Abbild der Realität. Sie sind in der Regel verzerrt und gerade Bedrohungstatbestände sind eher unterrepräsentiert. Es braucht Dunkelfeldstudien, die in Deutschland leider viel zu selten durchgeführt werden. Opfer- bzw. Betroffenenbefragungen gehen über den Bereich hinaus, was offiziell angezeigt wurde.

Aber auch hier bewegt sich etwas: Als einziges ostdeutsches Bundesland beteiligt sich Thüringen 2020 erstmals an einer großen Dunkelfeldstudie zur Kriminalität. Ohne solche Studien, die auch lange Zeiträume abdecken und regelmäßig wiederholt werden, lässt sich seriös gar keine Auskunft über echte Anstiege und Rückgänge bestimmter Tatbestände geben.

Ansonsten ist es so, dass ich den Sozialen Medien eine Katalysatorwirkung zuschreiben würde, weil die Hemmschwelle bei anonymen Online-Kommentaren doch weniger hoch ist. Auch, weil es nur ein geringes Risiko gibt, entdeckt zu werden. Es gibt nur wenig Verfolgungsdruck.

Eule: Muss der Gesetzgeber da handeln oder reichen die bestehenden Gesetze nicht aus, und müssten nur umgesetzt werden?

Thüne: Die Straftatbestände, die wir im Strafgesetzbuch haben, reichen aus. Wir sind schon seit einigen Jahren auf dem Weg, immer neue Ordnungswidrigkeiten und Straftatbestände einzuführen, in der Hoffnung, dass sich dadurch etwas bessert. Es wäre demgegenüber viel wichtiger, dass wir da zu einer verbesserten Umsetzung kommen. Da haben wir ein Problem. Das Verfolgungsrisiko ist sehr gering, gerade im Netz. Das fängt beim mangelnden Personal an. Teilweise ist man jetzt erst dabei, Cybercrime-Einheiten aufzubauen.

Immer wieder werden auch Internet-Streifen diskutiert, das halte ich für sinnvoll. Vor Ort ist es ja ebenfalls so, dass die Polizei einfach mal präventiv Streife fährt. Wir wissen, dass sich das sowohl auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung als auch auf die objektive Kriminalitätslage grundsätzlich positiv einwirkt. Das fehlt uns im Internet. Polizeiarbeit ist da sehr reaktionär, d.h. es wird zumeist erst etwas unternommen, wenn jemand etwas anzeigt.

Eule: Nehmen wir einmal an, ich erhalte einen beleidigenden, verleumderischen Online-Kommentar. Wie kann ich damit zur Polizei gehen, ohne dass ich meinen Schreibtisch verlasse?

Thüne: Das ist davon abhängig, in welchem Bundesland ich wohne. Es gibt immer noch Bundesländer ohne Online-Wachen. Da kann ich vom Schreibtisch nur wenig machen. Ich kann natürlich Screenshots machen und das alles in ein Textdokument schreiben, ausdrucken und per Brief an die Staatsanwaltschaft oder die nächste Polizeidienststelle schicken. Man muss nicht persönlich auf die Dienststelle gehen! Wenn daraus ein Ermittlungsverfahren erwächst, dann werde ich noch einmal zu einer schriftlichen der mündlichen Aussage eingeladen.

Dort wo es Online-Wachen gibt, ist die Ausgestaltung auch unterschiedlich. Da hilft es sicher, sich im Vorhinein kundig zu machen. Teilweise kann man die Online-Wachen auch nutzen, um Sachverhalte zur Anzeige zu bringen, die nicht im Internet vorgefallen sind.

Eule: Viele Betroffene nutzen ja die Möglichkeiten, die Soziale Netzwerke eingerichtet haben, um missbräuchliche Kommentare zu melden. Meine Erfahrung ist, dass das nur seltenst funktioniert. Wäre es nicht konsequent zu sagen, dass das eine staatliche Aufgabe ist?

Thüne: Ich sehe da schon zunächst die Unternehmen in der Pflicht, schließlich verdienen die mit ihren Angeboten auch Geld. Wer den Nutzen hat, muss auch Sorge tragen, dass es mit rechten Dingen zugeht. Die Alternative wäre eine staatliche Überwachung der Sozialen Netzwerke. Das mag in einem demokratischen Rechtsstaat noch harmlos klingen, schaut man sich aber einmal auf der Welt um, sieht man wie gefährlich solche Mittel in den Händen von Diktatoren sind.

Am Ende geht es um wieder um die schwierige Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit. Wir werden Bedrohungen nie ganz verhindern können, weil es immer Personen geben wird, die sich Lücken im Netz suchen. Wir müssen uns fragen, ob es uns Wert ist, unsere Freiheit für ein Mehr an Sicherheit einzuschränken.

Eule: In den vergangenen Wochen wurde erneut eine Klarnamenpflicht im Internet diskutiert. Das käme den Ermittlungsbehörden doch sehr entgegen, oder?

Thüne: Ich bin gegen eine Klarnamenpflicht. Sie würde vielleicht Ermittlungen erleichtern, aber Pflicht bedeutet eben auch: Das betrifft alle. Jeder wäre jederzeit identifizierbar. Normalerweise ist es so: Wer sich nichts zu Schulden kommen lässt, der muss auch nicht permanent für eine Behörde greifbar sein. Wollen wir völlig gläsern sein, auch gegenüber staatlichen Behörden? Die Klarnamenpflicht ist auch deshalb eine schlechte Idee, weil sie gerade Betroffene und Vereine, die sich für Demokratie und gegen rechts engagieren, identifizierbar macht. Das würde den Straftätern voll in die Hände spielen und zu weiteren Bedrohungen führen.

Eule: Für Pfarrer*innen ist das ja Teil des Problems. Sie stehen qua Amt in der Öffentlichkeit, Name und Adresse sind bekannt. Wie gehen wir mit so einer aufgezwungenen Öffentlichkeit um?

Thüne: Das ist wirklich eine interessante Frage, weil wir ja einerseits wollen, dass Personen in öffentlichen Ämtern wie Bürgermeister*innen, Künstler*innen oder auch Pfarrer*innen als Personen auftreten und für die Gesellschaft einstehen. Die Demokratie braucht Menschen, die Gesicht zeigen. Wir müssen eine Balance finden zwischen diesem Bedürfnis der Öffentlichkeit und dem Schutz der Persönlichkeit.

Für Pfarrhäuser, deren Adressen ja allgemein bekannt sind, stellt sich auch die Frage nach technischen Schutzvorkehrungen, wenn es denn angezeigt ist. Am Ende wird es aber nie die eine Maßnahme geben, die Erfolg verspricht. Wir brauchen stets einen guten Mix aus mehreren Dingen: Ein gemeinsames Werteverständnis, Menschen mit Haltung, funktionierende Netzwerke vor Ort, sensibilisierte und gut ausgestattete Sicherheitsbehörden und im konkreten Fall möglicherweise zusätzliche Schutzmaßnahmen, seien sie technischer oder personeller Natur.