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WM-Boykott: Wider die Moral-Schiedsrichter

Soll man sich die Winter-WM im Fernsehen anschauen oder nicht? Egal wie man sich entscheidet, zu besseren Menschen macht uns der Moralismus nicht. Ein Kommentar zur Fußball-WM in Katar.

Ich freue mich immer auf die Fußball-Weltmeisterschaften, aber gleichzeitig sind Fußball-Großereignisse spätestens seit 2006 auch immer eine Anfechtung für mich. Jede*r ist dann Regelexpert*in und das bedeutet gerade in Public-Viewing-Situationen: Es wird anstrengend. Denn ich war und bin im Herzen immer noch Fußballschiedsrichter. „Nein, Elke, das war kein Elfmeter. Es war ja im eigenen Strafraum.“ „Nein, Thorsten, auch wenn der Lahm so schützenswert aussieht, ist nicht jeder Rempler gegen ihn eine rote Karte wert.“

Doch die WM dieses Jahr in Katar übertrifft das alles noch. Nicht, weil die Spiele in der Adventszeit stattfinden und deshalb für Menschen im Pfarrberuf schwer zu schauen sind. Nein, auch weil bei dieser WM alle Beobachter*innen nicht nur Regelexpert*innen, sondern auch Moralexpert*innen sein können. Mindestens drei Strategien im Umgang mit der Winter-WM in Katar sind mir aufgefallen:

„Ich boykottiere!“

Die erste Gruppe ist zurzeit die lauteste Gruppe. Es ist die Mannschaft, die bei jeder bietenden Gelegenheit deutlich macht, dass Sie die WM boykottiert. Unter Schmerzen zwar, aber jede*r muss seinen Teil tun. Es ist die Gruppe, die das große Opfer trägt und auf Missstände aufmerksam macht. Die Steigerung bzw. die höhere Ordnung dieser Gruppe sind diejenigen, die auch alle Sponsoren der WM boykottieren wollen – und das vor allem in Sozialen Medien deutlich machen: Die „Last Generation“ der Fußball-Fans. Mutige Frauen und Männer, die ihren Weg gehen.

Und natürlich, sie haben ja Recht: Diese WM hätte niemals an Katar gehen dürfen und die Lage der Menschenrechte im Land ist katastrophal. Der Termin des Turnieres und die massiven Auswirkungen aufs Klima sind völlig idiotisch.

„Fußball war mir schon immer scheiß-egal!“

Die abgeklärtere Einstellung. Hier versammeln sich diejenigen, die bei vergangenen WMs nur mitgeschaut haben, wenn Sie unbedingt mussten und sich eigentlich gar nicht richtig gefreut haben. Denn Fußball ist ja eh ein komischer Sport, zu schwächlich, zu europäisch und „(American) Football ist sowieso viel besser“. Diese Gruppe wusste schon immer, dass Fußball gelddominiert ist, weshalb die WM in Katar nur die Bestätigung ist für das, was ihnen schon immer klar war. Dennoch lassen Sie es sich nicht nehmen, auch dies zu verkünden. Sie tragen zwar kein Opfer, aber es ist ihnen wichtig, dass die Menschen um ihre moralische Überlegenheit wissen. Endlich kann man es mal sagen!

„Ich unterstütze meine Mannschaft!“

Und dann tritt gerade in den letzten Tagen noch eine letzte Gruppe auf, gerade auch im Rahmen der evangelischen Kirche. Umso weiter die deutsche Nationalmannschaft im Tableau des Turniers vorrücken wird, so sie es denn tut, desto größer wird sie werden. Diese Mannschaft erkennt an, dass es moralisch falsch ist, diese WM anzuschauen. Sie sieht also das Gleiche, das auch die Boykott-Gruppe wahrnimmt.

Aber dennoch: So ein bisschen WM-Schauen, das muss schon sein. Wie wäre es also mit dem Trick, die WM zur Ehre und Hilfe der Sportler anzuschauen? Ja, diese Gruppe würde gerne boykottieren, weiß aber, dass Neuer & Co. auf die am heimischen Fernseher mitfiebernden Anhänger*innen angewiesen sind. Also wird – der Mannschaft zuliebe! – geschaut, auch wenn man lieber nicht schauen wollen würde.

Und jetzt?

Alle drei Positionen sind nicht das Gelbe vom Ei. Die WM wird weniger gute Einschaltquoten einfahren als manches Vorgängerturnier, aber wahrscheinlich wird das zu großen Teilen nicht am reflektierten Boykott liegen, sondern schlicht daran, dass die WM in diese Jahreszeit und in diese Weltlage gerade überhaupt nicht passt. Ja, vielleicht spielen dann auch moralische Gründe mit rein.

Müsste es nicht gerade aus Sicht eines Schiedsrichters völlig klar sein, dass diese WM zu verurteilen ist? Abpfiff aus moralischen Gründen? Mindestens zwei Dinge verkennt so eine Position: Die WM und ihre Ausrichtung ist kein klar umgrenztes Spiel von 90 Minuten mit deutlich umrissenen Akteur*innen und einem begrenzten Spielfeld. Die ineinander wirkenden Mechaniken und Systeme dieses großen Spiels, lassen sich kaum in einem Regelwerk festhalten, wie es das für das Spiel auf dem Rasen gibt.

Und: Sinn eines Schiedsrichters ist es gerade nicht, moralische Werte durchzusetzen. Wenn sich ein Spieler an die Regeln hält, dann kann ich ihn nicht für Dinge bestrafen, die in meinen Augen moralisch verwerflich sind. Nur weil er sich z.B. nicht an die ungeschriebenen Regeln des Fairplay hält, kann ich ihn dafür nicht mit einem Elfmeter gegen seine Mannschaft bestrafen.

Die Unterscheidung von Recht und Moral ist wichtig, zeigt sie doch, dass die Menschenrechte – soviel Sie uns auch bedeuten – in manchen Kontexten eben wirkungslos sind, da Sie nicht durchgesetzt werden können. Sie sind, gerade auf dem Parkett internationaler Politik und Wirtschaft, auf der Ebene moralischer Normen verortet. Das ist sicherlich kritikwürdig.

Wider den Moralismus

Ärgerlich und ebenfalls nicht produktiv ist allerdings auch der Moralismus, der sich in allen Positionen finden lässt und der, wie so oft, versucht, diese systemischen Probleme auf die individuelle Ebene zu verlagern. Er verkennt mindestens, dass ein WM-Boykott maximal symbolischen Charakter hat. Unser individuelles Leben funktioniert nur, weil vieles gerade eben nicht funktioniert. Die globalisierte Welt ist ein vernetztes System, das schwer zu durchschauen ist und in dem wir alle schuldig werden.

Natürlich ist es, wie gesagt, wichtig, an den Verhältnissen etwas zu ändern, unser Leben zu überdenken, usw. Aber das funktioniert nur im begrenzten Rahmen und entlastet die Politik nicht, Weichenstellungen zu treffen und Strukturen zu verändern. Veränderungen individueller Verhaltensweisen sind, eben weil Sie nur begrenzt sind, keine überragenden moralischen Handlungen, die man wie ein Märtyrer vor sich her tragen sollte. Das Nicht-Schauen einer WM ist nun wirklich keine Leistung, die man Beifall heischend anpreisen muss. Und wenn man sich dennoch Spiele anschaut, dann muss man das auch nicht rechtfertigen, indem man die Bedeutung des Zuschauens „für die Mannschaft“ heraushebt.

Hier geht es erkennbar um Distinktionsgewinne und die Kommunikator*innen sind darauf aus, moralisches Kapital aufzubauen. Wer das braucht, wegen mir. Aber, und das ist nun nicht nur eine Position aus der Perspektive des Ethikers, sondern auch aus der des lutherischen Theologen: Es macht euch nicht zu besseren Menschen. Ob ich die WM schaue? Sicherlich nicht so intensiv wie einst. Die Zeit fehlt. Die Spiele der deutschen Mannschaft werde ich mir schon zu Gemüte führen. Mal schauen, vielleicht werden es, auch unter diesen Umständen, ja doch ein paar gute Spiele.