Wie kommen wir zu unseren Politiker:innen?
Markus Lanz und Jan Böhmermann streiten sich bei der ZEIT. Eine spannende Frage aber beantworten die Teilnehmer des „Triells“ nicht: Wie kommen wir eigentlich zu unseren Politiker:innen?
Im sogenannten „Triell“ der langen Nacht der ZEIT trafen sich am Wochenende ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, Markus Lanz und Jan Böhmermann im Hamburger Michel, um über den Wahlkampf und die Rolle der Medien zu diskutieren (komplettes Video hier). Das wäre eigentlich völlig unerheblich, aber der Wunsch der ZEIT ist bei dieser Dankes-Aktion an die Leser:innenschaft diesmal komplett aufgegangen:
Im Netz ereifern sich unter Anstachelung durch die Konkurrenz von WELT und BILD Menschen über einen hitzigen Austausch von Böhmermann und Lanz zum Thema false balance. Böhmermann beschwert sich, dass bei Lanz auch Leute wie Alexander Kekulé und Hendrik Streeck eingeladen würden. Streeck lag seit Beginn der Corona-Pandemie häufig genug daneben, wie Übermedien bereits im Februar feststellte. Seine Voraussagen haben im Netz inzwischen die Form eines Memes angenommen, nachdem wahrscheinlich das eintrete, was Streeck zuvor ausgeschlossen habe.
Es ist keine sonderlich tiefsinnige Passage des ohnehin wenig interessanten Gesprächs, in der sich Böhmermann mit seiner Forderung gegen Lanz und Gastgeber di Lorenzo wendet. Di Lorenzo gehört innerhalb der von ihm angeführten Redaktion zu den Verfechter:innen eines weiten Meinungskorridors, was man angesichts eines anderen, nur kurz angerissenen Themas des Abends nur begrüßen kann: Die mediale Darstellung der KanzlerInnen-KandidatInnen ist nämlich durchaus kampagnenhaft bzw. funktioniert auch in diesem Bundestagswahl vor allem herdenumtriebig.
Erst wurden Annalena Baerbock, die Grünen und auch Markus Söder hochgeschrieben, nur um im Falle der grünen Kandidatin später umso eingeschnappter Abstand zu nehmen. Der Wechsel fiel fast auf den Tag mit der Wiederentdeckung von Olaf Scholz zusammen. In Interviews bekundeten die Grünen-ChefInnen Baerbock und Robert Habeck Interesse auch an Jobs als MinisterInnen, und machten damit das Feld für den letzten verbliebenen Konkurrenten von Unionskandidat Armin Laschet frei.
Die drei Diskutanten hätten also mitten im Wahlkampf genug Gelegenheit gehabt, über die Rolle der Medien im Wahlkampf und ihre Selbstwahrnehmung als politische Meinungsmacher zu diskutieren. Noch eine weitere günstige Gelegenheit ließen sie verstreichen:
Es war Markus Lanz vorbehalten in einem länglichen Monolog auf die KandidatInnen-Auswahl der Parteien zu sprechen zu kommen – über die man, so Lanz, sowieso mal „lange“ gesamtgesellschaftlich diskutieren müsste („Wie rekrutieren wir politisches Spitzenpersonal?“, ab 30:35 Min). An den Beispielen Heiko Maas, Baerbock und Laschet erklärte er, dass es häufig parteiinterne Überlegungen sind, die Personalentscheidungen zugrunde liegen. Und das wäre suboptimal. Wie also kommen die Parteien zu ihrem Spitzenpersonal?
Parteiinternete Logik vs. Volkswillen?
Die Fehler geschehen jedenfalls nicht erst, wie Lanz bei seinem eigenen Antwortversuch ausführte, bei der Besetzung von Ministerposten (Maas, weil es Sigmar Gabriel nicht werden sollte, nachdem es Martin Schulz nicht werden durfte) oder Spitzenkandidaturen.
Ja, Laschet ist Kanzlerkandidat der Union, weil sich das CDU-Establishment (die Namen Schäuble und Bouffier werden immer wieder genannt) einen CSU-Kanzler nun überhaupt nicht wünschte. So verspielte die Union (Stand: 6. September 2021) den sicher geglaubten Wahlsieg. Man nennt das Hybris: Denn auch ein Kandidat Söder hätte erst einmal die Wahl gewinnen müssen, was er mit Blick auf die strukturkonservative Wähler:innenschaft in Deutschland jedoch bestimmt getan hätte. Die Union aber verfügt eben nicht im CDU-Präsidium über die Kanzlerschaft, das machen die Wähler:innen.
Und ja, die Grünen würden, ebenfalls Stand jetzt, wohl besser abschneiden, wenn sie statt von Baerbock von Habeck in die Wahl geführt würden. Nur: Ob sie mit Habeck tatsächlich eine Chance auf das Kanzleramt gehabt hätten, weiß niemand. Jedenfalls ist es Baerbock nicht zum Vorwurf zu machen, dass sie ihr parteiintern verbrieftes Anrecht auf den ersten Zugriff auf die Kandidatur auch in Anspruch genommen hat, und nicht im entscheidenden Moment wieder einem Mann den Vor(bei)zug gestattete.
Dass die Grünen zwar zwischen den Wahlen stark, am Wahltag aber immer wieder rätselhaft schwach abschneiden (einzige Ausnahme: die vergangene Europawahl), ist nicht nur Annalena Baerbock anzulasten. Dieser Tage war über Habeck zu lesen, er hätte schon vor Jahren einen Masterplan als Buch zu Papier gebracht, wie das mit dem grünen Kanzleramt funktionieren würde. Tja, Bücher haben viele Politiker:innen schon geschrieben.
Wenn die Grünen am Wahlabend ihren Stimmenanteil im Vergleich zur letzten Bundestagswahl verdoppelt haben sollten, sollte dies nicht auch und besonders der Erfolg ihrer Spitzenkandidatin sein? Für die Ambitionen auf das Kanzleramt gilt in leichter Abwandlung der alte Steinbrück-Satz: Hätte hätte Lastenfahrradkette. Die deutschen Wähler:innen suchen nach 16 Jahren Merkel eben nicht nach Aufbruch, sondern nach einem Strohhalm der Berechenbarkeit.
Womit hat Lanz denn nun recht?
Es ist das grundgsetzlich verankerte Recht der Parteien, an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Dazu gehört auch, nach je eigenen, demokratisch verabredeten Mechanismen, Kandidaturen zu organisieren, seien das Plätze auf Landeslisten oder auch Personalentscheidungen bei Spitzenkandidaturen. Ingesamt ist Deutschland mit diesem Vorgehen nicht schlecht gefahren. Zumeist lässt sich so nämlich sicherstellen, dass einE KanzlerIn auch ihre Fraktion (und Koalition) hinter sich versammelt weiß – wenn man nicht gerade SPD-Kanzler ist.
Lanzens Frage gewinnt jedoch an Berechtigung und Dringlichkeit, wenn man aus ihr das „Spitzen-“ streicht: Wie rekrutieren wir politisches Personal? Zwei Bewegungen lassen sich hierzu beobachten.
Erstens hat unserer prinzipiell arbeitsteilige kapitalistische Gesellschaft den/die Berufspolitiker:in hervorgebracht. Nothing wrong with that, denn die Anforderungen an Fachlichkeit, Engagement und Lebenszeit, denen sich Politiker:innen stellen müssen, sind in den vergangenen 50 bis 60 Jahren gewaltig gestiegen. In der repräsentativen Demokratie erteilen wir Politiker:innen das Mandat, in unserem Sinne Entscheidungen zu fällen. Und sie sollen sich mit den behandelten Themen auch noch deutlich besser auskennen als die Durchschnittsbürger:innen – was ihnen schwer fällt, denn genau das sind sie ja.
Wer es in der Politik zu etwas bringen will, der/die tritt am besten früh in eine Partei ein, studiert dann irgendetwas mit sozialwissenschaftlichem, juristischem oder volkswirtschaftlichem Hintergrund, während sie/er sich bereits in den Jugendabteilungen und Hochschulgruppen seiner/ihrer Partei betätigt. Von zentraler Bedeutung sind die Mitarbeit in Büros von Abgeordneten, bei Wahlkampagnen und Praktika in der Bundestagsverwaltung. So lernt man heute Politik.
Mehr „direkte Demokratie“ wagen?
Wer also will, dass wieder mehr „Normalbürger:innen“ in den Parlamenten sitzen, solche mit Erfahrung in anderen Berufen als dem der/des Berufspolitiker:in, muss entweder davon Abschied nehmen, in jede:r Abgeordneten unbedingt eine:n Expert:in für mehrere Politikfelder vor sich stehen haben zu wollen oder aber an der Verfassung unserer repräsentativen Demokratie feilen:
Das wollen ja – zumindest gefühlsmäßig – nicht wenige: Noch jede Parteineugründung seit der Wiedervereinigung hatte als ein Politikangebot die Forderung nach mehr „direkter Demokratie“ im Gepäck, auch wenn sie nur selten so konkret ausformuliert wurde, wie es im Falle der Piraten-Partei geschehen ist. Damals sollten – lang ist’s her – die Neuerungen der Digitalisierung der Demokratisierung der Gesellschaft Vorschub leisten, indem die Bürger:innen per Mausklick mitentscheiden.
Zumeist aber meinen die neuen Parteien von AfD über dieBasis usw. damit nur eine Orientierung am sogenannten „Volkswillen“, der – so viel ist sicher – um einigermaßen kohärent zu sein die Interessen von Minderheiten, Zuwander:innen und all jenen nicht inkludiert, die sich eine inklusive und keine einheitliche Gesellschaft wünschen.
Wo bleibt die (Partei-)Jugend?
Eine zweite Bewegung betrifft vor allem die Jugend: Die hat nämlich ähnlich wie bei Kirchens und in der Welt der Vereine so auch in der Parteipolitik keinen Bock auf Langatmigkeit, auf Kärrnerarbeit im Bauch einer Großorganisation. Politisches Engagement ist volatil geworden, Stimmungsschwankungen unterworfen, weniger korporativ, sondern individuell, spontan und an Partikularinteressen gebunden. Das begründet die Schwäche der Volksparteien. (Und übrigens trifft dies nicht allein auf die Jugend zu, der Osten ist was die Partei-Abständigkeit angeht hier dem Westen ein Vorreiter.)
Beispiel DIE LINKE: Nicht wenige prophezeiten der Partei das Aussterben, denn ihre alte Wähler:innenbasis im Osten stirbt tatsächlich weg oder hat sich neuen Protestparteien zugewandt. Doch hat die Partei zumindest den Wegfall von Parteimitgliedern in den vergangenen Jahren durch Eintritte junger Menschen kompensieren können. Zwei Drittel der Parteimitglieder sind heute unter 35 Jahre alt. Der Regierungsfähigkeit hat dies allerdings nicht auf die Beine geholfen.
Die meisten dieser jungen Parteimitglieder verstehen DIE LINKE als „Bewegungspartei“, die sich im Bündnis mit vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen für alle möglichen sozialen und gesellschaftspolitischen Reformen einsetzt. Wahnsinn! Da gibt es also eine Menge von knapp 40 000 jungen, idealistischen Menschen allein in dieser einen Partei, von den zahlreichen Eintritten bei den Grünen und den immer noch starken Jusos nicht zu reden, und trotzdem findet eine von diesen Menschen gewünschte progressive, reformorientierte, zupackende Politik (fast) keinen Weg in die Parlamente. Kann das wirklich nur am Überhang der Boomer und an der Übermacht der Rentner:innen an der Wahlurne liegen? Oder sagt es nicht auch etwas wesentlich Unbequemeres über die zumeist jungen Aktivist:innen aus?
Mittelmaß dank Wohlstand: Halleluja!
Wie rekrutieren wir politisches Personal in unserer Gesellschaft? Vielleicht verbirgt sich hinter der Lanzschen Frage doch jenes alte Dilemma sozialer Bewegungen, wie die Objekte politischer Visionen zu ihren Subjekten werden.
Ganz früher einmal wollten die Linken, dass das Proletariat selbst für seine Rechte kämpft. Die Hoffnung hatte selbst Marx schon zu Lebzeiten begraben. Das Proletariat verarmte, anders als von ihm vorausgesagt, nicht, sondern wurde durch Sozialpolitik am wachsenden Wohlstand beteiligt, allzumal und in Westeuropa endgültig nach den Verheerungen des 2. Weltkrieges. Heute wird Politik von den Enkel:innen und Urenkel:innen dieser Menschen gemacht.
Dass es trotz aller existentiellen Bedrohungen, wie zum Beispiel durch den Klimawandel, wenig revolutionär zugeht und sich die Bevölkerung in ihrer Mehrheit durch die Wahlentscheidung eher politisch entlasten als belasten will, hat vermutlich auch damit zu tun, dass sich die politischen Akteur:innen in allen Parteien (uneingestandener Maßen?) sehr ähnlich sind. Oder anders: Wer sich nicht an die Sehnsucht nach dem „neuen Menschen“ verschwenden will, wird mit den Normalbürger:innen mit Mandat vorliebnehmen müssen. Für die gilt dann aber auch, was di Lorenzo für seine Redaktion beim Thema false balance in Anspruch nimmt: Fehler werden gemacht, es kömmt aber darauf an, sich anständig zu ihnen zu verhalten.
Coram Mundo: Eule-Serie zur Bundestagswahl 2021
In einer siebenteiligen Serie von Analysen und Kommentaren widmen wir uns in diesem Jahr der Bundestagswahl am 26. September. Unsere Autor:innen beleuchten verschiedene Aspekte der politischen Landschaft vor dem Urnengang. Dabei schreiben sie aus unterschiedlichen politischen und thematischen Perspektiven. Diskutiert gerne mit, hier in den Kommentaren und auf unseren Social-Media-Kanälen!
Der Artikel wurde an einigen Stellen präzisiert. (6. September 2021, 20:30 Uhr)