Zeitenwende oder Endzeit: Was wir nicht glauben wollen

Auf immer neuen Gipfeln suchen die Staatenlenker Antworten auf die Apokalypse. Währenddessen rennt uns die Zeit weg. Leben wir in einer Zeitenwende oder ist die Endzeit angebrochen?

Wie sie die Welt empfände, wurde die Berliner Singer-Songwriterin Dota Kehr am 27. Juni beim G7-Gipfel in Elmau gefragt. „Die Welt ist längst dabei unterzugehen, nur nicht für alle zugleich. So empfinde ich die Stimmung“, antwortete sie. Dota Kehr ist nicht die einzige Warnerin, die in ihren Sätzen und Liedern eine apokalyptische Haltung zeigt. Dass der Lauf der Geschichte in der Gegenwart endet, dass das Ende bereits vor der Tür steht, gehört zur apokalyptischen Grunderzählung.

Wie in den apokalyptischen Büchern biblischer Zeit ist dabei eine Umkehr das Ziel der Erzählung. Es ist noch nicht ganz zu spät, aber es ist „höchste Zeit“. Schaut umher, geht in Euch, seht, was kommen könnte, und kehrt um!

Das gilt heute besonders für die ökologische Katastrophe. Sie wird aber nicht wie bei den Prophetinnen oder Jüngern Amos, Hulda, Jona oder Johannes religiös begründet, sondern mit naturwissenschaftlicher Prognostik. Das Gefälle zur Katastrophe wird ausrechenbar (Gregor Taxacher, Apokalypse ist jetzt, 2012). Eine zahlenbasierte Apokalypse kommt in den Blick: „Wir… aller apokalyptischer Frömmigkeit ledig… sind bedroht von einer anderen finsteren Wolke von Daten und Zusammenhängen“ (Carl Amery, Publik Forum, 1996). Diese Warnung gilt seit Jahrzehnten, und die Zukunft bewegt sich wie eine Wand auf einen zu.

Seit Vladimir Putin am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel und Bundeskanzler Olaf Scholz nur wenig später die „Zeitenwende“ und damit auch eine neue Gewichtung des Militärischen in der deutschen und europäischen Politik verkündete, ist der Blick auf das, was war, was ist und was kommen wird, keineswegs besser geworden. Beim G7-Gipfel in Elmau Ende Juni stand die scheinbar heile Welt im Alpenidyll im scharfen Kontrast zu den ganz unidyllischen Problemen der Gegenwart, in der auch die ökologischen Faktoren unserer multiplen Krise sich weiter unheilvoll verdichten.

Ein Endzeit-Szenario ist wahrscheinlich

An und für sich werden die Erderhitzung oder die Biodiversitätskrise zwar als wesentliche „Herausforderungen“ anerkannt, aber nicht von allen gleichermaßen dringlich beantwortet, sondern anderen Gütern und Werten und anderer Logik als der von Biologie und Physik untergeordnet: „Wir müssen pragmatisch vorgehen beim ambitionierten Ziel Klimaschutz“, heißt es wieder einmal, etwa am 26. Juni im Gespräch von Tina Hassel mit Manfred Weber im „Bericht aus Berlin“, und beruhigt diejenigen wohl kaum, die im Interview vorsorglich schon mal als „naiv“ gelten, da sie nicht bedenken, dass Mitbewerber*innen wie China sich die ökologische Transformation nur von Weitem ansähen.

In Anbetracht der militärischen Konfrontation aber, so Weber, „stehen [wir] in dieser Zeitenwende“. Apokalyptisch ist dies beim EVP-Vorsitzenden und anderen Politker*innen nicht gemeint. Daran ändert auch nichts, dass selbst ein Atom-Krieg oder ein ungewollter Reaktorunfall für ein geradezu endzeitliches Szenario wieder wahrscheinlicher geworden sind.

Die Intention der in Interviews und Stellungnahmen die letzten Wochen und Monate immer wiederkehrenden Wiederholung der „Zeitenwende“, die so zum politischen Narrativ geformt wird, ist eine andere: Es gilt, sich auf das Szenario eines noch länger andauernden Stellungskrieges einzustellen und zu rüsten. Bestimmte Notwendigkeiten und Opfer brächte dies „erst einmal“ mit sich. Nicht am Abgrund, sondern an einem Übergang ständen wir, jetzt gelte es durchzuhalten, versucht das „starke Wort“ von der „Zeitenwende“ zu suggerieren.

Als Olaf Scholz Ende Februar die „Zeitenwende“ etablierte, bediente er sich aber eines Narrativs der ökologischen Bewegung, nämlich, dass wir uns in einer „Zeitenwende“ befänden und unsere Lebensverhältnisse umkippen könnten, wenn wir jetzt nicht entschieden handeln. Mehrfach hatten Themenhefte zum „Anthropozän“ das Wort „Zeitenwende“ als Titel wie das der Literaturzeitschrift Allmende, aber erst die Rede des Bundeskanzlers brachte es mit neuer Bedeutung zur medialen Omnipräsenz.

So kommt es nun, dass die endzeitliche Bedrohung, auch ökologisch gesehen, wie ein Bedeutungsstummel immer noch mitschwingt, wenn die Rede von neuen strategischen und militärischen Notwendigkeiten ist. Und das ist nicht nur so, weil in der Ukraine derzeit auch ökologische Kriegsverbrechen massiven Ausmaßes geschehen.

Warnungen zur Unzeit

In der Klima-Forschung, aber auch beim Artenschutz spricht man von Tipping Points, die nicht überschritten werden dürften, da wir ihre katastrophalen Folgen auf das Erdklima und Ökosysteme nicht mehr kontrollieren könnten. Entsprechend alarmistisch waren auch die Statements selbst von Staatenlenkern bei der Klimakonferenz letztes Jahr in Glasgow, dass es bereits „5 nach 12“ sei und wir keine Zeit mehr zu verlieren haben, wenn wir in Zukunft noch gut leben wollen.

Da sich die Folgen unseres Handelns ökologisch immer erst mit Verzögerung, langfristig und für unser Alltagsbewusstsein langsam auswirken, muss tatsächlich immer „zu früh“ gewarnt werden. Sobald wir das Vorhergesagte schmerzlich am eigenen Leibe spüren, ist es bereits zu spät, um es noch ändern zu können. Diese Konsequenz gilt im gemäßigten Klima des globalen Nordens und damit zugleich in den Hauptverursacherländern des Klimawandels noch einmal mehr. So liegt es in der Natur der Sache selbst, dass die Untergangsszenarien immer wieder übertrieben wirken, auch wenn sie wissenschaftlich belegt sind.

Ein Motiv prophetischer Erzählungen ist der Unglaube der Herrschenden und des Volkes in Anbetracht des Untergangs. Die prophetisch-biblische Tradition lässt sich dabei durchaus auf die naturwissenschaftliche Prognostik der Gegenwart beziehen; unsere Gegenwart lässt sich sogar insgesamt sehr plausibel in den apokalyptischen Texten jüdisch-christlicher Tradition lesen, wenn diese nicht eins zu eins übernommen, sondern kritisch weitergeführt werden.

Menschliche Grunderfahrungen der Ohnmacht, des Glaubens, der Gewalt und Resilienz sowie ethische Handlungsmöglichkeiten der Buße und Umkehr ließen sich dort erkennen, aber auch eine gewisse politische Renitenz gegenüber der Wirklichkeit, die geschichtlich, weiß Gott, nicht einmalig ist.

Was wir nicht glauben wollen

Eine der zentralen Vereinbarungen der Klimakonferenz in Glasgow Ende letzten Jahres wurde jetzt erst wieder aufgeweicht: Dort hatten die G7 versprochen, bis Ende 2022 fossile Energieprojekte im Ausland nicht mehr zu finanzieren. Jetzt kündigten Kanzler Scholz und seine Kollegen der G7 aber an, in Gasbohrungen und Gastransporte sogar noch mehr investieren zu wollen. Besonders dem Senegal wurde von Deutschland Unterstützung versprochen, weitere Erdgasfelder zu erschließen.

Ist das angesichts der Situation nun das richtige „Augenmaß“ und der vernünftige „Pragmatismus“ bei den „ambitionierten Klimazielen“? Was verheißt das für die kommende Zeit und die kommenden Vereinbarungen, etwa beim G20-Gipfel im November auf Bali?

Das apokalyptische Grundgefühl wird wohl so schnell nicht weichen. Die Fakten und Daten werden weiter gegen uns arbeiten und zeigen, dass wir, „aller apokalyptischer Frömmigkeit entledigt“, einfach nur noch nicht glauben wollen, was wir längst wissen: ein „Weiter so“ im Verbrauch der Lebensgrundlagen unserer Erde führt nicht nur in die Katastrophe, sondern verstärkt die bereits begonnene (Benjamin/Gütter). Wir stehen in dieser Zeitenwende, und sie hat endzeitlichen Charakter.