Kirche

Zukunft der Kirchen: Die Baerbock-Christen sind wichtig!

Leiden die Kirchen in Deutschland an einem „Sehnsuchts-Burnout“? Warum die Kirchen zu ihrem Selbsterhaltungstrieb stehen und dabei ganz profan denken sollten.

Der Benediktinermönch Nikodemus Schnabel diagnostiziert den Kirchen in Deutschland einen „Sehnsuchts-Burnout“ und empfiehlt in seinem heutigen „Standpunkt“ bei katholisch.de, „dass bei einigen aktuellen kirchlichen Diskussionen in Deutschland ab und zu auch einmal zu einem religionssoziologischen Buch gegriffen“ werden sollte. Mit seinem kurzen Kommentar legt Pater Nikodemus den Finger in die Wunde:

Weder „eine neue Glaubwürdigkeit“, „einige strukturelle Reformen – oder in konservativer Spielart eine Profilschärfung“ werden eine Trendwende „für das Kirchesein in Deutschland“ bringen. Das stimmt, und müsste progressiven Reformer:innen wie konservativen Bewahrer:innen des Status quo gleichermaßen zu denken geben. Schnabel fragt zu Recht: „Wie kann man nur so tun, als ob die Kirchenkrise in Deutschland lediglich eine Institutionenkrise wäre?“

Von der Religionssoziologie könne man zum Beispiel lernen, „dass eine überwältigende Mehrheit ‚konfessionslos glücklich‘ sei“. Ja, dass Menschen nicht aus den Kirchen austreten, um woanders oder für sich spirituell und fromm zu leben. Tatsächlich: Wer aus den großen Kirchen austritt, wendet sich nur äußerst selten einer anderen Glaubensgemeinschaft zu.

Ob und in welchem Ausmaß es außerhalb der verfassten Religionsgemeinschaften so etwas wie Religiosität überhaupt gibt, ist die Kardinalfrage der gegenwärtigen Religionssoziologie. Was die empirische Forschung angeht, deutet sich eher ein „Nein“ an; trotz der widersprüchlichen Selbstauskünfte einiger Menschen, die meinen: „Für meinen Glauben brauche ich keine Kirche“. Zu welchen Ergebnissen die Religionssoziologie kommt, ist allerdings mindestens so sehr davon abhängig, was die Forscher:innen als Religiosität gelten lassen, wie von den empirischen Befragungen.

Wenn man Glauben nicht allein als Bewegung des Geistes versteht, sondern als Praxis und als etwas, das Alltag und Lebensstil prägt oder doch zumindest begleitet, dann wird man außerhalb der Religionsgemeinschaften danach zumeist vergeblich suchen. Die Religionsforschung findet heraus, was die Altvorderen schon wussten: „Zwei sind besser als einer allein, denn wenn sie hinfallen, richtet einer den anderen auf. Doch wehe dem, der allein ist, wenn er hinfällt, ohne dass einer bei ihm ist, der ihn aufrichtet.“ (Prediger 4, 9a.10)

Individualisierung vs. Säkularisierung

Die Religionssoziologie wird beherrscht von einem Gegeneinander zweier Haupterklärungen für das Schrumpfen der Religionsgemeinschaften: Die einen meinen, dass Individualisierung hier die Triebkraft ist. Menschen würden heute eben das glauben, was sie selbst für richtig und für den Moment stimmig empfänden. Eine verbindliche Gemeinschaft oder gar Regeln bräuchten sie dafür nicht. Dem Protestantismus wohlgesonnene Denker:innen sprechen hierbei von der konsequenten Fortsetzung der „Selbstsäkularisierung der Kirche“ (Wolfgang Huber). Wer dokumentieren will, dass er diesem religionssoziologischen Paradigma viel abgewinnen kann, spricht daher gerne auch von „Konfessionsfreien“ statt von „Konfessionslosen“.

Der Individualisierungs-These steht die Säkularisierungs-Hypothese gegenüber, nach der sich der Glaube in einer aufgeklärten, naturwissenschaftlich gebildeten und kapitalistischen Gesellschaft verflüchtigt. Für die Leute sind schlicht andere Strukturen und Denkmuster wichtig und erforderlich als traditionelle Religionen. Dieser Annahme steht allerdings bis auf weiteres entgegen, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten sich einer Religion zurechnet: Kapitalismus und Aufklärung zum Trotz.

Auch wenn man sich keines der im Streit liegenden religionssoziologischen Paradigmen, also Individualisierung oder Säkularisierung, zu eigen macht, kann man sicher festhalten: In einer Gesellschaft, in der die Bedeutung der verbindlichen Religiosität nachlässt, ist es eher unwahrscheinlich, dass die Kirchen aus eigenem Bemühen heraus wachsen werden. Lässt man Individualisierung und Säkularisierung im Stil einer Küchen-Religionssoziologie zugleich gelten, ergibt sich ein differenziertes Bild der Glaubenslandschaft: Wie der Glaube gelebt wird, ist hochgradig milieuabhängig.

In beiden großen Konfessionen setzen die progressiven Reformer:innen ihre Hoffnung auf ihresgleichen: Verhältnismäßig junge, überdurchschnittlich gebildete und vermögende Menschen. Die dazugehörigen Milieus sind allerdings eben auch überdurchschnittlich von Individualisierung und Säkularisierung bestimmt. An sie als Institution Kirche heranzutreten, ist also eine schwierige Kiste und die Frage ist offen, wie sehr sich die Kirchen ihren Lebensstilen anzupassen vermögen, ohne ihr Ureigenes aufzugeben.

Konservative Bewahrer:innen hingegen setzen, wie Schnabel treffend formuliert, auf „Profilschärfung“. Im Katholizismus ist „Neuevangelisierung“ dafür die Chiffre. Es ist völlig klar, dass man damit genau jene nicht erreichen wird, die die Kirchen verlassen, weil sie schlicht nicht glauben. Gerade junge Menschen geben das in großer Offenheit als Grund für ihren Kirchenaustritt an. Gleichwohl gibt es Milieus, in denen konservative Werte wie Gemeinschaftssinn, Familie, Treue und Pflichtbewusstsein so hoch im Kurs stehen, dass sie von einer Profilschärfung angesprochen würden. Langfristig aber wird eine Pastoral, die sich ausschließlich darauf verengt, zu einer Versektung der Kirchen führen.

Die Konfessionslosen in der Kirche

Sowohl in der Religionssoziologie als auch in der kirchlichen Befassung mit deren Ergebnissen bleibt eine Gruppe allerdings häufig im Hintergrund: Die Konfessionslosen in der Kirche. Also Menschen, die aus freien Stücken als Nicht- oder Selten-Gläubige trotzdem Mitglied in einer Kirche sind und bleiben. Auf wie viele der 98 % der Kirchenmitglieder, die bleiben, das zutrifft, ist schwer zu sagen, aber religionssoziologische Studien weisen nach, dass eigentlich nur recht wenige Kirchenmitglieder im vollen Umfang glauben, was ihre Religionsgemeinschaften verkündigen.

„Eine Großzahl ihrer Kirchenmitglieder ist aus familiären Gründen mit ihnen aufgewachsen und haben das Gemeinschaftserlebnis und die Lebensorientierung schätzen gelernt“, stellt Pater Nikodemus in seinem katholisch.de-„Standpunkt“ fest: „Für beides braucht es aber definitiv keine Kirchenmitgliedschaft, da man beides auch woanders finden kann.“ Wie man es von einem Benediktiner-Mönch wohl erwarten darf, ruft Schnabel zum Glauben: „Sind [die Kirchen in Deutschland] aktuell überhaupt in der Lage, mehr zu bieten als Gemeinschaftserlebnis, Lebensorientierung und soziales Engagement? Gibt es den ehrlichen Mut, sich der eigenen Gottes- und Glaubenskrise zu stellen und neu Gott zu suchen?“ (Hervorhebung von mir.)

Wer nicht glaubt, der/die bleibt seltener in der Kirche, gerade in jungen Lebensjahren. Das stimmt. Allerdings sollte man an dieser Stelle gerade nicht Halt machen mit der Soziologie! Pater Nikodemus und mit ihm ganz viele Menschen, die aus eigener guter christlicher Prägung heraus immerzu nach dem „Mehr“ fragen, nehmen nämlich die Konfessionslosen in der Kirche am Ende nicht richtig ernst. Vielleicht, weil sie selbst ihren Glauben so ernst nehmen, dass es für sie schwer vorstellbar ist, warum man trotz Nicht-Glaubens Teil der Kirche bleiben will oder zumindest nicht nicht mehr dabei sein möchte.

Gerade in den letzten Tagen hat, rund um die Hochzeit von Bundesfinanzminister Christian Lindner, die Mystifizierung der Kirchenmitgliedschaft wieder fröhliche Urständ gefeiert. Von den einen wird sie – gut katholisch – als Heilsnotwendigkeit verstanden. Andere, darunter reichlich evangelische Pfarrer:innen, halten sie für so verzichtbar, dass man sich gelegentlich fragt, warum sie selbst überhaupt für den Laden tätig sind. Allenthalben wird jedenfalls mit der Kirchenmitgliedschaft viel Theologie getrieben.

Davon würde ich Abstand nehmen wollen. Was bei uns unter Kirchenmitgliedschaft firmiert, hat sowieso kaum eine Entsprechung im Neuen Testament und in weiten Teilen der Kirchengeschichte. Die Institution Kirche kann sich aus gutem Grund auch um die Kirchenmitgliedschaftszahlen sorgen, ohne mit der Kirchenmitgliedschaft ein exklusives Heilsversprechen zu verknüpfen. Daran glauben ohnehin die wenigsten Kirchenmitglieder – und bleiben trotzdem.

Kirchenmitgliedschaft entmythologisieren!

Wer heutige Religionsmitgliedschafts- oder Gottesdienstbesucher:innenzahlen mit vergangenen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten vergleicht, wird als Erkärung für „das Schrumpfen der Kirchen“ nicht auf theologische Gründe stoßen. Oder anders: Ob und wie viel mehr oder weniger die Menschen um 1950, 1900 oder 1850 geglaubt haben, drückt sich gerade nicht in den offiziellen Mitgliedschaftszahlen aus. Vor ein paar Jahren hatte ich Gelegenheit, ein uraltes Gottesdienstbuch einer ländlichen Kirchgemeinde in Thüringen in Augenschein zu nehmen: Der Gottesdienstbesuch war um 1900 genauso kläglich wie heute. Oder vielmehr im Verhältnis zur nominellen Kirchenmitgliedschaft damals (100 %) sogar noch beklagenswerter.

Es wird trotz Säkularisierung und Individualisierung weiterhin Baerbock-Christ:innen geben. Nur halt weniger davon. Die Grünen-Politikerin und Außenministerin Annalena Baerbock ist Mitglied in der evangelischen Kirche und beschreibt sich als „nicht ganz gläubig“. In die Kirche gehe sie aber trotzdem ab und zu, „weil man als Gemeinschaft eben mehr zusammen schaffen kann, weil man ein Verständnis hat, auf welchem Wertefundament stehen wir eigentlich – das der Nächstenliebe, aber auch das der Verantwortung.“

Einen (politischen) Nutzen hat ihre Mitgliedschaft heute nicht mehr, sie könnte ebenso wie ihr Kabinettskollege Lindner ohne Nachteil auch nicht Mitglied in einer Kirche sein. Aber wie so viele Nicht-ganz-Gläubige bleibt sie dabei. Das zeugt von einem, nun ja, profanen Verständnis von Kirchenmitgliedschaft, das sich die Theolog:innen von den „Konfessionslockeren“ in der Kirche abgucken können. Das bedeutet nicht, dass Kirchenmitgliedschaft nichts mit Religiosität oder Glauben zu tun hätte, nur halt eben nicht ganz so viel, wie Kirchenprofis es gern glauben wollen.

Die allermeisten Kirchenmitglieder nämlich wollen bleiben oder zumindest nicht gehen: Aus familiärer Tradition, wegen guter Kindheits- und Jugenderinnerungen, weil sie die Ziele und Werte der Organisation im Großen und Ganzen für unterstützenswert halten – vielleicht auch, weil sie sich für manche Zusammenhänge und Missstände nicht ausreichend interessieren. Sie schätzen „Gemeinschaftserlebnis, Lebensorientierung und soziales Engagement“, auch wenn sie entsprechende Angebote ihrer Kirchen nicht permanent wahrnehmen. Und sie sind bereit, dafür einen Beitrag zu leisten, wenn er sich im Rahmen einer Pi-mal-Daumen-Rechnung lohnt.

Warum treten Menschen aus der Kirche aus – und warum bleiben sie?

Das trifft vor allem auf Kirchenmitglieder über 40 zu, zeigen jüngste Befragungen von Ausgetretenen. Während Jüngere ihrer Konfessionslockerheit eher durch einen Kirchenaustritt Ausdruck verleihen, treten Ältere vor allem aufgrund konkreter schlechter Erfahrungen mit der Institution aus. Damit sind allerdings weder „Profillosigkeit“ noch ein Mangel an „Zeitgeist“ gemeint, sondern konkrete Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen, Frechheit und Untätigkeit von Hauptamtlichen vor Ort, Verzweiflung angesichts von Reformstau oder zu viel Veränderung. Bis zu einem gewissen Grad kann „die“ Kirche hier bestimmt besser werden.

Vor allem aber ergibt sich aus den Befragungen die Notwendigkeit, darüber nachzudenken, wie man es jüngeren Nicht-ganz-Gläubigen, den Baerbock-Christen, erleichtern könnte, solange in der Kirche zu bleiben, bis ihre Lebensstile und Erwartungshaltungen aufgrund fortgeschrittenen Alters wieder stärker mit denjenigen der Institution korrespondieren. Und da sind wir wieder bei einer profanen Kosten-Nutzen-Rechnung:

So viele Gottesdienste, kühle Kirchen oder kirchliche Trauungen kann man gar nicht besuchen, bis dass man die Kirchensteuer wieder reingeholt hätte, die von jungen, alleinstehenden Berufstätigen mit einem guten Lohn gezahlt wird. Kosten und Nutzen halten sich nicht die Waage. Nun kann man den Versuch wagen, daran auf der Angebotsseite etwas zu ändern: Zum Beispiel in dem die Kirchen Angebote für young professionals oder zumindest Menschen ohne Kinder schaffen. Ich glaube aber, das wird nicht reichen: Man muss auch an die Kostenseite ran.

Nichts spricht dagegen, den Kirchensteuerhebesatz für unter 40-Jährige von 9 % (8 % in Bayern und Baden-Württemberg) auf 4 % zu senken. Das können die Kirchen übrigens selbst beschließen.

Ein entspanntes Verhältnis zum eigenen Selbsterhaltungstrieb

„Gibt es den ehrlichen Mut, sich der eigenen Gottes- und Glaubenskrise zu stellen und neu Gott zu suchen?“ – fragt Nikodemus Schnabel. Für eine christliche Kirche ist das eine wichtige Frage. Die „Glaubenskrise“ geht gleichwohl nur diejenigen etwas an, die ihre Religiosität überhaupt ernst genug nehmen. Die „Gottes- und Glaubenskrise“ ist ein Problem der kirchlich Hochverbundenen. Alle anderen – Konfessionslose außer- und innerhalb der Kirche – nehmen ihren Nicht-ganz-Glauben eben nicht so konfliktbehaftet wahr.

Pater Nikodemus zitiert die Religionssoziologin Petra-Angela Ahrens, die feststellt, eine überwältigende Mehrheit sei „konfessionslos glücklich“. Ich kann das aus eigener ostdeutscher Anschauung nur bestätigen. Ob den Leuten nicht doch tatsächlich trotzdem etwas fehlt – irgendein „Mehr“ – ist eine theologische Frage. Was die Kirchen in Deutschland allerdings neben dieser selbstbezüglichen Frage interessieren sollte, ist die Frage, wie man auch in der Kirche nicht-ganz-gläubig, konfessionslocker glücklich sein kann.

Puristen werden nun sagen: Was hat das mit der Sendung der Kirche zu tun? Ist denn die Kirche nicht die Versammlung der Nachfolger:innen Christi? Ja! Und wie der Heiland es selbst gehalten hat, ist sie nicht zu den Frommen und religiös Hochverbundenen gesandt. Vielmehr sind genau diese dazu berufen, den Nicht-ganz-Gläubigen und Bedürftigen zu dienen. Die massiven Apparate der beiden großen Amtskirchen haben – trotz aller Reformbedürftigkeit – ein weltweit einmaliges Netz ausgebreitet, um genau diesen Dienst an Gesellschaft und Menschen zu leisten.

Das alles muss – am besten solidarisch – finanziert werden. Daraus ergibt sich ein legitimes Interesse der Kirchen an ihrem Selbsterhalt. Das schließt sinnvolle Veränderungen und auch Kürzungen oder Profilierungen ein, weil es dabei um die sinnvolle und zweckmäßige Verwendung der solidarischen Kirchensteuer geht. Aber auch die Kirchenreform rechnet mit der Institution Kirche. Den ehren- und hauptamtlichen Kirchenprofis stünde ein entspanntes Verhältnis zum eigenen Selbsterhaltungstrieb gut zu Gesicht.