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Kultur

Dietrich Bonhoeffer: Verfemt, verklärt, vereinnahmt

Dietrich Bonhoeffer inspiriert bis heute: Doch wer gehört zu seinen legitimen Erben? Zum 116. Geburtstag des Theologen und Widerständlers lohnt sich ein Blick zurück:

Dietrich Bonhoeffer feiert Geburtstag, zum 116. Male. So kann man das formulieren, weil Bonhoeffer trotzdem oder gerade weil er 1945 noch in den letzten Kriegstagen von den Nazis ermordet wurde, quicklebendig ist. Bis heute ist dieser deutsche Theologe für viele ein Stein des Anstoßes, ein Heiliger, ein theologisches Vorbild. Die Wendungen, die der Blick auf sein Leben durch die Jahrzehnte hindurch genommen hat, sind Spiegelbild der Geschichte des deutschen Protestantismus.

Die Menge der Bonhoeffer-Freunde ist über die Jahrzehnte hinweg gewaltig gewachsen. Seine Freunde kann man sich post mortem nicht aussuchen. Es mangelt nicht an Bonhoeffer-Interpreten und Erbverwesern. Das war nicht immer so.

Verfemt

Zu seinen Lebzeiten und erst recht nach dem 2. Weltkrieg wurde das Glaubensleben Bonhoeffers mehr als kritisch gesehen. Seine politische Radikalität war nicht nur der Bekennenden Kirche der NS-Zeit zu viel, sondern wurde auch in der Zeit des gesellschaftlichen und kirchlichen Wiederaufbaus nach dem Krieg verschmäht.

Das mag an der lutherischen Abneigung gegenüber politischem Widerstand liegen: Die Bekennende Kirche wollte der Obrigkeit gehorsam sein, solange sie sich aus den Kircheninterna heraushielt. Nur wenige begriffen zu dieser Zeit die völlige Paradigmenverschiebung, dass es den Unterschied zwischen zwei Regimentern in einem totalitären Staat nicht geben kann.

Doch Ablehnung und Unsicherheit der deutschen Kirchen und Theologie im Umgang mit Bonhoeffer nach dem Krieg werden wohl noch eine zweite Quelle haben: Wer sich mit der Biographie dieses Mannes auseinandersetzt, wird mit eigener Schuld konfrontiert. Es waren nur wenige, die für die Juden schrien, während doch viele weiter gregorianisch sangen.

Und so spielten auch in den evangelischen Kirchen Erklärungsmuster eine Rolle, die zarte und doch eindeutige Anklänge am Muster der Dolchstoß-Legende nahmen: Wer war dieser Mann, der vor Gewalt und Kollaboration nicht zurückschreckte? Wer war dieser Mann, der in der Bedrängnis des deutschen Volkes strikt international dachte und handelte? Wer war dieser Mann, der sein Martyrium scheinbar geraden Rückens ertrug, während andere unter sehr viel weniger Druck einknickten?

Bonhoeffer blieb für lange Zeit – und ist es für Rechtskonservative zum Teil bis heute – ein Vaterlandsverräter, ein Abtrünniger, ein Stein des Anstoßes.

Verklärt

Dieses Bonhoeffer-Bild veränderte sich erst im Laufe der 1960er-Jahre. Die Veröffentlichung seiner Briefe und Schriften aus der Gefangenschaft durch Eberhard Bethge und das veränderte Bewusstsein eigener Schuld und Verantwortung für die Shoah und den Nationalsozialismus sind hierfür vor allem verantwortlich zu machen. Die Veränderungen des Bonhoeffer-Bildes und des Blickes auf die eigene Vergangenheit im Nationalsozialismus gehen für die evangelischen Kirchen und Theolog:innen im Wechselschritt, sind ohneeinander gar nicht denkbar.

Bonhoeffer ist der evangelische Heilige der NS-Zeit auch deshalb geworden, weil er dem veränderten Blick auf die eigene dunkle Vergangenheit am meisten entsprach, gerade in seinem Widerspruch gegen die gemäßigte Bekennende Kirche, die ihm nicht folgen wollte oder konnte. Der Blick in die Verstrickungen der Kirche mit dem NS-Regime wurde durch die Auseinandersetzung mit einem Mann ermöglicht, der sich kirchenpolitisch weit außen positionierte, der Außenseiter war und sich doch in ganz anderer Weise die Hände schmutzig gemacht hatte.

Eine Begleiterscheinung der Adoption Bonhoeffers in den Mainstream der evangelischen Kirche war die Glättung seiner theologischen Überzeugungen, seiner politischen und ethischen Radikalität und seiner exzentrischeren Charakterzüge. In das Zentrum der Beachtung rückte der mutige Mann, der zweifelnde Mensch, der Verfolgte, der Heilige Bonhoeffer. Dazu trug sicher auch die mediale Aufbereitung seiner Biographie durch Bethge bei, bis hin zum Kinofilm mit Ulrich Tukur in der Titelrolle.

Seinen Siegeszug durch die Religions- und Konfirmandenstunden hatte Bonhoeffer da längst angetreten. Nicht zuletzt deshalb, weil auch seine Theologie in und nach den 1960er-Jahren erstaunliche Anknüpfungspunkte für progressive Weiterentwicklung bot. Die Befreiungstheologien Süd- und Nordamerikas, die Theologie Dorothee Sölles, überhaupt eine Theologie nach Auschwitz, schien ohne die Theologie und Biographie des Mannes, der in Flossenbürg erhängt worden war, nicht möglich, wurde jedenfalls in Deutschland in diesem Kontext betrieben.

Doch in der Breite blieben es seine „volkstümlichen“ Texte und seine Biographie, die Bonhoeffer zu dem Heiligen des 20. Jahrhunderts machten. Unbequemes aus seiner Lebensgeschichte und weite Teile seiner Theologie fielen dabei unter den Tisch oder wurden absichtsvoll verdrängt. Auch dafür wird wiederum das Schuldbewusstein der Deutschen, der deutschen Protestanten allzumal, verantwortlich zu machen sein. Diesmal allerdings in seiner Umkehrung: Allzu leicht fällt die Heiligenverehrung, wenn man dem Gegenstand der Verehrung jede Kante und Wunde nimmt.

Vereinnahmt

So wurde Bonhoeffer vom liberalen Protestantismus vereinnahmt. Konservative Kreise, Pietisten und Evangelikale schauten weiter skeptisch bis zutiefst ablehnend auf den lebenslustigen, politisch und herausfordernd denkenden Mann, der ihnen da vorgeführt wurde. War er nicht einer dieser Liberalen, der sich gar vorstellen konnte, Gott gäbe es nicht? Hatte er nicht Bultmanns Entmythologisierung gelobt und gelehrt? War er nun Pazifist oder hatte er zur Waffe greifen wollen?

Erst nach Ende des Kalten Krieges konnten sich diese Gruppen vermehrt für Bonhoeffer erwärmen. Auch, weil inzwischen Bonhoeffers eigener Konservatismus durch Georg Huntemann („Der andere Bonhoeffer“, 1989) und viel später und wirkungsmächtiger von Eric Metaxas („Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet“, 2009) bekannt gemacht wurde. Dazu gehören: Bonhoeffers schon für die 20er- und 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts antiquiert-traditionelles Familienbild; seine Vorstellung von der Rolle der Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft; seine Abtreibungsgegnerschaft; seine Bibelrezeption; seine Christusmystik und die Betonung der Nachfolge. Babylon Berlin sieht anders aus.

Metaxas‘ Buch entfesselte in den Vereinigten Staaten in den 2010er-Jahren geradezu eine Bonhoeffer-Renaissance. Sollte ausgerechnet der streitbare Deutsche jene Person sein, auf die sich Sozialreformer, Liberale, Equal-Rights-Aktivisten auf der einen Seite und konservative Christen, Bible-Belt-Bewohner und Evangelikale andererseits einigen könnten?

Eher nicht. Vielmehr handelt es sich um eine erneute Vereinnahmung, die wohl ein paar wenige blinde Flecken der liberalen Lesart korrigiert, der Biographie und Theologie Bonhoeffers aber erstaunliche Verbiegungen abnötigt: Funktioniert Bonhoeffers Widerstand gegen den NS-Staat als Vorbild für den Libertarismus des frühen 21. Jahrhunderts? Gereicht seine Familien- und Sexualmoral uns zum Vorbild? Ist sie gar für seine Theologie und sein Leben zentral? Wäre er, wie Metaxas meint, lebte er heute, ein kulturkämpfender Evangelikaler? Hätte auch Bonhoeffer das Kapitol gestürmt, eine „MAGA“-Mütze aufgezogen? Wohl kaum.

Erstaunlicherweise ist gerade die konservative Kritik, die den Liberalen Vereinnahmung Bonhoeffers im Sinne der Moderne vorwirft, besonders schnell und gründlich dabei, Bonhoeffer aus seiner eigenen Zeit herauszuschneiden, seinem Denken und Leben etwas erstaunlich Zeitloses zu geben, ihn also für alle Zeiten zu modernisieren.

Doch statt immerwährender Aktualisierung und Modernisierung ist wohl eher eine gründliche Historisierung seiner Person und seines Werkes angezeigt. Ihn aus seiner Zeit, aus seiner Lebensgeschichte, die an konkrete Orte und Ereignisse gebunden ist, zu verstehen, das ist Aufgabe einer verantwortlichen Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung. Denn zu ihr, zur Kirchen- und Dogmengeschichte des 20. Jahrhunderts, gehört Bonhoeffer.

Der andere Bonhoeffer

Der Streit um die Deutungshoheit über Bonhoeffers Wirken und Leben ist neu entbrannt. Die neue Bonhoeffer-Biographie von Charles Marsh („Dietrich Bonhoeffer: Der verklärte Fremde“, 2014) ist eine deutliche Erwiderung auf Metaxas Versuch. Sie bleibt nicht so verhängnisvoll wie jener in einer US-zentrischen Verknappung und Verzerrung hängen. Und sie fokussiert wiederum auf einen ganz anderen Bonhoeffer. Man fragt sich, wieviele Bonhoeffers es wohl noch geben wird?

Doch auch hierzulande wird sich unser Bonhoeffer-Bild ändern, weil sich die Welt ändert, aus der wir auf diesen Kirchenmann und Theologen des 20. Jahrhunderts blicken. Bonhoeffer bleibt auch heute schillernd, gegen Vereinnahmung nicht immun. Sogar auf Demonstrationen von Impfgegner:innen findet man Bonhoeffer-Zitate auf Plakaten. Bonhoeffers Widerstandrhetorik erweist sich als fruchtbarer Boden, auf dem auch Unsinn gedeihen kann. Derweil wurde auch „Von Guten Mächten“ während der dunklen Pandemie-Winter vielen Menschen erneut zum Trost: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.“

So kann man, je nachdem mit welchem seiner Werke man sich beschäftigt oder welchem Teil seiner Biographie oder welchem seiner Biographen man sich zuwendet, einen anderen Bonhoeffer entdecken. Den ganzen Bonhoeffer gibt es nicht. Das ist eine Folge eines viel zu früh zu Ende gekommenen Lebens, das sich jeder Homogenisierung versagt. Am Ende lohnt es sich vielleicht ja doch, Eberhard Betghe zu folgen: Der überschrieb Bonhoeffers Briefe aus der Gefangenschaft, die er nach dem 2. Weltkrieg herausgab, mit dem Titel „Widerstand und Ergebung“. In ihm sind sowohl nötiger Widerstand als auch notwendige Demut, politische Wachsamkeit wie spirituelle Tiefe aufbewahrt.


(Dieser Artikel ist eine aktualisierte Fassung eines Textes, der bereits 2015 auf theologiestudierende.de veröffentlicht wurde.)