Kurschus-Predigt: Melnyk und die starken Männer
Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus steht wegen ihrer Friedenspredigt zum Reformationstag in der Kritik. Philipp Greifenstein sieht dabei eine „dickhodige Männlichkeit“ am Werk.
Selten wird über eine Predigt so heiß diskutiert, wie über diejenige der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus vom Reformationstag zu Beginn dieser Woche. Entzündet hat sich die (Online-)Debatte gleichwohl mehr an der Pressemitteilung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die via Agenturmeldungen den Weg in die Nachrichtenmedien fand, als an der Predigt selbst, die Kurschus in der Schlosskirche zu Wittenberg tatsächlich gehalten hat. Prominent platziert im Titel ein Satz aus der Predigt: „Verachtet Verhandlungen nicht“.
Damit, so viel war schon am Freitagmittag klar, als die Pressemitteilung samt Sperrfrist über den Presseverteiler ging, würde die Ratsvorsitzende einen hot button (heißen Knopf) der Diskussionen um den Ukraine-Krieg in der deutschen Öffentlichkeit nicht nur antippsen, sondern kräftig buzzern. Denn die Frage, ob und wie die Ukraine mit Russland in Verhandlungen über einen Waffenstillstand oder gar Friedensschluss eintreten könnte, wird leidenschaftlich diskutiert.
Die einen fordern mit dem Hinweis darauf, dass Kriege nun einmal nur durch Verhandlungen oder durch die Vernichtung des Gegners beendet würden, die Bundesregierung zu einem stärkeren Engagement in dieser Frage auf: Sie solle bei der ukrainischen Regierung für Verhandlungen mit Moskau werben, sie sogar verlangen. Andere weisen darauf hin, dass weder die Ukraine noch Russland gegenwärtig Interesse an Verhandlungen bekunden. Wieder andere weisen den Wunsch nach Friedensverhandlungen brüsk mit Verweis auf die Souveränität der Ukraine, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, zurück und verbitten sich schon jeden leisen Hinweis auf die Notwendigkeit, die Interessen beider Kriegsparteien zur Kenntnis zu nehmen oder gar auszugleichen.
Annette Kurschus hat am Reformationstag eine durchschnittliche Predigt (Volltext) gehalten, die ohne die Pressemitteilung wohl kaum ein so großes Medienecho erhalten hätte. Diesem Echo ist es gleichwohl zu verdanken, dass sich in einem zweiten Akt des Schauspiels der Ex-Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, zunächst auf Twitter und dann auch in der Presse bitterlich über Kurschus‘ Predigt beschwerte, inklusive eines wirklich geschmacklosen „Judas“-Vorwurfs.
Liebe Evangelische Kirche Deutschlands @ekd, Euren Eiertanz mit dem Kriegsverbrecher Putin, Eure Anbiederung an die russische orthodoxe „Kirche“,die den Vernichtungskrieg absegnet, Euren heuchlerischen Verrat am ukrainischen Volk werden wir Euch, Dienern von Judas, NIE verzeihen
— Andrii Melnyk (@MelnykAndrij) October 31, 2022
Melnyks Tweets und Interview folgt die gewohnte Eskalation auf dem Sozialen Netzwerk. Kurschus und die Evangelische Kirche werden in übelster Weise beschimpft, Kirchenaustritte werden angedroht, so mancher Smartphone-General übt sich in umfassenden zeitdiagnostischen Verdikten. Die EKD freilich begegnet dem Twitter-Sturm mit der lang geübten Taktik des gepflegten Aussitzens. Auf Melnyk zu reagieren, so hat es die jüngere Vergangenheit gezeigt, bedeutete nur, die ungebetene Diskussion zu verlängern. Am Wochenende startet die Tagung der EKD-Synode: Einer der wenigen Termine im Kirchenkalender, an dem die Evangelische Kirche berechtigte Hoffnung auf publizistische Resonanz hegen darf (auch die Eule ist wie gewohnt live vor Ort).
Über die Predigt selbst lässt sich in einem homiletischen Seminar viel, aber im Kontext der Ukraine-Krieg-Debatte nur wenig sagen. Kurschus hofft auf und betet um Frieden: eine christliche Selbstverständlichkeit. Kurschus kritisiert die Militarisierung von Sprache und Denken: ein wichtiger, wenngleich gegen die unmittelbare Mode gerichteter Einspruch. Kurschus sagt: „Friede wird am Ende nicht durch Waffen. Echter und womöglich auch ein annähernd gerechter Friede kann nur werden, wo Menschen miteinander reden und verhandeln. Und das geht nur, wenn der ‚böse Feind‘ nicht zum Teufel ernannt wird.“
Auch das mag in Zeiten eines Krieges in unserer unmittelbaren europäischen Nachbarschaft, dessen Folgen auch in unserem Land zu spüren sind und in den die Bundesregierung mittels Hilfsgüter- und Waffenlieferungen indirekt eingreift, provokant wirken, aber es liegt weder jenseits des gesunden Menschenverstandes – Frieden ist erst, wenn die Waffen schweigen – noch außerhalb dessen, was Friedens- und Konfliktforscher:innen, Militär- und Sicherheitsexpert:innen, Diplomat:innen und Ethiker:innen als Weg aus dem Krieg beschreiben.
Dazu gehört, auch wenn dies in den Augen Melnyks und manch anderer einen Skandal darstellt, „die“ Russen nicht zu Teufeln und Todfeinden zu erklären. Am Ende würde man sich so doch nur einer metaphysisch aufgeladenen, pseudoreligiösen Sprache bedienen, die man doch dem Moskauer Patriarchen Kyrill zurecht vorwirft. (Kyrill wird von Kurschus übrigens von der Kanzel der Schlosskirche aus erneut scharf kritisiert.)
Gestörte Kommunikation
Was also bringt die Kurschus-Kritiker so auf die Palme? Ist es eine unverhohlene Abneigung gegen Kirche, Frömmelei, eine Frau auf der Kanzel? Arbeitet man sich hier abermals – nach der unmäßigen Kritik an Kurschus‘ Vor-Vorgängerin Margot Käßmann wegen ihrer Afghanistan-Predigt in der Dresdner Frauenkirche zu Neujahr 2010 – an einer prominenten Kirchenfrau ab? Bemerken manche fleißigen Online-Kommentatoren nicht, dass sie inzwischen wahllos gegen alles und jeden mit den immerselben Sentenzen schießen und es ihnen erstaunlich egal geworden ist, ob sie die richtige Adressatin ihres Furors gefunden haben? Ist nicht zwischen der eitlen Rechthaberei eines Harald Welzer und der frommen Nachdenklichkeit der Ratsvorsitzenden doch noch ein Unterschied spürbar?
Warum geifern Männer, die als Professoren, Fachärzte oder Ökumene-Beauftragte evangelischer Kirchenkreise eigentlich einer respektablen Beschäftigung nachgehen und darum keine Zeit dafür haben sollten, im Netz herum und wiederholen stupende ihre Kritik am „Lumpenpazifismus“ (Sascha Lobo), vermeinen sich mit ihrer Haltung zum Krieg in einer Minderheitenposition zu befinden, verbitten sich jeden Widerspruch und ignorieren jede Kontextualisierung?
Kaum jemand hat doch die Kurschus-Predigt ernstlich gelesen. Kaum jemand will in seiner Wut zur Kenntnis nehmen, dass Kurschus sich zu Waffenlieferungen keineswegs so deutlich ablehnend positioniert wie der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer (EKM), sondern die Ausübung „rechtserhaltender Gewalt“ und Hilfe dazu ganz im Sinne der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 sehr wohl für legitim hält. Ihre Rede auf der Friedensdemo in Berlin am 27. Februar: vergessen. Ihr langer, komplexer und komplizierter Artikel in der FAZ vom Juni: verdrängt oder nie durchstiegen.
Und was ist eigentlich mit dem massiven Engagement der Evangelischen Kirche für die Menschen in der Ukraine, für Flüchtlinge, für die Diaspora-Gemeinden? Können die eifrigen Online-Helden da mithalten?
Falsch verstandene Kampfbereitschaft
Manches Unverständnis haben sich die EKD und ihre Ratsvorsitzende selbst eingebrockt: Matthias Claudius-Zitate und FAZ-Aufsätze erreichen heute heute wohl kaum noch weite Teile der Gesellschaft. Auch in Wittenberg spielte Kurschus auf ihre Rede auf der Berliner Friedensdemo an („´s ist Krieg!“). Solche rhetorischen Spielereien dürfen nicht auf Verständnis in der medialen Öffentlichkeit hoffen. Genauso wenig wie eine ausgiebige Luther-Exegese, von der man sich fragen darf, warum man Leuten umständlich etwas Fremdes aus der Vergangenheit erklären will, nur um zu klaren Aussagen im Heute zu gelangen, die man auch ohne eine solchen Umweg formulieren kann.
Aber die Wut der Kommentatoren nur auf das Unvermögen der Ratsvorsitzenden und/oder ihrer Mitarbeiter:innen bei der politischen Kommunikation zurückzuführen, greift zu kurz. Hier ist eine sich selbst als mutige Kampfbereitschaft missverstehende dickhodige Männlichkeit am Werk, die von derjenigen von Harald Welzer und Richard David Precht kaum zu unterscheiden ist – auch wenn die beiden sich in der Debatte auf der gegenüberliegenden Seite wiederfinden.
Kein Raum für Differenzierung, kein Raum für Graubereiche, für Fakten, für den genauen Blick, für Nachdenklichkeit, Schwäche, Sorgen und Vorbehalte. Vor so einer moralischen Eindeutigkeit und Sicherheit muss einem Bange werden. Luther, der an die Schlosskirche zu Wittenberg weiland seine Thesen schlug (oder nicht), hätte diese Männlein „Esel“ gescholten.
Jetzt wird’s kritisch. Die Eule auf der EKD-Synode
Von der Tagung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Magdeburg berichtet Eule-Redakteur Philipp Greifenstein ab Sonntag in einem Live-Blog. Außerdem wird es zur Synode weitere Beiträge im Magazin geben. Fragen und Hinweise zur EKD-Synode nehmen wir gerne entgegen (z.B. per Email oder auf Twitter, Instagram & Mastodon).