Foto: SPD Schleswig-Holstein (Flickr), CC BY 2.0

GroKo or NoGroKo, das ist hier die Frage

Am Sonntag verkündet die SPD das Ergebnis des Mitgliederentscheids zur Groko. Zwei junge Genossen legen bei uns Rechenschaft darüber ab, wie sie abgestimmt haben.

Der SPD-Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag mit den Unionsparteien hat in den letzten Tagen Kritik auf sich gezogen. Kann es denn angehen, dass die Mitglieder einer Partei über das Zustandekommen einer Regierung befinden dürfen? Nehmen sich die Genossen mehr Rechte raus als das „normale“ Wahlvolk?

Zwei junge Genossen legen hier Rechenschaft darüber ab, warum sie dem Koalitionsvertrag zugestimmt haben bzw. eine erneute Große Koalition ablehnen. Es ist eine komplizierte Kiste und die beiden haben es sich nicht leicht gemacht:


Warum ich dem Koalitionsvertrag zugestimmt habe

Von Tobias Graßmann (@luthvind), Gründer des Netzwerks Theologie in der Kirche (NThK), in der SPD seit 2017

Noch am Abend der Bundestagswahl 2017 bin ich in die SPD eingetreten. Schon längere Zeit hatte ich diesen Schritt geplant, doch es bedurfte der krachenden Wahlniederlage und einer verlorenen Wette, um den Plan tatsächlich in die Tat umzusetzen. Ich hatte die SPD nicht gewählt. Aber nach der Wahl war ich der Meinung: Es ist an der Zeit, dass ich persönlich für sozialdemokratische Politik einstehe und mich für ein besseres Ergebnis bei der unmittelbar bevorstehenden Niedersachsenwahl engagiere.

Damals war auch ich der Meinung, dass die einzig richtige Konsequenz aus der schmerzhaften Niederlage für die SPD wäre, im Bund den Weg in die Opposition einzuschlagen. Ich war mit der politischen Entwicklung während der letzten Großen Koalitionen nicht zufrieden und sah in der Oppositionsrolle eine gute Möglichkeit, die SPD personell wie inhaltlich zu erneuern. Bitte keine weitere große Koalition, die die Ränder stärkt und die Volksparteien innerlich auszehrt! Die sich abzeichnende Jamaika-Koalition schien ein guter Ausweg zu sein …

Seither hat sich die politische Faktenlage mehrfach geändert. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen, nach dem Abschluss der Sondierungsgespräche mit der Union, vor dem Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag. Umfragen sind moderat gestiegen und steil gefallen. Rücktritte, holperige Ämterwechsel. Eine lebendige innerparteiliche Debatte. Wieder und wieder sah ich mich gezwungen, meine Sicht auf das Geschehen neu einzustellen und zu einer neuen Entscheidung zu gelangen. Was könnte für Partei und Land aktuell das Richtige sein? Mit einem Zitat des Ökonomen John Maynard Keynes: „When the facts change, I change my mind. What do you do, Sir?“ (Dank an Andreas Busch für dieses passende Zitat!)

Ich habe meine Position also wiederholt an der neuen Lage überprüft und entsprechend verändert. Nach dem Scheitern von Jamaika war ich für Sondierungsgespräche. Nach den Sondierungen war ich dagegen, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Ich hätte vorgezogen, im Rahmen des verfassungsrechtlich Möglichen auf rasche Neuwahlen hinzuwirken.

Beim Mitgliederentscheid habe ich schließlich für die Groko gestimmt.

Das bedeutet nicht, dass ich den Koalitionsvertrag für einen großen Wurf halte. Mir fehlen, wie wohl vielen Genossinnen und Genossen, die großen sozialdemokratischen Projekte. Der Vertrag bietet keine überzeugenden Antworten auf die (gar nicht mehr so neuen) Herausforderungen von Klimawandel, Wandel der Arbeitswelt und demografischem Wandel. Er enthält gerade in der Flüchtlingspolitik bittere Zugeständnisse an die Unionsparteien in ihrem Unwillen, Migration nicht nur als Bedrohung wahrzunehmen.

Andererseits muss man auch anerkennen, dass sich in dem Vertrag viele sinnvolle Maßnahmen finden. Man könnte dazu auf die Bildungspolitik oder die Europapolitik verweisen. Auch die Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik trägt in vielen Einzelheiten eine sozialdemokratische Handschrift. Sicher: Ich hätte mir mehr soziale Gerechtigkeit und eine stärkere Beteiligung der hohen Einkommen gewünscht. Doch viele Menschen mit mittleren Einkommen, die das Geld schon auch brauchen können, dürften mehr in der Tasche haben. Das alles ist nicht so einfach vom Tisch zu fegen.

Denn es handelt sich bei diesem Vertrag nun einmal um einen mühsamen Kompromiss mit dem politischen Gegner. Und als solcher ist er offenbar das Maximum dessen, was sich aktuell an sozialdemokratischer Politik verwirklichen lässt. Man darf nicht vergessen, dass im Bundestag eine Mehrheit rechts der Mitte besteht. Die Kanzlerin dürfte auch eher weiter links stehen als die Unionsbasis, die sie als Parteivorsitzende noch leidlich im Zaum hält. Es muss der SPD zunächst um die Verwirklichung sozialdemokratischer Projekte im Rahmen des Möglichen gehen. Daran kann und soll uns auch die Wählerschaft messen – nicht an strahlenden Zukunftsversprechen und griffigen Programmformeln!

Der Koalitionsvertrag, der Blick auf die Inhalte – das hätte mir als Begründung für meine Kopfentscheidung zugunsten der Groko wohl nicht gereicht. Doch dazu kommt ein Bündel weiterer Argumente.

Die drei Schlüsselministerien (Außenministerium, Finanzministerium, Justizministerium) stellen für mich einen beachtlichen Verhandlungserfolg dar. Das Gegenargument, die Gesetze würden schließlich im Bundestag gemacht und nicht in den Ministerien, überzeugt mich nicht. Gerade in der Außenpolitik und im Finanzministerium werden durch Verordnungen und Amtshandlungen politische Entscheidungen von großer Reichweite getroffen, ohne dass die Gesetzesebene berührt wird. Kann man wirklich behaupten, es hätte keinen Unterschied bedeutet, wenn während der Finanzkrise Außen- und Finanzministerium in sozialdemokratischer Hand gewesen wären?

Und sicherlich, eine geeinte und entschlossene SPD muss Neuwahlen nicht fürchten. Doch ich bin mittlerweile der Meinung, dass der Punkt verpasst wurde, an dem man einen Abbruch der Verhandlungen noch hätte glaubhaft vertreten können. Zu lange und zu detailliert haben die Parteien mittlerweile verhandelt. Zu viele Genossinnen und Genossen haben sich in den Prozess eingebracht und ihr politisches Schicksal faktisch mit der Zustimmung für die Große Koalition verknüpft. Wie sollen diese Politikerinnen und Politiker glaubwürdig auf den neuen Kurs umschwenken? Die Öffentlichkeit und der politische Gegner wird ihnen ihre früheren Positionen und die Niederlage des Mitgliedervotums bei jeder Gelegenheit vorhalten.

Dabei fällt ins Gewicht, dass die No-Groko-Bewegung innerhalb der Partei es nicht geschafft (und vielleicht auch gar nicht versucht) hat, mir einen überzeugenden Plan für die Zeit nach dem Mitgliederentscheid und ihre konkrete Vision der Parteierneuerung zu präsentieren. Welche Erklärungen und welche realistischen Szenarien sollen wir potentiellen Wählerinnen und Wählern bieten, die sich nicht darum scheren, wie viel Prozent die Koalitionen unter Merkel die SPD bisher gekostet haben? Die aber nüchtern erfassen können, dass die Machtoptionen für die SPD sehr beschränkt sind und sich die Frage nach einer Großen Koalition bei der nächsten Wahl daher kaum erledigt haben dürfte?

Ähnlich sieht es bei der personellen Erneuerung aus. Selbstverständlich muss sich die Parteiführung verjüngen und erneuern. Es gibt in der Parteiführung allerdings auch Politikerinnen und Politiker, die ich unvermindert schätze und ungern beschädigt sehen würde.

Natürlich könnte es sein, dass sich aus der Asche des verlorenen Mitgliederentscheids die Sozialdemokratie wie ein in Flammen verjüngter Phönix erhebt – jung, weiblich, divers! Aber ist die Angst völlig unberechtigt, dass die ergrauten Verlierer früherer Machtkämpfe mit Unterstützung kurzsichtiger Ideologen die bislang weiblichste Parteiführung aus den Ämtern putschen, nur um die Partei anschließend in Flügelkämpfe und verlorene Jahre der Selbstbeschäftigung zu stürzen?

Ich hoffe also, dass sich eine nicht zu deutliche Mehrheit der Genossinnen und Genossen im Mitgliederentscheid für den Koalitionsvertrag ausspricht. Der Warnschuss ist nötig, damit die Erneuerung nicht verschoben wird. Aber die herausfordernde Aufgabe wäre in diesem Fall, aus der Regierungsposition heraus einen Erneuerungsprozess einzuleiten. Ich halte das für kompliziert, aber machbar.

Unabhängig davon müssen wir in den politischen Debatten unser sozialdemokratische Profil schärfen, die eigenen Erfolge selbstbewusster vertreten und der Wählerschaft klar machen: Sollten wir einmal die Gelegenheit bekommen, die Regierung anzuführen, werden wir die Probleme noch einmal anders angehen! Mit einer wirklich sozialen und nachhaltigen Politik!

Wohin geht die SPD? – Willy-Brandt-Statue in der Parteizentrale, Foto: Ralf Steinberger (Flickr), CC BY 2.0

Warum ich den Koalitionsvertrag abgelehnt habe

Von Philipp Greifenstein (@rockToamna), Redakteur der Eule, in der SPD seit 2006

Von good old Münte stammt der Satz: „Opposition ist Mist.“ Das ist mir beim Lesen des Koalitionsvertrags mehrmals durch den Kopf geschossen, vor allem bei den Passagen, die dringend notwendige Maßnahmen verabreden. Kommt die Groko nicht, dann stehen diese in Frage. Ich stand also wie 2013 vor dem Problem, das praktisch Gute gegen Bauchgefühl, Neigung und strategische Überlegungen abzuwägen.

Anders als damals habe ich mich diesmal dafür entschieden, den Koalitionsvertrag abzulehnen. Ich habe es, wie man so schön sagt, einfach nicht übers Herz gebracht.

Ich bin seit 12 Jahren Mitglied der SPD. Es sind wirklich nicht die besten Jahre dieser Partei gewesen. Bei weitem auch nicht die Schlimmsten. Aber alles in allem hat die Beteiligung der SPD an bisher zwei Grokos ihr nicht gut getan. Ich glaube nicht, dass man das ernsthaft bestreiten kann.

Ja, es wurde in diesen Jahren viel sozialdemokratische Politik umgesetzt. Und noch mehr Firlefanz der Koalitionspartner verhindert. Aber gerade hier spürt man die Abnutzung der SPD enorm. In der ersten Groko unter Frau Merkel wurde nahezu auf Augenhöhe regiert. Die Lorbeeren dafür strich die Union ein, so ist das halt als Juniorpartner. Schon in der zweiten Merkelschen Groko aber hat die SPD Politik mitgetragen und legitimiert, die gefährlich ist und manchmal geradezu hirnrissig.

Es ist die eine Sache, die Früchte eigener guter Politik nicht ernten zu können, eine total andere ist es, für die Fehler und Überzeugungen des Koalitionspartners in Mithaftung genommen zu werden. Ersteres schadet dem Wahlergebnis, letzteres dem Markenkern.

Die SPD hat die Verschärfung der Flüchtlingspolitik nach dem liberal-humanen Sommer 2015 mitgemacht, sie ist dem irren(den) Verkehrsminister Dobrindt nicht in die Quere gekommen, sie hat in der Europa- und Außenpolitik die Koalitionstreue gehalten. Bei Pflege, Digitalisierung und Bildung hat sie sich von der Union einbremsen lassen, und so den Reformstau in diesen Bereichen mitverschuldet. Gesellschaftlicher Fortschritt, wie in der Frage der #Ehefüralle, ist nurmehr zum Preise von halben Koalitionsbrüchen zu haben. Die SPD ist weder als Partei der Angestellten und Arbeiter, noch als Partei der Progressiven mehr glaubwürdig.

In einer neuen Koalition wird dieser Weg fortgesetzt, auch weil die SPD vong Wahlergebnis her weniger Gewicht einbringen kann. Die Zögerlichkeit in der Infrastrukturpolitik wird fortgesetzt: Vom Diesel angefangen, bis zur Digitalisierung.

Eine humane Flüchtlingspolitik muss in einer Koalition mit der Union eingeschränkt und zumindest als Härte verpackt werden. Ein Bekenntnis dieser Union zu Einwanderungsgesellschaft und Humanität in der Flüchtlingsfrage wird es nicht mehr geben, vor dem Kompromiss eines Einwanderungsgesetzes graust es mir. Um Himmels Willen, es soll in Deutschland einen „Heimatminister“ geben! Mit dieser Kanzlerin macht sich die SPD zur Geisel der AfD, der erhebliche Teile der Union nachrennen wollen.

Es gibt durchaus Dinge, die darüber hinweg trösten können. Das Kooperationsverbot im Bildungssektor wird fallen. Das wird Schulen und Universitäten nutzen. Allerdings stimmen alle Parteien bis auf die AfD in dieser Sache inzwischen überein. Die Milliarden für die Digitalisierung der Schulen sind vielleicht nicht genug, aber immerhin soll jetzt flächendeckend Geld in die Hand genommen werden. Doch wen beruft Frau Merkel zur Bildungsministerin? So entwertet man die eigenen Vorhaben.

Die befristete Arbeit soll eingeschränkt werden und vielleicht wird ja auch was für die Kreativszene getan, indem an der Frage der Sozialversicherungsbeiträge für Selbstständige gearbeitet wird. Aber wo ist das radikale, soziale Umdenken?

Nach der Wahl wurde von allen Parteien beklagt, man habe die „Abgehängten“ zurückgelassen. Mal ganz unabhängig davon, ob die Gleichsetzung von wirtschaftlicher Schwäche mit politischem Extremismus immer aufgeht: Wir haben in Deutschland eine drängender werdende soziale Frage!

Menschen in Pflegeberufen, im sozialen Sektor und Geringbeschäftigte, Alleinerziehende und, ja, auch einige Rentner sind wirtschaftlich so schwach auf der Brust, dass die soziale Teilhabe in Frage steht. Im reichsten und bekömmlichsten Land der Welt müssen Hundertausende zu Tafeln gehen, um Lebensmittel zu erhalten. Das ist ein Skandal, der mit diesen Unionsparteien nicht bekämpft werden kann.

Indem die SPD sich wieder auf eine Groko einlässt, legitimiert sie diesen Kurs, der sich an einer vermeintlichen „Mittelschicht“ orientiert. D.h. an Wählerinnen und Wählern, die ihre Schafe schon im Trockenen haben. Die SPD aber muss die Partei derer sein, die um ihre Zukunft kämpfen! Sie darf sie nicht im Stich lassen.

Im letzten Herbst bin ich das erste Mal zu einer Ortsvereinssitzung gegangen, nach fast 12 Jahren Mitgliedschaft. Ich habe dort Menschen getroffen, die sich als Parteimandatsträger und in öffentlichen Ämtern für das Allgemeinwohl einsetzen, die als Ortbürgermeister, Stadt- und Landräte, als Beigeordnete und Ehrenamtliche Verantwortung übernehmen. Das ist hier auf dem Land in Sachsen-Anhalt nicht selbstverständlich. Die SPD tut dieser Region gut, sie tut dem Land gut.

Sie verkauft sich auch zu schlecht. Und sie hat von ihrer Führung her vergessen, dass sie nicht für alles herhalten muss. Die Selbstkasteiung ist eine sozialdemokratische Tradition. Wie lange wird man wegen der Agenda 2010 noch Asche auf das eigene Haupt streuen? Es ist Zeit für einen Neuanfang. Ich habe nichts vernommen, was mich überzeugen würde, dass dieser Neuanfang in einer Koalition mit der Union gelingen könnte: programmatisch nicht und auch nicht personell.

Die SPD muss entdecken, dass Opposition nicht immer Mist ist. Es gibt Entwicklungen und Politik, die unsere Opposition verdient haben. Es gibt einen ungerechten Kapitalismus und eine „marktkonforme Demokratie“ gegen die sich aufgelehnt werden muss. Es gibt eine schleichende Radikalisierung nach Rechts, einen Extremismus der Mitte, dem die Partei der praktischen Vernunft Widerstand leisten muss. Die SPD gehört in keine weitere Groko, um ihrer selbst Willen nicht, aber vor allem, weil dieses Land eine soziale, liberale, fortschrittliche Volkspartei braucht.

Ich glaube, dass die SPD diese Partei sein kann. Es wird Zeit brauchen, neue Ideen und Köpfe. Sie wird anderes aussehen als heute und als die Partei, in die ich vor 12 Jahren eingetreten bin. Es wird Zeit, denn die SPD von heute unterscheidet sich von der damaligen nur im Level der Verzweiflung ihrer Mitglieder. Auf die muss sie hören. Über 450 000 Menschen können selbstverständlich irren. Aber in ihre Hände würde ich jederzeit lieber das Schicksal dieses Landes legen, als in die einer erneuten Großen Koalition.