Kolumne mind_the_gap

Für Jesus bis in den Tod?

Geschichten über Märtyrer*innen erzählen uns heute noch vom Leben in der „alten Kirche“. Damals waren sie eine geschickte Werbestrategie für die neue Religion.

Neues Jahr. Alte Kirche? Über die Bezeichnung „die Alte Kirche“ ließe sich lang diskutieren. Wir Patristiker*innen kämpfen stetig mit Selbstbezeichnungen, denn keine kann wirklich trefflich unser Forschungsgebiet beschreiben. Sprechen wir über „die Alte Kirche“ sind gleich drei Dinge schwierig:

„Die“, denn ein Singular trifft die Vielfalt am Beginn der Christentumsgeschichte sicher nicht. „Alte“, denn in der Antike ist es gerade die eigene Neuheit, mit der das junge Christentum zurechtkommen muss und für die sie Legitimationsstrukturen sucht. Das Alte gilt der antiken Umwelt schließlich als das grundsätzlich Bessere. Und drittens „Kirche“, denn die modernen Vorstellungen, die sich mit diesem Begriff verbinden, neigen dazu, die historische Situation eher zu verhüllen. (Das ist auch der Hintergrund von Philipp Greifensteins alljährlicher Philippika gegen Pfingsten als „Geburtstag der Kirche.)

Am Anfang war die Pluralität! Das junge Christentum verbreitet sich über die die großen Stimmen der Apostel und Apostelinnen und vor allem über die Vielfalt der Menschen, die durch Mikrokommunikation unter dem Radar der Quellen ihren neuen Glauben weitergeben. Dabei werden auf manche Fragen unterschiedliche Antworten gefunden, etwa zum Umgang mit der nichtchristlichen Umwelt. Und es werden Geschichten erzählt, die das Christentum in ein bestimmtes Licht rücken.

Eine Gattung dieser Erzählungen – wenn man so will eine frühe „Werbestrategie“ der jungen Religion – sind Berichte über Märtyrer*innen (wörtlich „Zeug*innen“). Das Phänomen, dass Menschen bis zum Tod für ihre Überzeugungen einstehen, findet sich schon in der Bibel und es wird virulent für das Christentum, gerade weil man schnell mit der Umwelt in Konflikt gerät und es zu Verfolgungssituationen kommt – zunächst lokal und begrenzt, schließlich unter Kaisern wie Decius, Valerian und Diokletian auch reichsweit.

Während die Apologeten die Wahrheit des Christentums mithilfe der Philosophie zu legitimieren versuchen und die Neuheit der Religion damit wegerklären, dass recht verstanden ja alles viel älter sei, finden die Märtyrer*innen-Berichte die Wahrheit in der Glaubensüberzeugung herausragender Einzelpersonen. Deren Leben und Sterben wird erzählt und legendarisch ausgeschmückt – als Vorbild für andere Christ*innen und vielleicht auch als anfangs etwas befremdliche Überzeugungsstrategie für Nichtchrist*innen.

Dabei erlaubt die Gattung des Martyriums Menschen ein beeindruckendes literarisches Nachleben, die sonst vermutlich nicht erinnert worden wären, wie zum Beispiel Sklavinnen. Eine solche ist auch Blandina, eine Frau, von der nur ein Satz überliefert ist: „Ich bin eine Christin, und bei uns geschieht nichts Böses.“ Dieses Bekenntnis, „Ich bin Christin“, lateinisch Christiana sum, findet sich in vielen Berichten dieser Art, die häufig als Gerichtsszenen oder Verhörprotokolle stilisiert sind. Oft sagen die Angeklagten nichts anderes; sie bezeugen lediglich ihren Glauben. Viele dieser Martyriumsberichte oder Akten sind enorm bekannt geworden, so die Acta über Polycarp von Smyrna oder Perpetua und Felicitas in Karthago.

Eine christliche Sklavin vor Gericht

Aus allen Teilen des römischen Reiches gibt es solche Texte. Blandina stammt aus dem Gebiet des heutigen Frankreichs. Als entgegen der seit Kaiser Trajan gültigen Rechtslage im Jahr 177 n.Chr. unter Kaiser Marc Aurel in Lyon nach Christ*innen gefahndet wird, gerät auch die christliche Sklavin ins Visier der Behörden und wird vor Gericht gestellt. Da Blandina sich zu ihrem Glauben bekennt, wird sie gemeinsam mit anderen Standhaften zum Tode verurteilt.

So jedenfalls berichtet es der Brief, den die verfolgte gallische Gemeinde an andere Gläubige in Kleinasien schreibt. Dieser ist – wie so manches frühchristliche Zeugnis – von Euseb bewahrt und weitertradiert worden. Die Folterungen und schließlich der Tod der jungen Frau werden ausgesprochen graphisch und gewaltvoll geschildert.

Immer wieder wird betont, wie viel körperliches Leid sie, angespornt durch ihr oben zitiertes Mantra, zu ertragen vermochte und wie sie die Behörden allein durch ihr Durchhaltevermögen und eine gehörige Portion Trotz an den Rand der Verzweiflung getrieben hat. Die wilden Tiere rühren sie nicht an, die ihr zugefügten Verletzungen schwächen sie nicht, und die Heilige kann so einer ganzen Reihe von Mitchrist*innen Mut machen, auch solchen, die zuvor aus Angst ihren Glauben verleugnet hatten. Schließlich verstirbt sie als letzte aus der Runde der Gefangengenommenen.

Nachdem die Verfolgung ursprünglich auf einen nichtchristlichen Mob zurückgeführt wird, sind durch das beeindruckende Beispiel Blandinas sogar die paganen Menschen beeindruckt: Die Sklavin gilt auch ihnen als mutigste Frau ihrer Zeit – so zumindest sehen es die Briefautor*innen. Die Feindschaft zwischen Christ*innen und Nichtchrist*innen bleibt in Lyon langfristig trotzdem bestehen. So wird zum Beispiel das angemessene Begräbnis für die Verstorbenen verhindert, damit nicht auf diese Weise ein neuer christlicher Verehrungsort entsteht. Heute ist die Heilige Blandina Stadtpatronin von Lyon.

Vom Erdboden verschluckt?

Eine deutlich weniger bekannte, aber ebenso faszinierende Märtyrerin ist Areadne, in manchen lateinischen Quellen auch Maria genannt. Aus ihrem Mund sind zum Beispiel ein langes Gebet und persönliches Glaubensbekenntnis und eine Rede vor Gericht überliefert. Die Erzählung ihres Martyriums ist historisch ausgesprochen schwer einzuordnen: Die Geschichte möchte unter Hadrian (117–138) oder Antoninus Pius (138–161) in der heutigen Türkei spielen, der Text ist allerdings vermutlich um einiges jünger.

Areadne ist die Sklavin eines hochangesehenen Magistraten namens Tertullus. Schon ihre Eltern waren christlich, die Erzählung führt also auf die frühesten christlichen Generationen zurück. Weil sich die Sklavin weigert, ihr Fasten während eines paganen Familienfestes zu brechen, gerät sie zunächst mit ihrer Herrin in Konflikt und wird daheim eingekerkert. Die Geschichte der aufmüpfigen Sklavin verbreitet sich jedoch in der Stadt und Tertullus selbst findet sich unversehens vor Gericht wieder, da er eine Christin versteckt halte.

Zwar gelingt es ihm, die eigene Schuld zu leugnen, aber Areadne wird nun wegen ihres Glaubens offiziell angeklagt. Auch sie bekennt sich, ganz typisch für die Martyriumsberichte, zum Christentum: „Mein Gewissen, das ich bei Gotte bewahre, bezeugt es mir, dass ich als Christin aus dieser nichtigen Welt scheiden muss.“ Allerdings verläuft die weitere Geschichte dann gar nicht mehr so typisch und die Erzählung verlässt an einigen Stellen die etablierte Schablone der Märtyrer*innen-Erzählung.

Gerührt von der jungen Frau verlangt die nichtchristliche Volksmenge einen Aufschub vor der Verurteilung, in der Hoffnung, dass die Christin ihrem Glauben doch noch abschwört. Areadne nutzt diese Zeit allerdings anders: Ihr gelingt die Flucht, da sie nur leicht bewacht wird. Dieser Topos ist ungewöhnlich. Zahlreiche bedeutende Theologen der Antike beschäftigen sich mit der Frage, was eigentlich ein korrektes Martyrium sei und was nicht. Schwierig wird es immer dann, wenn die Märtyrer*innen übereifrig erscheinen und selbst ihren Tod aktiv suchen. Entzieht man sich der Hinrichtung durch Flucht, zieht dies die persönliche Überzeugung aber ebenfalls in Zweifel. Anders sieht das – aus persönlichen Gründen – allerdings Clemens von Alexandrien, der seinerzeit vermutlich selbst vor Verfolgungen geflohen ist.

Areadne flieht und sie wird auf dem Weg in die Natur verfolgt, weshalb sie sich im Gebet an Gott wendet und Hilfe erbittet. Ihr Gebet wird erhört: Ein Felsen tut sich auf und die junge Frau wird verschluckt, zurück bleibt nur ihr Schleier. Ein eher ungewöhnliches Motiv für einen Martyriumsbericht, schließlich steht oft der dramatische Tod der Bekennenden im Vordergrund. Die Erzählung erinnert an den paganen Mythos der Nymphe Daphne, die, als sie vom Gott Apollon verfolgt wird, ebenfalls durch göttliche Unterstützung in einen Lorbeerbaum verwandelt wird (z.B. in Ovids „Metamorphosen“). Sehr bekannten Niederschlag findet diese Erzählung zum Beispiel in Gian Lorenzo Berninis Statue „Apollo & Daphne“, die heute in der Villa Borghese in Rom zu finden ist, oder in der Oper „Daphne“ von Richard Strauss.

Doch nach dem wundersamen Abhandenkommen der Märtyrerin geht die Erzählung noch weiter. Zum krönenden Abschluss kommt es bei dem Versuch einer irritierten und aufgebrachten Menge, die Stätte von Areadnes Verschwinden zu vernichten, zu einer eindrucksvollen, apokalyptisch inspirierten Theophanie mit zahlreichen paganen Todesopfern. Anschließend bekehren sich daher zahllose Bewohner*innen der Stadt zum Christentum. Wer auch immer Areadnes Geschichte verfasst hat, macht damit eines sehr deutlich: Das Ziel ist der Weg ins Christentum für möglichst viele. Und was pagane Mythen können, können Christ*innen schon lange.

Bei allen Martyriumsberichten ist es unwahrscheinlich, dass sie von vielen Nichtchrist*innen gelesen wurden. Aber zumindest innerchristlich erfreuen sich solche Erzählungen großer Beliebtheit, sie werden aufgeschrieben, verbreitet, erzählt und sie zeigen eine mögliche Strategie, Widrigkeiten und Feindseligkeit zu verarbeiten und produktiv zu nutzen. Dabei können die älteren Acta mit überraschendem historischem Wert aufwarten; die jüngeren zumindest mit spektakulären Geschichten und spannenden Akteur*innen.


mind_the_gap – Vergessene Kapitel der Kirchengeschichte

Johanna Jürgens stöbert für uns in den Untiefen der Kirchengeschichte: Aus dem Schatz der Alten Kirche kramt sie Neues hervor. Wir setzen unsere Serie „mind_the_gap“ im Herbst / Winter 2024 mit Johanna Jürgens von der LMU München fort. Im Frühjahr / Sommer 2024 ging es mit Flora Hochschild bereits um vergessene Kirchengeschichte(n) aus der Frühen Neuzeit. Wir freuen uns auf Feedback, Fragen und Hinweise auf dieser Schatzsuche in die Vergangenheit!

Alle „mind_the_gap“-Kolumnen hier in der Eule.

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