Wie Versöhnung über Grenzen gelingen kann
Vor 60 Jahren veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland ihre Ostdenkschrift. Sie ebnete den Weg zur Versöhnung mit Polen. Kann solche Zeitgenoss:innenschaft heute wieder gelingen?
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Passend zum Tag der Deutschen Einheit geht es heute im „Re:mind“-Newsletter um ein sehr erfreuliches, wenngleich längst nicht abgeschlossenes Kapitel deutscher Geschichte, genauer: deutsch-polnischer Geschichte. Vor 60 Jahren veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die sog. Ostdenkschrift, die der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als deutsch-polnischer Grenze den Weg ebnete. Der vollständige Titel dieser vielleicht wirkungsmächtigsten Denkschrift aus dem Hause der Evangelischen Kirche lautet: „Zur Lage der Vertriebenen und zum Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ (PDF). Damit ist auch das politische Spannungsfeld benannt, in das die Evangelische Kirche damals hineinkommunizierte.
Morgen und Übermorgen findet anlässlich des 60. Jubiläums der EKD-Ostdenkschrift in Warschau eine Konferenz statt. Mit Gesprächsrunden und Gottesdiensten wird an den „Meilenstein der deutsch-polnischen Aussöhnung“ erinnert, informiert die EKD und bietet auch die Links zu den Live-Streams von den Veranstaltungen an. „Nur 20 Jahre nach dem Ende des Krieges setzte die Denkschrift ein Signal der Versöhnung, das bis heute nachwirkt“, erklärt die heutige EKD-Ratsvorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs. Auf der Konferenz im polnischen Parlament (Sejm) wird u.a. der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Bodo Ramelow (LINKE), erwartet. Ramelow ist übrigens ganz frisches Mitglied im Präsidium des Evangelischen Kirchentages.
Dass eine Denkschrift der Evangelischen Kirchen so starke Resonanz erfährt, ist heute selten geworden. Was hat die Ostdenkschrift bewirkt? Und lässt sich ein solcher Erfolg heute wiederholen?
In hunderttausendfacher Ausführung druckte die EKD seit dem Herbst 1965 die Ostdenkschrift, die in der Kammer für öffentliche Verantwortung ohne Konsultation des damals noch vorfindlichen „Flüchtlingsbischofs“ und des „Ostkirchenausschusses“ erarbeitet worden war. Trotz anhaltender Diskussionen in Kirche und Gesellschaft machte sich der Rat der EKD das Papier zu eigen und veröffentlichte es im Namen der EKD. Damit lag die Evangelische Kirche in bester protestantischer Tradition im Zeitgeist insofern, als dass sie nicht abgewogen allen möglichen Akteur:innen nach dem Mund redete, sondern Geist in die Zeit trug.
Vorausgegangen war der Ostdenkschrift das „Tübinger Memorandum“ von 1961, das von „namhaften protestantischen Intellektuellen“ verfasst worden war, unter ihnen Carl Friedrich von Weizsäcker, Werner Heisenberg, WDR-Intendant Klaus von Bismarck und der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), Joachim Beckmann. Marion Gräfin Dönhoff nannte die Verfasser Anfang des Jahres 1962 in der ZEIT (€) „Lobbyisten der Vernunft“ und sprach insbesondere ihr grenz-überschreitendes Wirken an: Aus protestantischer Verantwortung sprachen sie trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher und beruflicher Rollen zu Politik und Gesellschaft. Sie „konnten sagen und tun, was die Politiker sich nicht erlauben durften“, erklärte mit Rückgriff auf Gustav Heinemann (damals SPD und Mitglied im Rat der EKD) Martin Greschat vor 25 Jahren in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (PDF).
Vom Streit um das Memorandum herausgefordert, sah sich die EKD vor die Aufgabe gestellt, in geordneter Weise zum Frieden in Europa Stellung zu beziehen. Damals wie heute sind es die äußeren Umstände und einschneidende Ereignisse, die nach einer öffentlichen evangelischen Reflexion verlangen. Das politische Umfeld gleichwohl, in dem die Kirche agierte, war damals wesentlich schwieriger: Nicht nur waren da die Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten, die an vielen Schaltstellen in Politik, Gesellschaft und im eigenen Haus gegen eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze arbeiteten, nicht nur gab es (wie auch heute) rechtsradikale Akteur:innen, die revanchistische Ideen zu Markte trugen, auch in den großen Parteien sah man in einer neuen Ostpolitik und Versöhnung mit Polen vor allem das Potential für Ärger und Spaltung.
Die Ostdenkschrift der EKD hat die Anerkennung der Grenze nicht alleine bewirkt. Sie war zugleich Auslöser und Ergebnis einer Öffnung in den Köpfen vieler Menschen in der damaligen Bundesrepublik, die 20 Jahre nach Kriegsende Frieden mit Polen und in Europa und Verständigung mit den Nachbarn Deutschlands suchten. Die Ostdenkschrift formulierte als Ziel eine „internationale Friedensordnung“, die „ohne Wahrheit und Gerechtigkeit“ und „ohne den Willen zum Neuanfang auf der Grundlage der Versöhnung nicht denkbar“ ist. Ebenso bedeutsam ist die Antwort der polnischen Bischöfe nur wenige Monate später gewesen: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“.
„Protestantische Mafia“ und evangelische Schwungmasse
Das ist doch heute nicht weniger aktuell als damals. In einem Monat will die EKD erneut mit einer Denkschrift zu Politik und Öffentlichkeit sprechen. Eine neue Friedensdenkschrift wurde in einer „Friedenswerkstatt“ (zunächst „Taskforce Frieden“) erarbeitet. Irgendwo im Kirchenamt der EKD in Hannover liegen dem Vernehmen nach schon ein paar Stapel der neuen Denkschrift, die ihre Vorgängerin von 2007 ablösen soll. Hunderttausende gedruckte Exemplare werden es (hoffentlich) nicht mehr sein. Seit dem 24. Februar 2022 und der Eskalation des Ukraine-Krieges sah sich die Evangelische Kirche vor die Herausforderung gestellt, neu und anders über Frieden und Friedenssicherung nachzudenken. Warum, das Michael Haspel bereits im März 2022 hier in der Eule erklärt. Heute ist mit dem Gaza-Krieg noch ein weiterer Prüfstein für die Friedensethik hinzugekommen, an dem man die Friedensdenkschrift 2025 wird messen müssen.
Ob sie diesen hohen Anspruch einlösen wird, das werden wir erst noch sehen. Schon jetzt ist klar, dass der Streit um den Frieden in der Evangelischen Kirche weitergehen wird, denn auch heute fühlen sich längst nicht alle Akteur:innen wohl mit dem erreichten Ergebnis. Evangelische Denkschriften sind ja nun auch keine normativen Gesetzestexte, sondern eben gebündelte Gedanken, die zum Weiterdenken anregen und Orientierung bieten sollen. Wie sie entstehen und wirken können, das hängt an ihren Verfasser:innen und Verteidiger:innen. Rund um die Ostdenkschrift war jene „protestantische Mafia“ aktiv, die wir in anderem Zusammenhang heute sehr viel kritischer sehen. Dönhoff, Weizsäcker, Heinemann, SPD- und CDU-Reformer, Aktivist:innen, Intendanten und Publizist:innen usw. usf. – gibt’s heute noch eine evangelische Schwungmasse, die gesellschaftspolitisch etwas bewirken kann? Und will? Und was überhaupt?
Ob eine EKD-Denkschrift im Jahr 2025 in der gleichen gesellschaftlichen Breite und Tiefe Erfolg haben kann wie die Ostdenkschrift im Jahre 1965 hängt gleichwohl nicht nur an oft beschriebenen äußeren Faktoren wie der (gesunkenen) Kirchenbindung und einer (un-)geschickten Öffentlichkeitsarbeit (die EKD versendet derzeit eine eigene Podcast-Serie zur noch unter Verschluss gehaltenen Denkschrift), sondern auch daran, was am Ende drinsteht. Redet die Kirche den Mächtigen und Rückwärtsgewandten nach dem Mund? Ist sie weiter auf dem Weg den Friedens? Kann sie gar eine „Lobbyistin der Vernunft“ in unruhigen Zeiten sein?
Aktuell im Magazin:
RE: September 2025 – Hype um Charlie Kirk und Israel-Kritik der Bischöfe (54 Minuten)
Im Monatsrückblick „Eule-Podcast RE: September 2025“ diskutieren Michael Greder und Philipp Greifenstein diesmal über die neue Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz zum Nahost-Konflikt und die Frage, ob ein Phänomen wie Charlie Kirk in Deutschland denkbar ist. Gewinnen neo-charismatische Rechtsradikale auch in Deutschland an Einfluss und Bedeutung? Außerdem gibt es wie immer eine gute Nachricht des Monats.
Re:mind (5): Scharfe Kritik der Bischöfe an Israel
Die römisch-katholischen Bischöfe kritisieren Israels Kriegshandeln in Gaza deutlich. Doch was folgt aus ihrem Plädoyer für die gerechte Koexistenz von Israel und Palästina?
„Fatal, verhängnisvoll, schlecht beraten und „zunehmend selbst isoliert“, so nehmen die katholischen Bischöfe die Lage Israels wahr. Ihre Erklärung ist ein Spagat zwischen der von den Päpsten Franziskus und Leo vorgetragenen Solidarität mit dem palästinensischen Volk, auch mit den wenigen im Gaza-Streifen verbliebenen Christ:innen, und dem historisch-politischen Zusammenhang, den wir in Deutschland ab- und verkürzend mit dem Begriff der „Staatsräson“ bezeichnen.“
Hinweis: Eule-Live-Abend am 15. Oktober „Du sollst dir kein Bild machen!“
Der Hype um „Künstliche Intelligenz“ (KI) ist das Thema der digitalen Gesellschaft. Mit unserem nächsten Eule-Live-Abend am 15. Oktober wollen wir einen Beitrag zur Aufklärung leisten: Wie stellt generative KI Bilder her? Welchem ästhetischen Programm folgen die Bilder – und warum? Was sagen sie über uns als Produzent:innen und Konsument:innen aus? Konzeptkünstler und KI-Experte Nils Pooker wird über KI-Bilder als Fetische und Götzen und die Tugend der Unterlassung angesichts digitaler Bildproduktion sprechen.
In der Herder Korrespondenz schreibt der katholische Publizist Andreas Püttmann (erneut) über die Frage, wie politisch die Kirche sein darf. Die wenig inspirierte Überschrift sollte nicht von der Lektüre dieses aktuellen Durchgangs durch die politische Wirksamkeit der (katholischen) Kirche abhalten! Püttmann sortiert die jüngsten Ereignisse wie den Klöckner- und Brosius-Gersdorf-Streit (s. hier in der Eule) und untersucht mit Rückgriff auf viele historische und zeitgenössische Ideengeber:innen, welche Rolle die Kirche im politischen Geschäft (noch oder wieder?) spielen kann.
„Bei der Frage nach christlich verantwortbarer Politik sind komplexe Zweck-Mittel-Relationen zu beachten. Eine kurzschlüssige Automatik einzelner Bibelworte und gesinnungsethischer Eifer können vom Regen in die Traufe führen und das Gegenteil dessen bewirken, was man beabsichtigt. Von ethischen Schein-Paradoxien darf man sich nicht beeindrucken und in die Irre führen lassen. So wussten schon die Römer: „Si vis pacem para bellum“ – frei übersetzt: Wenn du Frieden willst, bereite dich auf Krieg vor.“
Püttmann legt hier wieder mal en passant ein Programm für einen recht fröhlichen christlichen Konservatismus vor, der auch darum weiß, wann er besser nicht konservativ, sondern mal liberal und mal sozial zu sein hat. Man muss ihm sicher nicht in allen Positionen folgen und darf trotzdem berührt sein, dass es solche Christdemokraten noch immer gibt. Ein anderes Beispiel für diese Spielart christdemokratischer Orientierung hat in dieser Woche der Chef der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei – und man darf sagen: geübter Strippenzieher – Nathanael Liminski (CDU) in der ZEIT (leider €) abgeliefert: „Als Partei der Mitte führen wir keine Kulturkämpfe“. Wäre cool, wenn sich das in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, im Konrad-Adenauer-Haus und beim Kulturkampfstaatsminister Wolfram Weimer rumspricht.
Mit einer speziellen Form der culture wars, nämlich den Folgen des Charlie-Kirk-Attentats, dem anschließenden Trauer-Hype und der Frage, ob ein christlich-rechtsradikaler Empörungsunternehmer wie er auch in Deutschland „funktionieren“ kann, befassen Podcast-Host Michael Greder und ich uns in der aktuellen Episode des „Eule-Podcasts“. Außerdem diskutieren wir dort auch die scharfe Kritik der römisch-katholischen Bischöfe an Israel wegen des Gaza-Krieges (s. „Re:mind“-Newsletter von vergangener Woche).
Genug Eule-Stoff also, um auch diesen „Tag der Deutschen Einheit“ einigermaßen würdig zu verbringen, also hoffentlich nachdenklich, gemäßigt optimistisch und vernünftig.
Ein schönes Wochenende wünscht
Philipp Greifenstein
Ein guter Satz
„Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis.“
– Paul Tillich
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