„Kundenorientierung ist Nächstenliebe“
Ist das populäre Stadionsingen im Advent ein Vorbote eines christlichen Revivals? Versinkt der Advent unter Kitsch und Säkularisierung oder steigt hier eine neue Festkultur empor?

Liebe Eule-Leser:innen,
auf einmal wird es in der vollbesetzten Kirche ganz still. Gelächter und Gespräche verstummen, gespanntes Warten setzt ein, vielleicht sogar so etwas wie andächtige Ruhe. Während die Glocken der Kirche läuten, legt die Welt für fünf Minuten eine Pause ein.
Dabei ist das 18-Uhr-Läuten nur zufällig Teil des Programms. Denn hier in der Unterkirche zu Bad Frankenhausen findet heute Abend kein Gottesdienst statt, sondern das alljährliche Weihnachtskonzert des staatlichen Kyffhäusergymnasiums. Nach einer kurzen Begrüßung in den Räumlichkeiten durch die Pfarrerin folgen Auftritte der Schulensembles. Die Kirche ist vor allem deshalb im Spiel, weil sie den einzigen ausreichend großen Veranstaltungsraum der Stadt zu bieten hat. Aus dem gleichen Grund waren am Vorabend die Kamerad:innen der Bundeswehr hier mit ihrem Weihnachtskonzert zu Gast.
In der Adventszeit kommt leben in die Bude: Mit Konzerten, Andachten und Events bringt sich die Kirche ins Spiel, lädt in ihre Gemäuer ein oder verlässt diese, um an Alltagsorten und in neuen Kontexten die frohe Botschaft weiterzutragen – im Stadion, in Schulen und Kindergärten, auf Marktplätzen. Erleben wir ein Revival des Weihnachtsglaubens? Wie verändert sich die Feierkultur? Braucht’s die Kirche im Advent und zu Weihnachten womöglich doch als Gastgeberin?
In der FAZ (€) schreibt Reinhard Bingener in dieser Woche über den Trend zum adventlichen Stadionsingen. Der Artikel ist beim Medienmagazin Pro auch frei zugänglich lesbar. Dazu hat sich Bingener in Dortmund und in Hannover umgetan. Während im Westfalenstadion der Borussia ein säkularisiertes weihnachtliches Unterhaltungsprogramm dargeboten wird, wenngleich unter Leitung des evangelischen Christen und Pop-Gurus Dieter Falk, ist in Hannover die evangelische Kirche Gastgeberin des Events, dem gut 30.000 Menschen entgegenfiebern.
„Erfunden“ wurde diese neue adventliche Liturgie beim Köpenicker Fußballclub Union Berlin, wo aus dem heimeligen Hochverbundenen-Treffen inzwischen eine feste Tradition (nur noch) für Mitglieder des Vereins geworden ist – inklusive Lesung der Weihnachsgeschichte durch einen Pfarrer. Inzwischen gibt es Stadionsingen in vielen Städten des Landes, stets mit enormer Nachfrage und vielen tausenden Besucher:innen. Zumeist, notiert Bingener, spielen die Kirchen dabei „nur eine Nebenrolle“. Statt „Macht hoch die Tür!“ eben „Macht hoch das Tor!“.
Die Kirche ist doch mit im Spiel
Als Belege für die These, die Religion spiele beim Stadionadvent „kaum eine Rolle“, führt Bingener das Musikprogramm, die Feierkultur (während „Stille Nacht“ wird geschwätzt und Bratwurst gegessen) und einige Statements von Besucher:innen an, die zwar aus dem üblichen „Vorweihnachts“-Stress aussteigen wollen, aber eben keine christliche Verkündigung suchen. Er vergleicht das Stadionsingen mit den Gottesdiensten US-amerikanischer Mega Churches:
„[B]eide Events sind auf ihre ihre Art Kinder der Konsumkultur: Man bekommt eine professionelle Show geboten, während der man sich zwanglos zurücklehnen und entspannen kann, gerade weil man selbst kaum daran beteiligt ist.“
Das hat mit dem Idealbild eines christlichen Gottesdienstes, mal ganz abgesehen von fehlenden liturgischen Must-haves wie Gebeten und Segen, wenig zu tun: Wo ist bitte die Partizipation, das Mitfeiern geblieben? Gleichwohl: Besuchen nicht auch viele Menschen auf ähnliche Weise (halt nur ohne Bratwurst in der Faust) die Christvespern am Heiligen Abend, die Weihnachtskonzerte und Krippenspiele in den Kirchen?
Und werden nicht auch zu Events in Kirchen Sekt und Häppchen gereicht? Steht es um die Partizipationskultur am Cultus nicht auch im gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst eher schlecht? Ist die Aufforderung, nicht nur Besucher:in, sondern Teilnehmer:in zu sein, nicht eine Überforderung für viele Menschen?
„Kundenorientierung ist Nächstenliebe“, erklärt der Hannoversche Stadtsuperintendent Rainer Müller-Brandes, der das kirchliche Stadionsingen in der niedersächsischen Hauptstadt organisiert, und meint damit vor allem den Musikmix aus traditionellen Gassenhauern und modernem Liedgut. (Um diesen Dauerstreit von Dieter Falk und anderen evangelischen „Kulturbeauftragten“ dreht sich der FAZ-Artikel in der üblichen bürgerlichen Betulichkeit. Dass ein Großteil des Popularmusikprogramms der Kirchen inzwischen auch schon im Großelternalter angekommen ist – und dabei nicht sonderlich gut gealtert – bleibt außen vor.)
Wenn Kundenorientierung aber meint, Menschen dort „abzuholen“, wo sie halt nun einmal stehen – auch in ihrer Scheu, sich aktiv einzubinden -wird’s religionssoziologisch spannend: Sind die Stadionsingen Vorboten eines christlichen Revivals? Leben die Menschen mit ihrem Stadionbesuch ihre individualisierte Frömmigkeit aus? Oder sind die Stadionsingen eher ein Beweis für die fortschreitende Säkularisierung, in deren Rahmen vormals klar christlich codierte Traditionen und Sinngehalte womöglich nur so popularisiert werden können, indem ihr dezidiert religiöser Gehalt aufgeben oder gut versteckt wird?
Ein Blick in das E-Mail-Postfach der Eule klärt auf: Dort laufen die Pressemitteilungen der Landeskirchen und Bistümer ein und damit auch die kumulierte Korrektur des Eindrucks, bei den Stadionsingen spiele die Kirche „nur eine Nebenrolle“: In Bochum und Essen, Stuttgart und anderswo sind nämlich ebenfalls Landesmusikdirektor:innen, Kirchenchöre, Event-Spezialist:innen der Kirchen und sogar Pfarrer:innen am Start.
Nimmt man die vielerlei Gastgeberinnenschaften in den Kirchen der Städte und Dörfer für Konzerte und Vereinsveranstaltungen (s.o.) mit hinzu, verdichtet sich bei mir der Eindruck: Wenn es die organisierte Religion als Facilitator und Beteiligte nicht gäbe, würde es all das nicht geben.
Den Schalter umlegen
Ich fühle mich ein wenig an die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) erinnert: Sobald man ein wenig an der ansäkularisierten Oberfläche kratzt, kommt auf einmal wieder die traditionelle und durchaus auch amtsschimmelige Institution Kirche zum Vorschein.
Wenn von staatlichen Schulen auf einmal Weihnachtsfeiern in Kirchen mit Krippenspiel der Religionsklasse durchgeführt werden, dann eben, weil ein:e Religionslehrer:in oder Pfarrer:in sich dahinter geklemmt hat. Wenn in kommunalen Kindergärten zum Martins- und Nikolaustag Gemeindepädog:innen und Pastor:innen in Kostüm auftreten, dann weil sie für genau diesen Dienst beauftragt und bezahlt werden.
Und ich meine, genau für solche Einsätze an Orten, an denen sich die Kirche solange kaum engagiert hat, wie sie sich darauf verlassen konnte, dass Menschen zu ihr in die Kirchengemäuer ziehen, müssen noch mehr Ressourcen freigemacht werden – auch wenn das bedeutet, für das traditionelle Programm für die hochverbundenen und alteingesessenen Kirchenbesucher derselben weniger übrig zu haben.
Die Stadionsingen scheinen mir eines der seltenen Beispiele für eine produktive Veränderung der Festkultur zu sein: Immerhin! In den Stadionsingen und auch bei den zahlreichen Veranstaltungen, für die Kirchen im Advent und zu Weihnachten (hoffentlich) gute Gastgeberinnen sind, entdecke ich keine spontanen Ausbrüche einer institutionenunabhängigen Religiosität, wie sie sich Religionssoziologen gerne mal herbeiwünschen.
Wohl aber bieten sie die Möglichkeit dafür, dass sich mit und unter dem (gemeinsamen) Gesang, in nicht-alltäglicher architektonischer Umgebung, beim Summen der vertrauten Melodien und auch inmitten des Kitschs, ja selbst trotz des Gefasels von „vorweihnachtlicher Stimmung und Zusammenhalt“ etwas vom adventlichen Geist mitteilt. Waltet der nicht auch dort, wo unverhofft Stille inmitten des Geplappers und Gestresses eintritt, weil der Glockenschalter umgelegt wurde?
Aktuell im Magazin
Bin ich ein Material Girl? – Carlotta Israel (Sektion F)
Mit Madonna, Karl Marx und Kimberlé Crenshaw zieht Eule-Kolumnistin Carlotta Israel in Richtung Weihnachten. Sie erklärt, warum kritischer Materialismus nötig ist.
„Wenn wir heute in unseren Kirchen über Besitz und Eigentum nachdenken, dann, so meine ich, häufig zu fixiert auf den individuellen Menschen. Das System Kapitalismus gerät aus dem Fokus, weil wir über konkrete Notlagen oder auch den absurden Reichtum von Individuen sprechen oder den Fokus auf gelegentlich gelingendes oder sogar wegweisendes Handeln legen, etwa den Fairen Handel oder den persönlichen Verzicht.“
Prekäre Arbeit von Migrant:innen: Und sie kamen eilend – Philipp Greifenstein
Der Onlineversandhandel boomt zu Weihnachten, erwartet werden Rekordumsätze. Doch wer bringt eigentlich die Geschenke? Und unter welchen Bedingungen arbeiten die oft migrantischen Mitarbeiter:innen?
„Unter welchem Druck die Mitarbeiter:innen stehen, können Kund:innen nur erahnen, wenn sie in die gestressten Gesichter der Paketbot:innen schauen, die von Haus zu Haus eilen. Ende November erregten die Arbeitsbedingungen bei Amazon in Erfurt Aufmerksamkeit, weil ein 59-jähriger deutsch-algerischer Mitarbeiter am Arbeitsplatz an einem Herzinfarkt verstarb. Sonst läuft das Geschäft, von dem wir alle profitieren, außerhalb der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft.“
Weil Missbrauch kein Einzelfall ist – Birgit Mattausch, Philipp Greifenstein
Christiane Florin und Sr. Marie-Pasquale Reuver schreiben darüber, wie wir in Kirche und Gesellschaft mit Geschichte und Gegenwart des Missbrauchs verantwortlich umgehen können. Rezensionen von Birgit Mattausch und Philipp Greifenstein:
„Birgit Mattausch stellt den Ratgeber „Missbrauchsbetroffenen in Kirche und Gemeinde sensibel begegnen“ von Sr. Marie-Pasquale Reuver vor, der ehren- und hauptamtlichen Kirchenmitarbeiter:innen Orientierung bei der Begegnung und Zusammenarbeit mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt helfen will. Eule-Redakteur Philipp Greifenstein hat „Keinzelfall – Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte“ von Christiane Florin gelesen.“
Der „Re:mind“-Newsletter verabschiedet sich mit dieser Ausgabe in die Weihnachtsferien. Wir lesen uns am 9. Januar wieder an dieser Stelle. In der Eule allerdings gibt es im Restadvent und zum Wiegenfeste des Heilands noch Interessantes zu lesen und zu hören.
Gleich Morgen zum Beispiel eine neue Folge des „Eule-Podcast“: Bei Podcast-Host Michael Greder sind diesmal die „Predigtbuddies“ Anja Bär und Lea Herbert zu einem Gespräch über die Schönheit der Predigt, manchen Konflikt in Gottesdiensten und natürlich auch über Weihnachtsgottesdienste zu Gast. Absolute Hörempfehlung!
Einen fröhlichen vierten Advent wünscht
Philipp Greifenstein
Ein guter Satz
„Nun wird der Stern aus Jakob scheinen,
sein Strahl bricht schon hervor.
Auf, Zion, und verlasse nun das Weinen,
dein Wohl steigt hoch empor!“
– aus dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach (BWV 248)
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